Sieg über Brasilien begeistert Italien

Die Trainer umarmten sich nach der Hitzeschlacht, es wurden 37,6 Grad gemessen, fair. Enzo Bearzot tröstete Tele Santana: „Ihr habt eine sehr große Mannschaft.“ Santana entgegnete: „ Aber ihr seid an diesem Tag besser gewesen.“ Die italienische Presse überschlug sich: „Jetzt sind wir die Brasilianer. Das beste Italien aller Zeiten“, jubelte der Corriere dello Sport. Konnten diese Italiener etwa Weltmeister werden?

Die Gruppe D schälte aufgrund des Terminplans den ersten Halbfinalisten heraus. Es wurde Frankreich, das es schwerer hätte treffen können für einen Gruppenzweiten. Doch Österreich (1:0) und Nordirland (4:1) waren kein Hindernis für die plötzlich befreit aufspielenden Techniker, um deren Mittelfeldzauberer Platini-Giresse-Tigana sie allgemein beneidet wurden. Bei den Österreichern dagegen war die Luft raus. Nach der Pleite gegen Frankreich ätzte Torwart Friedel Koncilla: „Jetzt hat jeder gesehen, dass wir gegen Deutschland nicht geschoben haben. Wir wollten nicht so schlecht sein, wir konnten nicht besser.“ Das zeigte sich auch beim 2:2 gegen die Nordiren, als die Helden von Cordoba endlich ausgemustert waren und ein Hans Krankl auf die Tribüne musste.

Briten stehen in der Kritik

Die Briten mussten sich im Vorfeld gegen Berichte über Saufexzesse wehren. „Natürlich haben wir nach dem Sieg gegen Spanien etwas gefeiert, aber es blieb im Rahmen. Von Alkoholleichen kann nicht die Rede sein“, sagte Kapitän Martin O’Neill. Die Nordiren bereicherten diese WM auf ihre Weise, ihre Fans etablierten in Europa den heute selbstverständlichen Brauch, ihre Mannschaft im Nationaltrikot zu unterstützen.

Was blieb noch von dieser Gruppe? Das Stadion Vicente Calderon von Atletico Madrid sah am 1. Juli das heißeste WM-Spiel, bei Nordirland-Österreich herrschten tropische Temperaturen – 50 Grad in der Sonne.

Auch der 8. Juli war ein drückend heißer Sommer-Tag. An diesem Donnerstag wurden die Halbfinals ausgetragen. Den Anfang machte die Neuauflage des schrecklichen Vorrundenspiels zwischen Italien und Polen, das torlos geendet war. Jetzt aber spielte ein anderes Italien, offensiv und selbstbewusst. Die Polen waren das auch, aber Boniek war gesperrt und das konnte diese Mannschaft nicht kompensieren. Der alte Lato, 1974 Torschützenkönig, war über seinen Zenit hinaus. Auch er musste die Bühne räumen für den neuen WM-Star Paolo Rossi.

Der Juventus-Star eroberte nun auch das größere Stadion Barcelonas und traf in Nou Camp zweimal. Rossi zwei, Polen null lautete das Resultat des italienischen „Heimspiels“, denn aus der Heimat kamen unentwegt Tifosi nach Spanien, um mit eigenen Augen zu sehen, was kaum zu glauben war. Die Polen gingen hocherhobenen Hauptes, nur Teamchef Kucowicz meckerte: „Es ist ein Skandal, dass uns das Organisationskomitee in ein Hotel ohne Klimaanlage gesteckt hat.“ Vor dem Spiel hatten Reporter beide Mannschaften gefragt, wen sie im Endspiel wollten. „Nur nicht die Deutschen!“, war der Tenor.

Der Thriller von Sevilla

Beinahe wäre ihr Wunsch erfüllt worden, aber eben nur beinahe. Am Abend begann um 21 Uhr das zweite Halbfinale, das alles in den Schatten stellen sollte, was diese WM zu bieten hatte. In Sevilla maßen sich Frankreich und Deutschland bei 33 Grad Celsius, es ging eine leichte Brise. Derwall hatte wieder umgestellt, der seit der Vorrunde verbannte Magath erhielt eine neue Chance. Karl-Heinz Förster wurde als Außenverteidiger auf Didier Six angesetzt und Wolfgang Dremmler mit der Beschattung Michel Platinis, dem genialen Lenker der Franzosen, beauftragt. Briegel ging angeschlagen ins Spiel, er war beim Duschen ausgerutscht. Und für Rummenigge blieb nur noch die Bank, der Oberschenkel war schon blau unterlaufen von den Einstichen der Spritzen. Derwall versprach ihm: „Wenn wir hinten liegen, kommst du rein.“

So begann der Europameister entgegen seiner Gewohnheit nur mit zwei Spitzen: Littbarski und Fischer. Sie sorgten schon nach 17 Minuten für die Führung, Littbarski war nach Fischers Vorarbeit zur Stelle. Lange währte die Freude nicht, da verwandelte Platini einen Foulelfmeter, den Bernd Förster verursachte. Nun wogte das Spiel hin und her.

Kein Mensch würde heute wohl mehr über den sportlichen Unterhaltungswert dieses Halbfinales reden, wenn der 21-jährige Manuel Amoros nach exakt 90 Minuten nur ein paar Zentimeter niedriger geschossen hätte. So aber traf der Franzose nur die Latte des deutschen Tores, das seit der 57. Spielminute der Buhmann des Abends hütete: Harald Schumacher aus Köln, den alle Toni riefen.

Schumacher foult Battiston

Heute fällt sie einem zuerst wieder ein, wenn von Sevilla die Rede ist: sein Foul an Patrick Battiston, dem er beim Herauslaufen ins Gesicht gesprungen war. Battiston war zu Boden gegangen, aber der Ball neben das Tor. Dem Mittelfeldspieler von AS St. Etienne, der vom Platz getragen werden musste, fehlten zwei Schneidezähne. Die Freundin von Battiston brach auf der Tribüne besinnungslos zusammen, als noch nicht abzusehen war, wie es um ihren künftigen Gatten stand.

Schumacher entschuldigte sich eine Woche später bei Battiston in Metz und söhnte sich mit ihm aus. Er hat eingesehen, dass er viel zerstört hat an diesem Juli-Abend und dass er ein wundervolles, ja episches Fußballspiel überschattet hat. Und doch war es ein glücklicher Abend für Deutschland. In der regulären Spielzeit waren die Franzosen, technisch brillant, leichtfüßig kombinierend mit dem genialen Dreigestirn Platini, Tigana, Giresse, dem Sieg näher gewesen. Aber dem stand der schon mythische deutsche Kampfgeist entgegen, der diese Elf trotz aller Probleme einte. Von hinten trieb Ulli Stielike die Mannschaft an, und Paul Breitner, ein bis dahin eher enttäuschender Regisseur, stand ihm in nichts nach.

Doch fehlte ihm sein kongenialer Partner Rummenigge. Der fieberte mit und kühlte seinen gezerrten Oberschenkel mit Eiswürfeln, die er in den Handschuh von Ersatztorwart Eike Immel gepackt hatte. Drei Minuten waren in der Verlängerung gespielt, als Frankreichs Libero Tresor nach einem Freistoß unbedrängt ein Traumtor erzielte. Das Signal für Rummenigge, er sprang von der Bank auf. Kaum für Briegel auf dem Platz, fiel das 1:3 durch Giresse. Der kleine Mann mit Schuhgröße 38 schoss die L’Equipe tricolore“ in den siebten Fußballhimmel - scheinbar.

Ein 1:3-Rückstand 20 Minuten vor Ablauf der Verlängerung, bei noch immer rund 30 Grad. „Normalerweise ist man da geneigt zu sagen, da ist nichts mehr drin. Aber wir sollten dennoch die Daumen drücken“, mahnte Rolf Kramer die TV-Zuschauer, und als Fischer schon im Gegenzug ein Abseitstor gelang, sah man, dass die Moral intakt war.

Fischers Tor für die Ewigkeit

Die Ordnung weniger: Rechtsverteidiger Kaltz kam plötzlich über linksaußen, und Libero Stielike stürmte ohne Unterlass. Sein Pass auf Littbarski leitete die Wende ein, denn Rummenigge sprang artistisch in die Flugbahn des Balles – und dieser ins Netz. Dass in einer solchen Situation, wo der Ball bloß irgendwie über die Linie musste, die Spieler beider Teams dennoch in der Lage waren, auch noch so ausnehmend schöne Tore zu erzielen – nur Platinis Elfmeter war eher gewöhnlich –, war ein Charakteristikum dieses Fußball-Epos.

Die Franzosen standen sichtlich unter Schock, nutzten die Pause in der Verlängerung voll aus. Während sie noch am Boden lagen, tänzelten die elf Deutschen schon am Anstoßkreis. Und lagen sich drei Minuten später in den Armen. Klaus Fischer hatte per Fallrückzieher ausgeglichen, das vielleicht schönste Tor der WM war auch sein wichtigstes. Und der 174 Zentimeter kleine Torwart Ettori, nur als Nummer drei nach Spanien gefahren, musste hilflos zusehen, wie Hrubesch und Fischer sich in seinem Fünfmeterraum die Bälle zuspielten. Frankreich, im Vorgefühl des sicheren Sieges, taumelte ins erste Elfmeterschießen in der WM-Geschichte.

Auch hier wähnten sich „Les Bleues“ als Sieger, lagen in Führung nach dem Fehlschuss von Stielike, aber wieder sollte es nicht reichen. Schumacher hielt den nächsten Ball von Six, denn Hansi Müller hatte ihm dessen Ecke verraten. Man kannte sich vom VfB Stuttgart.

Selbst nach dem zehnten Schuss von Rummenigge, der leichenblass zum Punkt ging, stand kein Sieger fest, und neue Schützen mussten bestimmt werden. Die Franzosen nominierten Maxime Bossis. Der war schon auf Freizeit eingestellt und schoss mit herunter gerollten Stutzen, die Schienbeinschoner lugten weit hervor. Und er schoss schlecht, Schumacher hielt fast mühelos. Nun kam Horst Hrubesch an die Reihe. Der Hamburger, der seinen Rücktritt angekündigt hatte, erwies seinen Kameraden einen letzten Dienst. Als einziger Spieler ließ er den Ball auf dem Punkt liegen, alle anderen hatten ihn sich noch einmal zurechtgerückt. Er hatte so etwas wie Gottvertrauen in diesem Moment. Vor dem Spiel fand sich ausgerechnet in seinem Spind ein aufgeklebtes Jesus-Bild, und er murmelte: „Ich glaube, jetzt kann nichts mehr schiefgehen.“ So traf er zum 8:7-Endstand, zum Finale gegen Italien nach Madrid, zu dem Bundeskanzler Helmut Schmidt eigens anreisen sollte.

Tiefer Trauer bei den Franzosen

Der hatte übrigens die Spannung nicht ertragen und beim Elfmeterschießen das Zimmer verlassen. „Gucken Sie für mich weiter“, befahl er seinem Regierungssprecher Rühl. Die Franzosen vergossen in der Kabine viele Tränen. „Aber nicht, weil wir verloren hatten. Sondern weil die Spannung abfiel und weil wir so überwältigt waren von unseren Gefühlen. Ich habe nie mehr so viele Männer zugleich weinen sehen“, gestand Platini. Und die Welt staunte wieder einmal über die deutsche Stehauf-Mentalität. Am besten brachte es eine englische Zeitung auf den Punkt: „Merke: Die Deutschen sind erst geschlagen, wenn der Sarg zugenagelt ist.“

Nun also standen sie zum vierten Mal in einem WM-Finale, was vor dem Turnier der Anspruch und während der Vorrunde eine Fata Morgana geworden war. Auch Italien hatte seine Wellentäler durchlebt, und so sah Madrid am 11. Juli das Treffen zweier klassischer Turniermannschaften. Ästheten hätten diese sicher liebend gern gegen Brasilien und Frankreich eingetauscht, doch danach geht es im Fußball ist.

Die Deutschen hatten objektiv die schlechteren Vorzeichen zu bewältigen: Sie hatten einen halben Tag weniger Ruhe. Ihr Spiel endete viel später, und noch nachts um drei Uhr saßen sie in Sevilla am Flughafen fest, weil es angeblich seit 90 Minuten keine Startgenehmigung gab. Erst als Derwall drohte: „Wenn wir in zehn Minuten noch nicht gestartet sind, verlässt die Mannschaft das Flugzeug.“ Plötzlich ging es, und morgens um fünf bekamen die Sieger von Sevilla noch ein „Abendessen“ in Madrid, da die Hotelbelegschaft extra auf den Beinen geblieben war. Steak im Morgengrauen – auch das war Spanien 1982.

Keine Steigerung mehr möglich

Im Finale war die deutsche Mannschaft dann zu keiner Steigerung mehr fähig - und das war gegen diese Italiener zu wenig. Zur Halbzeit stand es nur deshalb noch 0:0, weil Cabrini einen Elfmeter verschoss. Der Sturm brachte zu wenig Entlastung. Das lag vor allem an Rummenigge, der sich für fit erklärte und es doch nicht war. „Willst du dich nicht endlich auswechseln lassen?“ sagte Stielike noch in der Halbzeit, „das sieht doch jeder, dass du nicht fit bist.“ Der Kapitän konterte bayerisch-derb: „Schmarrn!“. Erst nach Rossis 1:0, dessen sechsten Tor in Serie, reagierte Derwall.

Aber nicht Rummenigge, sondern Dremmler musste Horst Hrubesch weichen. Der Madrilene Stielike drehte fast durch, er wollte unbedingt im eigenen Stadion Weltmeister werden. Erst nach 70 Minuten, Tardelli hatte soeben auf 2:0 erhöht, ging der Kapitän, der mit fünf Treffern immerhin zweitbester Torjäger in Spanien war, von Bord. Es war Rummenigges persönliche Tragik, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, als es um den WM-Titel ging.

Die sich nun an sich selbst berauschenden Italiener entschieden ein am Ende einseitiges Finale ohne Mythen und Dramen durch Joker Altobelli und gönnten Breitner noch das Ehrentor. Damit war er der dritte Fußballer nach Vava und Pele, der in zwei WM-Endspielen getroffen hatte. 1974 half es zum Sieg, diesmal zum zweiten Platz.

Dass dazwischen Welten liegen können, spürte gerade Breitner besonders. Als Derwall in der Kabine begann, tröstend das Abschneiden zu loben, fiel ihm Breitner ins Wort: „Schon gut, Trainer. Sie brauchen nichts mehr zu sagen.“ Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte da mitfühlen: „Ich bin kein Trostspender. Die Spieler müssen jetzt ein freundliches Gesicht machen wie ich nach verlorenen Wahlschlachten.“ Sein Amtskollege, der 84-jährige Sandro Pertini, hatte einen schöneren Sonntag erlebt. Bei jedem Tor war er aufgesprungen, und stolz sagte er: „Ich bin Italiens erster Tifoso.“

Jupp Derwall sagte noch im Oktober 1982: „Es wäre schön, wenn bei aller tiefschürfenden Kritik an dieser WM das Resultat eines Vizeweltmeistertitels nicht ganz vergessen würde und wir die Chance nutzen würden, auch der Mannschaft das Gefühl zu geben, etwas geleistet zu haben.“