Fünf Reichsmark und ein Glas Orangensaft

Die Popularität der Fußball-WM wuchs in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts noch in kleinen Schritten. Wurden einigen Ländern vor der ersten Endrunde 1930 in Uruguay noch Prämien geboten, um sie zur Teilnahme zu überreden, so fand 1934 schon eine Qualifikation statt. Endlich meldeten sich mehr Nationen als erlaubt zur WM, die in Italien stattfand – immerhin 31. Titelverteidiger Uruguay allerdings hielt sich ebenso fern wie das Fußball-Mutterland England.

Und nach heutigen Maßstäben war die Qualifikation ein Witz: Brasilien und Argentinien kamen kampflos weiter, ihre Gegner zogen zurück. Die deutsche Mannschaft musste nur 90 Minuten in Luxemburg absolvieren, gewann dort im März 1934 locker mit 9:1 – und schon war sie in Italien. Um einiges strapaziöser war der letzte Schritt dagegen für die Teams der USA und Mexiko. Sie mussten extra nach Italien reisen, um in Rom drei Tage vor dem WM-Start den letzten Teilnehmer zu ermitteln. So war Verlierer Mexiko zwar ein paar Tage im WM-Land gewesen, aber doch nicht dabei, als es am 27. Mai 1934 losging.

Wer verlor, fuhr heim

Auch für acht Teilnehmer war Italien ein denkbar kurzes Vergnügen: es wurde im Gegensatz zu 1930 streng im K.o.-Modus gespielt und wer verlor, fuhr heim. So wurde das Feld schon am Eröffnungs-Tag, an dem das Achtelfinale stattfand, halbiert. Unter den Ausgeschiedenen waren alle vier Nicht-Europäer und so war die WM ab dem Viertelfinale eine verkappte Europameisterschaft, an der die deutsche Mannschaft nach ihrem 5:2 zum Auftakt gegen Belgien aber weiter teilnehmen durfte.

In Florenz interessierten sich nur 8000 Zuschauer für die deutsche WM-Premiere und sorgten für die niedrigste Turniereinnahme (53.000 Lire). Immerhin sahen sie nach der Pause einen Hattrick des 19 Jahre alten Edmund Conen vom FV Saarbrücken, das erste deutsche WM-Tor schoss der Düsseldorfer Stanislaus Kobierski.

Nur acht deutsche Zeitungsreporter vor Ort

Was die Mannschaft in Italien sonst so trieb, blieb im Übrigen weitgehend verborgen. Es gab noch kein Fernsehen, die Spiele wurden nur auszugsweise im Radio übertragen und gerade mal acht deutsche Zeitungsreporter waren über den Brenner gereist. Beim Training waren sie nicht, denn die Mannschaft war auf höchste Anordnung hin regelrecht versteckt worden.

Der Reichssportführer hatte angeordnet, sie solle abgeschieden bleiben und so wusste niemand so recht, wo sie sich aufhielt. „Nicht mal meiner Frau durfte ich sagen, wo wir sind“, erzählte später Torwart Hans Jakob. „Höchstwahrscheinlich an einem der oberitalienischen Seen“, spekulierte die Fußball-Woche noch, als das Turnier schon lief. Das Quartier war in der Tat am Comer See, im Örtchen Cernobbio. Im Hotel Mira Lago hatte Reichstrainer Otto Nerz 18 Spieler zusammengezogen, die die bis heute die jüngste DFB-Mannschaft bei einer Endrunde darstellen: 23,4 Jahre betrug der Altersschnitt, jeder Spieler hatte im Mittel 5,8 Länderspiele absolviert.

Nerz setzt auf junge Spieler

Professor Nerz hatte in aufwändigen Tests im Frühjahr 16 Spieler aussortiert, darunter so manchen Routinier. Er wollte das neue, nur in England populäre WM-System mit fünf Stürmern einüben – und das erschien ihm mit jungen Leuten leichter.

Auch sonst war vieles anders als heute, wenn Deutschland zu einer WM fährt. Die Deutsche Meisterschaft lief noch und wurde vor den Halbfinalspielen unterbrochen. Die Spieler waren alles Amateure, bekamen fünf Reichsmark am Tag und keinerlei Verdienstausfall. Um sich auf die Hitze auf dem Platz von bis zu 35 Grad besser einstellen zu können, gestattete Nerz am Tag pro Kopf nur ein Glas Orangensaft, bis Kapitän Fritz Szepan von Schalke 04 ein zweites aushandelte. In der Halbzeit gab es warme Milch und Zitronen. Auch sonst waltete militärische Strenge; Nerz weckte das Team mit der Trillerpfeife und der Ton war wie auf dem Kasernenhof. Aber auch von Badefreuden und lustigen Kahnfahrten ist die Rede, die jungen Männer genossen die Schönheit der Landschaft und „dass wir eigenhändig goldene Orangen und brennendgelbe Zitronen von den Bäumen pflücken konnten“, wie Augsburgs Ernst Lehner schwärmte.

Hohmann trifft im Viertelfinale doppelt

Alle parierten – bis auf den einzigen Bayern-Kicker Sigmund Haringer. Der Verteidiger kam schon zu spät zur Abfahrt, trank sein Bier und verzehrte unerlaubt eine Apfelsine. So kam es zum Krach mit Nerz. Er wurde allerdings nicht heim geschickt, wie oft behauptet, sondern reiste selbst ab, weil er erkrankt war. Er war nicht der Erste: Der Frankfurter Rudi Gramlich war nach dem Viertelfinale einem Hilferuf seines jüdischen Arbeitgebers gefolgt. Den hatten staatliche Repressalien der NS-Regierung in Schwierigkeiten gebracht, weshalb er Gramlich telegrafisch aufforderte: „Sofort heimkommen! Brauchen Sie dringend geschäftlich!“ Dunkle Vorboten.

Trotz der Probleme lief es sportlich unerwartet erfreulich. Nach der Hitzeschlacht von Florenz gegen Belgien glückte im Mailänder Dauerregen im Viertelfinale der nächste Sieg. Karl Hohmann vom VfL Benrath war Held des Tages, er traf doppelt beim 2:1 (0:0) über Schweden. Zum Leidwesen des Publikums, das sich mit den Vertretern Hitler-Deutschlands nicht anfreunden wollte. Die Fußball-Woche registrierte eine „teilweise feindselig kalte Einstellung unserer tapferen Mannschaft gegenüber“.

Zwei Torwart-Fehler kosten die Final-Teilnahme

Im Halbfinale von Rom war dann Endstation gegen die Tschechen, weil Torwart Willibald Kreß aus Dresden einen schwachen Tag erwischte und nach dem 1:1 in der letzten Viertelstunde noch zwei Treffer verschuldete. Der kicker richtete hart: „Kreß hat uns dieses Spiel verloren. Dieser Satz liest sich ohne Zweifel hart, aber wir haben gar keine Möglichkeit, irgendeinen Grund für Milde zu finden.“

Im Spiel um Platz drei, das „als Wunder von Neapel“ in die DFB-Annalen einging, stand Hans Jakob im Tor und der nachnominierte Aachener Reinhold Münzenberg in der Abwehr. Nerz hatte ihn nach Gramlichs Ausfall quasi vom Traualtar weggeholt, Münzenberg musste seine Hochzeit für die WM verschieben. Es lohnte sich: Am 7. Juni begeisterte die DFB-Elf gegen Österreich und schlug das Star-Ensemble jener Epoche mit 3:2 (3:1). Aber „Italiens Bevölkerung schien uns Deutschen wenig Sympathien entgegenzubringen“, notierte der zweifache Torschütze Ernst Lehner. Vielleicht auch, weil Österreich, das sonst ebenfalls in Schwarz-Weiß spielte und per Los zum Trikotwechsel gezwungen worden war, in hellblauen Hemden des FC Neapel spielte. Noch am Abend traf ein Glückwunsch-Telegramm des am Radio bangenden Reichssportführers von Tschammer und Osten ein: „Deutschland ist stolz auf Euch!“

Schiedsrichter spielen zweifelhafte Rolle

Das war auch die Fachpresse. Laut kicker war in Italien „der Sprung in die Weltklasse“ geglückt. Dafür mussten die Nationalspieler nun noch einen Tag länger bleiben, denn der Dritte wurde beim Finale von Rom geehrt. „Weltmeister der Amateure“ wurden sie schon genannt, denn Amateure waren sie wirklich unter all den Profis, die schon bei der zweiten WM in der Überzahl gewesen waren.

Offizieller Weltmeister wurden am 10. Juni die Gastgeber, offenbar wie von langer Hand geplant. Das Turnier wurde von dem unbedingten Willen der Faschisten, dass nur Italien der Sieger sein dürfe, überschattet. Die Regierung von Diktator Benito Mussolini, der mit Steuergeldern ab 1932 die WM-Stadien aus dem Boden stampfen ließ, stand in dem Ruch, in den Wettkampf eingegriffen zu haben. Tatsächlich zeichneten sich gerade die Schiedsrichter bei Italiens Spielen durch Parteilichkeit aus, einer köpfte sogar im Stile eines Verteidigers eine Flanke aus der Gefahrenzone. Bezeichnend, dass der Schweizer Verband seinen Schiedsrichter, der Italiens Wiederholungsspiel gegen die Spanier (1:0) leitete, lebenslang sperrte.

"Trauriges Fazit: Rohheit triumphiert!"

Im dramatischen Finale gegen die Tschechoslowaken (2:1) entging dem schwedischen Referee unter anderem, dass Giuseppe Meazza dem WM-Torschützenkönig Oldrich Nejedly einen Leberhaken verpasste. „Es ist für die Sache der Schiedsrichter in Italien keine Ehre eingelegt worden“, bilanzierte die Fußball-Woche offen. Und der kicker schrieb: „Trauriges Fazit: Rohheit triumphiert!“

Obwohl der Toreschnitt auf 4,375 stieg, war es die WM der großen Torhüter. Der Spanier Ricardo Zamora, der Tscheche Frantisek Planicka und Weltmeister-Stütze Gianpiero Combi begeisterten mit ihren Paraden und setzten neue Maßstäbe für ihre Zunft.

Finale nicht ausverkauft

Schließlich war Italien 1934 war auch das Turnier der leeren Stadien (23.235 Zuschauer pro Spiel), selbst das Finale mit dem Gastgeber war nicht ausverkauft. Das lag an den überteuerten Eintrittspreisen und dem parallel stattfindenden Giro d'Italia, der populärer als jedes Fußballspiel war. Die Fußball-Woche kritisierte: „Die Fußball-Weltmeisterschaft steht im Schatten einer nationalen Radfernfahrt, das aber hat sie bestimmt nicht verdient!“ Das sollte nie wieder passieren.