Brasilien wird zur Fußball-Weltmacht

Der Endrunde 1958 in Schweden haben die Zeitgenossen das Etikett der bis dato "seltsamsten WM der Geschichte" gegeben. Das sollte keineswegs eine Beleidigung der Gastgeber sein, denn auch sie konnten ja nichts für das in der Tat seltsame Teilnehmerfeld.

Wieder fiel es schwer, von einer wirklichen Weltmeisterschaft zu sprechen, wenn drei Kontinente nicht vertreten waren – Asien, Afrika und Australien sahen zu. Dafür schickte die britische Insel erstmals (und nie wieder) alle ihr vier Fußballverbände ins Rennen: England, Schottland und Nordirland qualifizierten sich als Gruppensieger und die Waliser bekamen per Los aus dem Topf der europäischen Gruppenzweiten eine Zusatzchance. Das kam so: Gegen Israel wollte aus politischen Gründen niemand spielen, die Türkei, Indonesien, Ägypten und selbst der Sudan opferten für ihre Haltung die seltene WM-Chance.

Die FIFA wiederum wollte keinen Teilnehmer mehr kampflos zu einer WM reisen lassen, diese Zeiten schienen glücklich überwunden. Also wurde Israel ein Gegner aus Europa zugelost und das kleine Wales nutzte seine Chance, durch die Hintertür nach Schweden zu fahren und das britische Quartett zu komplettieren.

Italien und Spanien außen vor

Im Topf befanden sich übrigens unter anderem Italien und Spanien, die auch auf diesem Weg nicht nach Schweden kamen. Auch ihr Scheitern kam den Experten überaus seltsam vor, denn ihre Ligen waren die führenden des Kontinents. Dennoch stellte Europa drei Viertel der Teilnehmer, nämlich zwölf von 16. Der Rest kam aus Süd- und Mittelamerika, erstmals wagte sich Argentinien zu einer WM nach Europa, auch Mexiko und Paraguay schafften es und an Brasilien hatte sich die Fußball-Welt schon gewöhnt. Die Samba-Kicker haben bis zum heutigen Tag als einziges Land keine WM verpasst, aber erst 1958 in Schweden sollten sie zur Weltmacht des Fußballs werden.

Das Turnier, auf dem der Stern des 17-Jährigen Edson Arantes do Nascimento, besser als Pelé bekannt, aufgehen sollte, wurde von den Brasilianern exakt vorbereitet. Schon 1957 ging der Verband in Schweden auf Quartiersuche und bei der Kaderzusammenstellung wurde auf Dinge geachtet, die vorher völlig egal gewesen waren. So mussten die Spieler einen Intelligenztest absolvieren, der den Rechtsaußen Garrincha glatt überforderte. Es war dennoch eine überaus intelligente Entscheidung seines Trainers Vicente Feola, ihn mitzunehmen. Das Sorgenkind, das laut Pelé noch in der Kabine „nie wusste, gegen wen wir jetzt spielen“, gehörte zu den besten Spielern der WM.

Die Kandidaten des kommenden Weltmeisters mussten vor dem Turnier auch alle zum Zahnarzt, was offenbar angebracht erschien: 470 Zähne wurden behandelt, 32 gezogen. Und doch sollte diese Mannschaft in Schweden genug Biss haben, um Weltmeister zu werden.

Der Titelverteidiger als Außenseiter

Der amtierende Titelträger aber hieß Deutschland, aber hoch gewettet war er nicht mehr. Mit der Elf, die 1954 die Ungarn geschlagen hatte und danach nie mehr zusammenspielte, war auch der Erfolg verschwunden. Die Begeisterung hatte sich gelegt im Land. Kein Wunder nach 14 Niederlagen zwischen dem glanzvollen Tag von Bern und der Abreise nach Schweden. Bundestrainer Sepp Herberger stand stark in der Kritik. Die Taktik sei veraltet und die gute Kameradschaft „tot“, mutmaßte die Bild-Zeitung. Die Neue Post fragte besorgt: „Ist

Herberger, der fast Sechzigjährige, nicht vielleicht schon zu alt geworden, um junge Spieler, deren Großvater er sein konnte, zu begeistern?“

In seinen privaten Aufzeichnungen fanden sich in den Monaten vor Schweden echte Anzeichen von Resignation („Am Tiefpunkt!“), und so suchte er wieder Zuflucht im Geist von Spiez.

Zwar hatte Herberger erkannt, dass es mit Max Morlock, Jupp Posipal, Karl Mai und Ottmar Walter keinen Sinn mehr machte und auch Werner Liebrich strich er im Mai 1958 aus dem erweiterten Aufgebot. Aber um seine Fixsterne, an die er trotz allem unerschütterlich glaubte, kämpfte Herberger. Malte er seine Wunschelf für Schweden auf, stand am Rand oft der Vermerk: „Im Geheimfach. Rahn, F. Walter.“ Im März 1958 öffnete er dieses Geheimfach.

Rahn und Walter noch einmal dabei

Tatsächlich war es ihm gelungen, den Ende 1956 zurückgetretenen Walter zu reaktivieren und auch eine Begnadigung für Helmut Rahn durchzusetzen. Der DFB hatte den „Boss“ nach dessen vierzehntägiger Haftstrafe am 31. Juli 1957 von der Nationalelf ausgeschlossen. Ein Verkehrsrowdy, der in Baugruben fährt und sich dann mit den Polizisten prügelt, sollte Deutschland repräsentieren? Undenkbar in der Republik der Fünfziger Jahre.

Aber die Nation brauchte den Essener und Herberger nahm ihn mit offenen Armen wieder auf. Zehn Kilo musste Rahn abnehmen, dann saß auch er in Hamburg im WM-Zug. Von den Berner Helden waren nur noch vier übrig geblieben: Walter, Rahn, Horst Eckel und der neue Kapitän Hans Schäfer. Außerdem hatten sich drei Reservisten von 1954 ein Ticket ergattert: Herbert Erhardt, Berni Klodt und Torwart Heinrich Kwiatkowski. Die anderen 15 waren nur im Geiste dabei, bekamen aber immerhin Postkarten von Fritz Walter – jeder einzelne. Nun musste es ohne sie gehen.

Am frühen Montag des 2. Juni 1958 bestiegen 17 junge Männer um 6.56 Uhr in ihren olivgrünen Jacketts, grauen Hosen und Filzhüten am Hamburger Hauptbahnhof unter lebhaftem Anteil der Bevölkerung den Zug nach Großenbrode an der Ostsee. Von dort sollte es nach fünfmaligem Umsteigen auf Fähren und Busse über Dänemark ins schwedische Quartier gehen. Ausgerechnet Fritz Walter und Helmut Rahn mussten dabei zur allgemeinen Belustigung ihre Koffer mitschleppen. Zur Strafe, weil sie etwas zu spät zum Treffpunkt gekommen waren.

Die Koffer der Kollegen hatte der DFB schon vorausgeschickt. „Am liebsten würde ich wieder heimfahren“, schmollte Walter und Rahn pflichtete ihm bei: „Ich auch!“ Zum Glück blieben sie doch. Schließlich hatten sie einen Titel zu verteidigen, auch wenn der DFB schon vorsorglich für den 23. Juni Rückfahrkarten reserviert hatte – also unmittelbar nach dem Viertelfinale.

683 D-Mark pro Spieler

Eine WM-Prämie wurde, wie 1954, vorher nicht ausgehandelt. Ärger gab es deshalb nicht, sie waren bescheiden geblieben – und das in jeder Beziehung. Herberger hatte aus Kostengründen nur 18 Spieler nominiert, vier standen auf Abruf bereit. Überliefert ist sein Kostenvoranschlag für das Unterfangen WM 1958.

Die Einkleidung pro Spieler kostete demnach 683 D-Mark.
Im Detail: Anzug 400 DM
Drei Hemden 90 DM
Zwei Shorts 20 DM
Drei paar Socken 12 DM
Schuhe 50 DM
Zwei Krawatten 16 DM
Unterhemd 5 DM
Hut 40 DM
Regenmantel 50 DM.
Und wie in der Schweiz veranschlagte er 10 DM Tagegeld pro Spieler.

Nicht alles aber war wie zuvor. Rund 12.000 Anhänger begleiteten die Spieler nach Schweden, ein 36jähriger kam gar mit dem Fahrrad aus Wuppertal. Der Massenauflauf beim Training in Lomma war für die Spieler gewöhnungsbedürftig und Herberger ein Dorn im Auge.

Selbst ins Quartier nach Bjärreds Saltsjöbad, einem abgelegenen familiären Hotel im kleinen Villenort Bjärred 17 Kilometer von Malmö entfernt, kamen sie und brachten die Nationalspieler zuweilen um den Schlaf, die hellen schwedischen Sommernächte taten ihr Übriges. Torwart Fritz Herkenrath beklagte viel später „die immer wieder verordnete Bettruhe, obwohl keiner ruhig schlafen konnte“.