Titelkämpfe im Fußball-Entwicklungsland

Im 15. Anlauf wurde erstmals eine Weltmeisterschaft in ein Fußball-Entwicklungsland vergeben. In den USA war alles Volkssport, nur nicht Fußball, dort „Soccer“ genannt. Es gab 1994 nicht einmal eine erste Liga, und in den neun WM-Stadien wurden im Alltag Baseball-Spiele ausgetragen.

„Fußball ist ein Spiel, das wir unseren Kindern beibringen, bis sie alt genug für etwas Interessanteres sind“, spottete die Washington Post in einem WM-Knigge für die Landsleute. Mit einem besonders sachkundigen Publikum war daher nicht zu rechnen, auch wenn Franz Beckenbauer nach einem Restaurantbesuch in Chicago amüsiert vermeldete: „Der Ober hat gemeint, mich irgendwo einmal gesehen zu haben.“

Auch mit einer Stimmung wie etwa 1986 in Mexiko war nicht unbedingt zu rechnen. Umso überraschender, dass die WM 1994 als die am besten besuchte in die Annalen eingegangen ist. Sicher, in den USA gab es die größten Stadien aller Turniere, aber dass sie auch dermaßen voll sein würden, verblüffte die Experten in aller Welt. Immerhin war die Anreise für die Anhänger aus den klassischen Fußball-Ländern weit und teuer, aber die Amerikaner selbst eilten in hellen Scharen zu diesem ihnen so seltsam erscheinenden Sport.

3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen

Ihre Begeisterungsfähigkeit adelte das Weltchampionat: Unter dem Strich standen offiziell 3.568.567 Zuschauer in den 52 WM-Spielen, das entsprach einem Schnitt von 68.626 und einer Steigerung von über 20.000 pro Spiel gegenüber Italien 1990. Dabei fehlten mit England und Frankreich Nationen, die in der Regel viele Schlachtenbummler mitbringen. England scheiterte an Norwegen und den Niederlanden, Frankreich verlor in Paris in letzter Minute gegen Bulgarien sein WM-Ticket. Aber gegen Bulgarien sollten später noch andere verlieren...

Europameister Dänemark, 1992 in Schweden ein Sensationssieger, konnte das Niveau nicht ganz halten und verpasste den WM-Flieger um ein Tor, das die wackeren Iren bei gleicher Differenz mehr erzielt hatten. Afrika stellte erstmals drei Teilnehmer und erhielt den Lohn für Kameruns gutes Abschneiden 1990. Die „Unbezähmbaren Löwen“ waren auch wieder dabei, nun mit Nigeria und Marokko im Schlepptau. Dass die jahrzehntelange geringe Teilnehmerquote Afrikas nicht ganz unberechtigt gewesen sein mag, verdeutlichte sich aber in der Qualifikation: Gleich acht Länder zogen aus wirtschaftlichen Gründen zurück oder brachen mitten im Wettbewerb ab.

Solche Geschichten hörte man aus Südamerika nie: In zwei Gruppen kämpften neun Kandidaten erbittert um vier Plätze. Kolumbien, Argentinien und natürlich Brasilien schafften es erneut, Bolivien aber kam als torgefährlichste Mannschaft des Verbands (22 Treffer) erstmals seit 1950 wieder zu einer WM und gleich zu der Ehre, das Eröffnungsspiel zu bestreiten. Schon zum zehnten Mal wurde Mittelamerika durch Mexiko vertreten. In Asien mühten sich 28 Nationen um zwei Plätze, für einige war Dabeisein schon alles. Sri Lanka etwa ging mit 0:26 Treffern aus seiner Gruppe, Pakistan mit 2:36 und Macao (1:46) verbuchte sogar eine zweistellige Heimniederlage gegen Kuwait. Saudi-Arabien dagegen blieb in elf Partien ungeschlagen und qualifizierte sich souveräner als Südkorea (zum dritten Mal in Folge), das von Japan nur zwei Tore trennte.

Die deutsche Mannschaft genoss das Privileg, als Titelverteidiger qualifiziert zu sein – ein Privileg, das mittlerweile nicht mehr gilt.

Erstmals führte Bundestrainer Berti Vogts die DFB-Auswahl zu einer WM, wobei ihm die Verheißung seines Vorgängers Franz Beckenbauer wie ein Mühlstein auf dem Rücken lastete: „Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so“, hatte er im Überschwang der Gefühle nach dem WM-Sieg von Rom gesagt – auch und gerade weil die Spieler aus der sich auflösenden DDR dazukommen würden. Doch vier Jahre später hatte Deutschland sehr wohl erfahren müssen, dass es besiegbar war. Bei der EM 1992 zum Beispiel, als es im Finale ein 0:2 gegen Außenseiter Dänemark gab und niemand sich über einen zweiten Platz in Europa zu freuen vermochte. Schließlich war man ja Weltmeister.

Als der sich im Mai 1994 traditionsgemäß in Malente zur Vorbereitung traf, zeigte sich auch, dass die Basis von Beckenbauers Orakel nicht so ganz stabil gewesen war. Aus der ehemaligen DDR standen nur zwei Spieler im Kader: der Stuttgarter Matthias Sammer und der Leverkusener Ulf Kirsten, beide einst bei Dynamo Dresden. Ansonsten vertraute Vogts lieber den Weltmeistern. Zwölf standen noch im Kader, davon neun aus der Final-Elf. Rudi Völler, der im Oktober 1992 schon sein Abschiedsspiel gegeben hatte, wurde noch Ende Mai zurückgeholt, ebenso Andreas Brehme. Die beiden Mittdreißiger schraubten den Altersschnitt auf 29 Jahre. Älter war bis dato nie ein deutscher WM-Kader gewesen. Diesmal war der 25-jährige Ersatztorwart Oliver Kahn der Benjamin. Was auch daran lag, dass sich der Münchner Christian Ziege eine Bänderverletzung zuzog. Der 22-jährige Mittelfeldspieler faxte den Kollegen vor Turnierstart unverdrossen ins Quartier: „Es kann nur einen Weltmeister geben, der kommt aus Deutschland!“

Die Erwartungen an die Mannschaft, die am 6. Juni 1994 in den Flieger stieg und zunächst in Kanada Quartier bezog, waren in der Tat hoch. Das Umfrage-Institut Gallup International befragte in 17 WM-Teilnehmerländern 20.770 Menschen und erhielt am häufigsten zur Antwort: „Deutschland wird Weltmeister“ (20,59 Perozent). Dahinter lagen die üblichen Verdächtigen Brasilien (19,18) und Italien (12,29) – also die späteren Finalisten. An eine deutsche Halbfinal-Teilnahme glaubten immerhin 61,8 Prozent, und weniger durfte es auch dem Selbstverständnis nicht sein. Berti Vogts wusste um den Druck und sagte vor dem Abflug: „Ich werde Held oder Vaterlandsverräter!“.

Das Los, das in Gegenwart der auf Länderspielreise weilenden Nationalmannschaft im Dezember 1993 in Las Vegas gezogen wurde, bereitete ihm keine großen Sorgen. „Deutschland ist der große Gewinner der Auslosung“, fand die Washington Post angesichts von Bolivien und Südkorea, auch Spanien zählte nicht zu Deutschlands Angstgegnern. Mehr kümmerte Vogts die Torwartfrage, die auch Ende Mai noch nicht geklärt war. Erst in Malente entschied er sich für Weltmeister Bodo Illgner und gegen den mit dem 1. FC Nürnberg gerade abgestiegenen Andreas Köpke. Zum Auftakt fiel zudem Guido Buchwald aus. Im Sturm gab es die meisten Probleme, und zwischenzeitlich überlegte Vogts dort mit Andreas Möller zu spielen, da er zwar fünf Mittelstürmer, aber keinen Flügelstürmer im Kader hatte.

Möller sprach sich selbst Mut zu: „Ich gehöre zu den Spielern, die nicht viele Chancen brauchen.“ Außerdem sei er hier, um Weltmeister zu werden „und nicht um die Torjägerkanone zu holen.“ Der bewegliche Mittelfeldspieler passte nach Vogts’ Auffassung jedenfalls am besten zum unumstrittenen Jürgen Klinsmann, der damals in Monaco sein Geld verdiente und auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand. Für dessen Sturmpartner von Rom, Rudi Völler, blieb nur ein Platz auf der Bank. Dennoch: Der Plan mit Möller war eine letztlich nicht praktizierte Notlösung und offenbarte eine Disbalance im Kader.

Acht Spieler aus der Heimat in der Startelf

Fixpunkte in der Elf waren Kapitän und Libero Lothar Matthäus, Vorstopper Jürgen Kohler, Stefan Effenberg und Matthias Sammer im Zentrum und Thomas Häßler hinter den Spitzen. Auf den Außenbahnen standen Thomas Berthold und Andreas Brehme etwas in der Kritik, aber Vogts vertraute seinen Weltmeistern, als diese am 17. Juni in Chicago die 15. Fußball-WM sportlich eröffnen sollten. Das typisch amerikanische halbstündige Showprogramm hatten Rock-Größen wie Tina Turner und Rod Stewart beifallumrauscht absolviert, und US-Präsident Bill Clinton sprach feierliche Worte, während 35.000 Luftballons in den National-Farben der USA gen Himmel stiegen.

Alles aber klappte doch nicht bei der Eröffnung. Auf der Pressetribüne herrschte große Verwirrung, als die Mannschaftsaufstellungen verteilt wurden. Gleich acht Deutsche standen da auf dem Papier, die gar nicht mit in Amerika waren. Ein Alois Reinhardt etwa war bereits Sport-Invalide, auch Uwe Bein und Bruno Labbadia hatten ihr letztes Länderspiel längst bestritten. Überraschende Realität war dagegen die Aufstellung von Karl-Heinz Riedle, die Möllers Sturm-Debüt verhinderte. Auch die Aufstellung der Bolivianer enthielt etliche falsche Namen - eine peinliche Organisationspanne noch vor dem ersten Anpfiff.

Auch die Prognosen von der Hitze-WM trafen sofort ein. Dem Fernsehen zuliebe fanden die meisten Spiele in der Mittagshitze statt. Beim Eröffnungsspiel um 14 Uhr Ortszeit im Soldier Field von Chicago herrschten somit 38 Grad, und 70 Zuschauer brachen mit Kreislaufproblemen zusammen. Matthias Sammer wollte das zuvor nicht gelten lassen: „Selbst wenn es bullenheiß ist, müssen wir gegen Bolivien voll drauf gehen.“ Hinterher waren sie alle froh über das knappe 1:0, das Jürgen Klinsmann nach einem krassen Abwehrfehler in der zweiten Hälfte sicherte. Immerhin kam Deutschland als erste Mannschaft der WM-Historie in den Genuss, für einen Sieg drei Punkte zu erhalten, denn 1994 wurde das in vielen Ländern bereits gültige Punktsystem auch bei Weltmeisterschaften eingeführt.

Noch etwas tröstete die Deutschen auf der Rückfahrt ins Quartier Oak Brook in Chicago: Erstmals hatte ein Titelverteidiger das offizielle Eröffnungsspiel gewonnen. Dass es verdient war, wurde nicht bezweifelt, nur der Glanz fehlte. Lothar Matthäus gab zu: „Das war nicht die Superleistung wie beim ersten Spiel 1990 gegen Jugoslawien. Diesmal hängt unsere Wolke etwas tiefer.“ In Bolivien konnte man sich übrigens mit der Niederlage nur schwer abfinden. Weil das Tor angeblich Abseits gewesen sei, flogen in La Paz Steine auf die mexikanische Botschaft – der Schiedsrichter war Mexikaner. Dabei gab es noch einen anderen Sündenbock: Superstar Etcheverry flog nur drei Minuten nach seiner Einwechslung vom Platz und sagte: „Ich muss mich bei meinem ganzen Land entschuldigen.“ Für ihn war die WM schon vorbei, er wurde für die nächsten zwei Spiele gesperrt, und mehr machte Bolivien nicht.

Weiterkommen früh gesichert

Südkorea leistete mehr Widerstand und trotzte Spanien im Endspurt ein 2:2 ab. Das brachte Deutschland vor dem Spiel gegen die Iberer in eine günstige Position, ein Punkt würde das Weiterkommen schon sichern. Und den gab es dann auch, aber dieses 1:1 von Dallas, bei dem erneut Jürgen Klinsmann traf, führte zu ersten Rissen.

Bodo Illgner stand nach dem Gegentor, einer abgefälschten Flanke, in der Kritik, und Berti Vogts erntete für seinen Versuch, das Spiel zu loben, von Thomas Berthold heftige Widerworte: „Es bringt doch nichts, wenn sich der Bundestrainer hinstellt und behauptet, wir hätten gut gespielt. Die ganze Welt hat gesehen, dass es nicht so war.“ Uwe Seeler, Ehrenspielführer und über jeden Zweifel erhaben, schlug in dieselbe Kerbe: „Bei den ersten beiden Spielen konnte man Magenkrämpfe vom Zuschauen bekommen. In der Mannschaft steckt viel mehr, aber es geht nur miteinander.“

Einer fehlte schon nach dem dritten Spiel: Stefan Effenberg hatte beim mühsamen 3:2 über Südkorea seine Auswechslung mit einer obszönen Geste in Richtung der pfeifenden Fans quittiert. DFB-Präsident Egidius Braun setzte sich gegen den Spielerrat durch und forderte Effenbergs Rauswurf: „Da geht so ein Mensch hin, auch noch Nationalspieler, und erlaubt sich solche Obszönitäten. Lieber gar keine Nationalmannschaft als so eine.“ Folglich stellte Vogts dem Mittelfeldspieler das vorzeitige Rückflugticket aus.

Das änderte nichts daran, dass der Titelverteidiger seine Gruppe vor Spanien gewonnen hatte und ins Achtelfinale eingezogen war. Und von Sturmproblemen war gar keine Rede mehr: Jürgen Klinsmann hatte vier der fünf Tore erzielte, das fehlende dritte gegen Südkorea markierte Karl-Heinz Riedle. Aber den kommenden Weltmeister hatte man in diesem Team nicht gesehen in Amerika.