Der Triumph von Rom

Die 14. WM-Endrunde wurde in ein Land vergeben, das den Titel schon drei Mal gewonnen hatte: Italien. Quasi über Nacht wurde die Squadra Azzurra, die 1986 in Mexiko noch ein schwaches Bild abgegeben hatte und bei der EM 1988 im Halbfinale gescheitert war, zum WM-Favoriten. Diese Bürde trug sie „wie Atlas die Weltkugel im Genick“, schrieb die Süddeutsche Zeitung treffend. Alle Italiener wollten nicht weniger als den Titel. Zunächst aber galt es, die Voraussetzungen für eine globale Sport-Veranstaltung zu schaffen, an die immer höhere Ansprüche gestellt wurden.

24 Mannschaften sollten in zwölf Stadien den Weltmeister ausspielen. Stadien, die erstmals nur Sitzplätze anbieten durften. Das erforderte teure Neu- und Umbauten in Höhe von umgerechnet rund 800 Millionen D-Mark. In Bari und Turin standen neue Stadien, acht weitere wurden renoviert. Aber als OK-Präsident Hermann Neuberger im März zu seiner Inspektionsreise aufbrach, sagte er skeptisch: „Ihr Italiener müsst wirklich sehr tüchtig sein, wenn ihr in drei Monaten das fertig bringt, wozu wir Deutsche mindestens zwei Jahre nötig hätten.“ Nun, es wurde alles fertig bis zum 8. Juni 1990, doch die Hast forderte Opfer. 24 Tote gab es auf den Baustellen, noch am Morgen des Eröffnungsspiels stürzte in Palermo ein Gerüst ein und riss fünf Männer in den Tod.

Frankreich und Polen verpassen Turnier

Die Anzahl der Bewerber ging erstmals zurück und blieb im zweistelligen Bereich (98). Prominenteste WM-Verpasser waren Frankreich, das zuvor zwei Mal in Folge ins Halbfinale gekommen war, und Polen, das seit 1974 stets die Vorrunde überstanden hatte. Die beiden deutschen Vertreter erlebten in den Tagen des Mauerfalls auch sportlich hochdramatische Momente. Während die Auswahl der DDR sechs Tage nach der innerdeutschen Grenzöffnung Österreich in Wien im entscheidenden Spiel mit 0:3 unterlag, schaffte die Bundesrepublik am gleichen Tag die Qualifikation.

Teamchef Franz Beckenbauer hat oft betont, es sei für ihn „die schwierigste Woche überhaupt“ gewesen, „denn die Mauer fiel und es war unmöglich, die Konzentration hoch zu halten“. Im Falle des Scheiterns wäre er zurückgetreten. Aber die 21 Nationalspieler, die sich in der Sportschule Hennef auf das letzte Spiel gegen Wales vorbereiteten, spürten den Windhauch der Geschichte auch, der von Berlin übers ganze Land wehte. Stürmer Rudi Völler fragte damals: „Das Spiel gegen Wales, was ist das schon gegen dieses Ereignis?“ Thomas Häßler, im Berliner Wedding groß geworden, kannte die Mauer aus eigener Anschauung und gab zu: „Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen, um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“

Häßler schießt Deutschland zur WM

Für sein Land war es dann doch besser, dass er an diesem November-Mittwoch 1989 in Köln geblieben war. Denn Thomas Häßler wurde zum Retter der Nation, sein Volley-Tor entschied das nervenaufreibende Spiel gegen Wales (2:1). Was heute fast niemand mehr weiß: Der spätere Weltmeister gewann nicht mal seine Qualifikationsgruppe – Erzrivale Holland holte einen Zähler mehr – und kam nur durch den Umstand, bester Zweiter in den beiden Vierer-Gruppen geworden zu sein, nach Italien. Dafür blieb Dänemark auf der Strecke.

In der deutschen WM-Qualifikations-Geschichte ist es nie spannender gewesen als 1989, aber das muss kein schlechtes Omen sein, wie sich zeigen sollte. Es wäre auch fatal gewesen, hätten die Deutschen gefehlt, denn Italien sah eine Heerschau des Fußball-Adels: Alle bisherigen Weltmeister hatten sich qualifiziert. Brasilien wieder einmal ungeschlagen, wenngleich skandalumwittert. Im letzten Spiel gegen Chile flogen Raketen auf den Rasen und Gästetorwart Rojas brach scheinbar schwer getroffen zusammen. Die Chilenen, die 0:1 zurücklagen, verließen den Rasen und der Schiedsrichter brach die Partie ab. Chile hoffte nun auf die Punkte am Grünen Tisch, doch TV-Aufnahmen enthüllten, dass Rojas gar nicht getroffen worden war. Nun galten die Chilenen als Verursacher des Abbruchs und Brasilien bekam die Punkte mitsamt WM-Ticket. Chile wurde von der Fifa sogar für die WM 1994 ausgeschlossen.

USA und Costa Rica dabei

Die sollte in den USA stattfinden, und der nächste Gastgeber durfte sich in Italien schon mal einspielen, denn die College-Boys aus den Staaten lösten ebenso überraschend wie Neuling Costa Rica eines der beiden Tickets, die Mittelamerika zustanden. Die beiden verdankten ihr Glück auch dem Vergehen Mexikos, das beim Weltjugendpokal ältere Spieler eingesetzt hatte und von der Fifa für die WM 1990 ausgeschlossen worden war.

Ganz Afrika bekam auch nur zwei Plätze, Ägypten (erstmals seit 1934) und Kamerun (nach 1982) setzten sich durch. Die größten Exoten kamen diesmal aus Asien: die Vereinigten Arabischen Emirate schafften es, in der Finalrunde mit sechs Mannschaften nur ein Spiel (2:1 gegen China) zu gewinnen. Weil sie aber ungeschlagen blieben, reichte es zum zweiten Platz hinter Südkorea, das schon 1986 dabei gewesen war.

Losen mit Loren

Über die Verteilung des Feldes wurde am 9. Dezember 1989 in Rom entschieden. Im Rahmen einer bunten Show, der die Schauspielerin Sophia Loren einen ganz eigenen Charme verlieh und zu der jeder bisherige Weltmeister eine lebende Legende auf die Bühne schickte – Deutschland wurde durch Karl-Heinz Rummenigge vertreten – wurden die Lose gezogen. Sechs Mannschaft wurden als „Gruppenköpfe“ gesetzt, womit automatisch die Favoriten benannt wurden: Italien, Argentinien, Brasilien, Deutschland, England und der WM-Vierte Belgien.

Die Deutschen verließen den Sportpalast mit einem Lächeln auf den Lippen, ihre Gegner waren durchaus schlagbar: Wie so oft Jugoslawien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kolumbien. Franz Beckenbauer sagte: „Wir haben diesmal wirklich Glück gehabt.“ Quartier bezog die DFB-Delegation inErba am Comer See, wo sich einige Nationalspieler schon längst zuhause fühlten. Denn kennzeichnend für die Weltmeister von 1990 war das italienische Element. Fünf Spieler waren bereits vor der WM in das Gastgeberland gezogen: die Mailänder Matthäus, Brehme, Klinsmann (alle bei Inter) und die Römer Rudi Völler und Thomas Berthold (AS Rom). Sie alle erlebten dort die schönsten Jahre ihrer Karriere und waren ebenso beliebt wie erfolgreich.

Deutsche begehrt in Italien

Die Roma-Fans wählten Völler zum besten Spieler der Saison 89/90. Inter wurde mit seinen Deutschen 1989 Meister und 1990 Supercup-Sieger Italiens. Brehme hatte man schon in seiner ersten Saison 88/89 zum besten Ausländer der Liga gewählt. „Du hast gar kein Geld gebraucht, wenn du ausgegangen bist. Wenn du da in ein Lokal kamst, haben sich alle noch bedankt, dass du da warst.“, berichtete Brehme von seiner Popularität. Jürgen Klinsmann, der 1989 über den Brenner gezogen war, sagte kurz vor der WM: „In Deutschland habe ich sehr gerne Fußball gespielt, in Italien genieße ich es.“ Rudi Völler, bereits seit 1987 Wahl-Italiener hatte, hatte sich schon assimiliert: „Ich fühle mich hier einfach heimisch. Wenn ich den Fernseher einschalte, höre ich keine fremde, sondern eine mir längst vertraute Sprache.“

Die Präsenz der Legionäre trug wesentlich dazu bei, dass die deutsche Mannschaft in Italien quasi sieben Heimspiele hatte. Jürgen Klinsmann hatte das vorausgesehen. Nach den Vorteilen einer WM in Italien befragt, antwortete er: „Zum einen kennen wir hier jedes Stadion in Italien und die Leute kennen uns. In Mailand, wenn wir nicht gerade gegen Italien spielen, stehen die Tifosi voll hinter uns.“

"Ihr kommt unter die ersten Vier"

Teamchef Franz Beckenbauer setzte voll auf seine Legionäre: „Sie haben ein höheres Niveau und professionelleres Verhalten, spielerische Fortschritte und Ernsthaftigkeit erreicht. Italien ist der Bundesliga in allen Belangen überlegen“, sagte er. Das zeigte sich auch im April, als alle drei Halbfinalduelle in den Europacup-Wettbewerben zu Gunsten der italienischen Klubs ausgegangen waren. Das weckte eher den Ehrgeiz im deutschen Lager. Als Franz Beckenbauer die Spieler am 14. Mai in Malente erstmals zusammenrief, begrüßte er sie angeblich so: „Dass eins klar ist – ihr kommt unter die ersten Vier. Und unser Ziel ist der Titel.“

Seiner Mannschaft traute man das zu, aber als Top-Favorit fuhr sie nicht gerade in den Süden. Bei den Wettbüros und Umfragen lag sie auf Platz drei oder vier. Doch im Vergleich zur WM 1986 in Mexiko war alles besser: die Qualität, das Selbstbewusstsein, das interne Klima, die Unterbringung, das Ansehen des Trainers Beckenbauer innerhalb der Mannschaft – obwohl es derselbe war.

Beckenbauer ließ Spieler gewähren

Jürgen Kohler schrieb in seiner Autobiographie: „Es war die beste Stimmung, die ich mit der Nationalmannschaft je erlebt habe. Der Franz hatte uns gewähren lassen und ist nicht wie ein Schießhund hinter uns her gerannt, um uns zu kontrollieren. Es war ihm egal, ob einer fünf Minuten früher oder später ins Bett ging oder mal ein, zwei Bierchen trank. Er hatte die nötige Lässigkeit, über den Dingen zu stehen.“

Die Dinge waren aber auch nicht weiter schlimm. Als das Team am 8. Juni im Castello di Casiglio in Erba eintraf, standen die Rahmenbedingungen für eine nahezu perfekte WM. Die Prämienfrage war vorab geklärt (125.000 Mark pro Kopf für den Titel), die meisten Frauen waren in einem benachbarten Hotel einquartiert und durften jeden Tag zu Besuch kommen. Die Italien-Legionäre ließ Beckenbauer auch mal im eigenen Bett schlafen – und so lud Klinsmann den einstigen Stuttgarter Klub-Kameraden Guido Buchwald in sein Haus am Comer See ein. Brehme und Matthäus zeigten den Kollegen ihre Lieblingsrestaurants in ihrem Wohnort Carimate, der nur 24 Kilometer von Erba entfernt war. So konnte Matthäus am freien Tag zum Stamm-Friseur gehen.

Stamm-Formation stand schon recht früh fest

Auch sportlich lief es von Beginn an reibungslos. Die Stamm-Formation stand schon seit Monaten ziemlich fest. Bodo Illgner im Tor, in der Abwehr Libero Klaus Augenthaler, Thomas Berthold, Jürgen Kohler und Andreas Brehme. Kapitän Lothar Matthäus und Guido Buchwald standen im defensiven Mittelfeld, Jürgen Klinsmann und Rudi Völler waren der Parade-Sturm, der auch privat harmonierte.

Nur im offensiven Mittelfeld hatte der deutsche Fußball-Kaiser die Qual der Wahl. Das Motto hieß: zwei aus vier. Die Kandidaten waren Thomas Häßler, Pierre Littbarski, Olaf Thon und Uwe Bein. Andreas Möller wurden Außenseiterchancen eingeräumt.

Wo einst Barbarossa nächtigte

Nach einem Zwischenstopp in Kaltern, wo eine Südtirol-Auswahl 13:0 abgefertigt wurde, bezog die Mannschaft schließlich im herrlichen Quartier Castello di Castiglio in Erba am Comer See Quartier. Für das weitläufige Gelände, witzelte Thomas Berthold, „benötigt man einen Kompass um den Weg aus den Zimmern zum Essen zu finden“. Hier hatte schon 800 Jahre zuvor Kaiser Barbarossa residiert, nun zog für drei Wochen der deutsche Fußball-Kaiser mit Gefolge ein.

Das Turnier begann am 8. Juni 1990 mit einem Paukenschlag. Wieder sah die Welt ein torarmes Eröffnungsspiel, aber doch kein torloses. Und der Ball, den ein gewisser Oman Biyik in der 66. Minute in Mailands San Siro-Stadion über die Torlinie bugsierte, erschütterte die Säulen der Fußballwelt. Das vermeintlich kleine Kamerun, das schon 1982 ungeschlagen geblieben war (drei Unentschieden), kam zu seinem historischen ersten WM-Sieg überhaupt. Der Gegner war kein Geringerer als Titelverteidiger Argentinien um Welt-Star Diego Maradona. Selbst als die zuweilen rustikalen Afrikaner in der Schlussphase auf neun Mann dezimiert worden waren, kam Argentinien nicht zu einem Tor.

Kamerun - der Stolz Afrikas

Sechs Tage später war ganz Afrika unermesslich stolz auf seinen bis dahin besten Vertreter aller Zeiten, stand Kamerun doch nach dem 2:1 über Rumänien als erster der 24 Teilnehmer als Achtelfinalist fest. Das Wunder machte ein 38-Jähriger wahr, der auf der Insel Reunion die Reservebank drückte. Roger Milla wurde vom Staatspräsidenten persönlich in den WM-Kader befördert und erzielte nach seiner Einwechslung beide Tore. Auf der Strecke in dieser Gruppe blieb überraschend Vize-Europameister Sowjetunion, während sich Rumänien und Argentinien ebenfalls für die nächste Runde qualifizierten.

Auch andere Favoriten hatten Mühe. Italien gewann zwar alle Spiele der Gruppe A und blieb ohne Gegentor, doch während das 1:0 über Österreich noch einer guten Leistung entsprang, hagelte es nach dem gleichen Ergebnis gegen Außenseiter USA Pfiffe im Olympiastadion von Rom. Die Versöhnung mit seinem kritischen Publikum feierte die Squadra Azzura beim 2:0 gegen die Tschechoslowakei, als Trainer Azeglio Vicini erstmals Toto Schillaci in die Startelf stellte. Der kleine Sizilianer war Italiens erster WM-Held, weil er gegen Österreich schon vier Minuten nach seiner Einwechslung das erlösende 1:0 erzielte. Gegen die Tschechoslowakei brauchte er neun Minuten.