Sieg gegen Chile sorgt für Euphorie

Zum Glück: Nach etwas mehr als einer Stunde hatte er schon drei Tore geschossen. Danach kamen wieder die Stiche im Oberschenkel, aber er musste durchspielen. Lothar Matthäus und Uwe Reinders waren bereits eingewechselt worden – und das lohnte sich. Der Bremer Reinders erzielte mit seinem ersten Ballkontakt nach zwei Minuten WM-Erfahrung das 4:0, und das chilenische Ehrentor störte nur Manfred Kaltz, der von Moscoso getunnelt worden war. Auf der Tribüne entrollten Fans schon nach dem 1:0 ein Spruchband und grüßten den „Weltmeister Deutschland“. Präsident Neuberger rief ihnen zu: „Mensch, rollt das doch wieder ein.“ Selbst Daueroptimist Derwall hielt es für besser, nicht abzuheben: „Bei uns herrscht nun große Erleichterung, aber keineswegs Euphorie."

Katzenjammer dagegen bei den Chilenen, die schon ausgeschieden waren. Gegen Caszelys Familie in Santiago wurden Morddrohungen ausgesprochen, weil der Hausvorstand gegen Österreich einen Elfmeter verschossen hatte. Ein Spiel hatten die Chilenen noch Gelegenheit, die Heimat zu versöhnen, und es gelang einigermaßen. Gegen Algerien lagen sie schon mit 0:3 zurück, da quälte sie der Ehrgeiz und es fielen noch zwei Tore. Für den Verlauf dieser WM waren es sehr bedeutsame Treffer. Denn die wegen des einsetzenden Ramadan hungrig ins Spiel gegangen Algerier verdarben sich so in der Schlussphase ihr Torverhältnis, das nach der 0:2-Niederlage zuvor gegen Österreich nun 5:5 hieß. Dadurch ergab sich die seltene Konstellation, dass drei Teams mit 4:2 Punkten einlaufen konnten – und dass Deutschland und Österreich bei einem deutschen Sieg mit maximal zwei Toren weiter wären.

So sollte es tatsächlich kommen am 25. Juni in Gijon, einem schwarzen Freitag für den Fußball. Das Ergebnis von 1:0 durch ein frühes Tor von Horst Hrubesch (11. Minute) überraschte nicht, das Spiel schon. Schon zur Pause gab es Pfiffe. Danach wedelten die Zuschauer mit weißen Tüchern wie beim Stierkampf, wenn sie der Torrero langweilte. „Raus“-Rufe wechselten sich mit „Algeria“ ab.

Stanjek fehlten die Worte

Auf dem Platz passierte so wenig, dass der ARD-Reporter Eberhard Stanjek irgendwann den Kommentar einstellte, es sei ja kein Fußball-Spiel mehr. Die algerische Nachrichtenagentur richtete: „Niemals ist der Sport in einer so schlimmen Weise beleidigt worden.“ ZDF-Reporter Harry Valerien sprach von der „schlimmsten Maskerade des Weltfußballs in den letzten Jahrzehnten.“

Tagelang wurde auf beide Mannschaften eingeprügelt, doch weckte das mehr Trotz als Schuldbewusstsein. Breitner wurde so zitiert: „Das Publikum hat überhaupt nicht kapiert, worum es für uns hier ging, nämlich um das Weiterkommen. Wir haben hier eine WM!“

Am Ende dieses Tages ereignete sich neben allerlei unerfreulichen Dingen wie Eierwürfen – Breitners Jacke wurde getroffen – eine Tragödie: Richard Gauke, der deutsche König der Schlachtenbummler, seit Jahrzehnten dabei, brach in der Hotel-Lobby tot zusammen. Der 67-Jährige hatte sich die Vorkommnisse in Gijon zu sehr zu Herzen genommen. Das war nun ebenso unabänderlich wie das Ergebnis, das in der Tabelle stand. Die FIFA tadelte zwar „das negative Schauspiel beider Mannschaften“ scharf, aber der offizielle Protest Algeriens wurde abgelehnt.

Kurz nach einer Bombendrohung in Gijon („Das ist die Strafe für das Spiel gegen Österreich“, sagte der anonyme Anrufer) brach der DFB-Tross auf nach Madrid, wo im Stadion Santiago Bernabeu das Turnier weiterging.

Blumen fürs Publikum

In der Zwischenrunde warteten England und Gastgeber Spanien, und die Deutschen brachten dem Publikum Blumen mit. Die Engländer hatten alle Spiele und damit auch ihre Gruppe 4 gewonnen. Trainer Ron Greenwood musste zwar auf den verletzten Ex-HSV-Star Kevin Keegan verzichten, aber gegen Frankreich (3:1), als Bryan Robson schon in der ersten Minute traf, die enttäuschenden Tschechen (2:0) und die tapferen Kuwaitis (1:0) ging es ohne die „Mighty Mouse“ gut. Hinter England trudelte Frankreich glücklich ein. Der spätere Halbfinalist gewann nur gegen Kuwait (4:1), das in Valladolid die größte WM-Posse überhaupt ablieferte. An diesem Tag lernte die Welt den Fußball-Präsident von Kuwait kennen.

Nach einem abseitsverdächtigen Tor der Franzosen zum vermeintlichen 4:1 winkte Scheich Fahd el Achmed el Sabah in der 81. Minute seine wild protestierenden Spieler offenkundig vom Platz, stürmte selbst hinunter, löste einen Polizeieinsatz und eine längere Unterbrechung aus. Hinterher wollte er es gar nicht so gemeint haben. Der russische Schiedsrichter Stupar jedoch schien den langen Arm des Scheichs zu fürchten und nahm zur allgemeinen Erheiterung das Tor zurück, was er formal durfte, da der Anstoß noch nicht ausgeführt worden war - und doch niemals hätte tun dürfen. Das sah die FIFA auch so, sperrte Stupar auf ewig und schickte dem Scheich eine Rechnung über 25.000 Schweizer Franken. Es war schon das zweite Scharmützel mit dem Emirat, das zuvor vergeblich beantragt hatte, sein Maskottchen ins Stadion mitbringen zu dürfen – ein Kamel.

Spanien patzt gegen Honduras

Wenig zu lachen gab es in Gruppe 5, wo Gastgeber Spanien sich aus der Favoritenrolle kapitulierte. Gegen Honduras reichte es nur zu einem 1:1, Jugoslawien wurde durch einen fragwürdigen und dann noch wiederholten Elfmeter 2:1 geschlagen, und gegen Außenseiter Nordirland setzte es ein 0:1. Weltmeister waren die Spanier nur in der Werbung, vor dem Turnier hatte der Kader bereits 86 Millionen Peseten (2 Millionen D-Mark) eingespielt. Merke: Wer schon vor dem Turnier satt ist, hat keinen Erfolgshunger mehr. Nutznießer waren die Nordiren, die schon den Rückflug für den 27. Juni gebucht hatten, aber durch Armstrongs Tor nach zwei Remis Gruppensieger plötzlich wurden. Spanien kam auf italienische Weise weiter: 3:3 Tore waren besser als die 2:2 der punktgleichen Jugoslawen, die gegen das tapfere Honduras (1:0) ein Tor zu wenig schossen.

In Gruppe 6 ging es übersichtlicher zu. Hier spielte endlich mal ein Favorit auf, der die Bezeichnung verdiente. Die Brasilianer von Trainer Tele Santana schlugen, was ihnen vor die Füße kam. Die Russen (2:1) hatten noch etwas Pech, Schottland (4:1) und Neuseeland (5:2) gerieten zum Spielball der Samba-Kicker um Zico, Falcao und Socrates. Brasilien hatte 1982 eine außergewöhnliche Mannschaft, nur über Torwart Valdir Perez und den Mittelstürmer Serginho lächelten die Zuschauer. Hinter der besten Auswahl der Vorrunde kam Russland auf Platz zwei, das entscheidende Spiel gegen die erneut tragisch scheiternden Schotten endete 2:2. Das Torverhältnis entschied über Gehen und Bleiben. Neuseeland hatte da von Beginn an wenig Illusionen und erfüllte die Wünsche seines Trainers trotz dreier Pleiten: „In Ehren untergehen und wenigstens ein Tor schießen“. Es wurden sogar zwei.

Die Zwischenrunde wurde zum ersten und einzigen Mal in Dreier-Gruppen ausgetragen. Motto: ein Stadion, drei Teams, drei Spiele, ein Halbfinalist. Die vier Mini-Turniere hoben das Niveau der WM, die in ihrer heißen Phase auch unter der spanischen Sommerhitze litt, enorm. Zwar ging es wieder um Punkte, doch keiner wollte in die Lage geraten, im letzten Spiel zusehen zu müssen, was die Konkurrenz machte. Der Auftaktsieger würde nämlich das letzte Spiel haben, und wer sein Schicksal selbst bestimmen wollte, sollte am besten gleich gewinnen.

Polen düpiert Belgien

Entsprechend verliefen die meisten Auftaktpartien. In Gruppe A in Nou Camp stürmten die Polen in einem nur zu einem Drittel gefüllten Stadion gegen die dezimierten Belgier wie entfesselt und siegten 3:0. Alle Tore schoss der rotblonde Zbigniew Boniek, der schon mit 26 Jahren bei Juventus Turin spielen durfte und den Neid der Kollegen auf sich zog, die eigentlich nicht vor 30 ins „kapitalistische Ausland“ duften. Belgien musste auf Jean-Marie Pfaff, der nach der WM zu den Bayern ging, und dem späteren Bundesliga-Trainer Eric Gerets verzichten. Die beiden waren gegen Ungarn zusammengeprallt, und so dezimierte sich der Bezwinger Argentiniens selbst.

Im nächsten Spiel gab es noch ein 0:1 gegen die Russen, die nun gegen Polen gewinnen mussten. Am 4. Juli kam es also doch zum Kampf der verfeindeten Brüder im Warschauer Pakt. Polen-Trainer Piechniczek betonte, es gebe „keinen Befehl von oben, dass wir zu verlieren haben“. Sonst hätte er sich wegen Befehlsverweigerung verantworten müssen, nach einem niveauarmen 0:0 fuhren die Russen um Alt-Star Oleg Blochin heim. Auf den Rängen sah man rotweiße Transparente mit der Aufschrift „Solidarnosc“, und Polen-Torwart Mlynarczyk betonte pathetisch: „Das war heute ganz wichtig für unser Volk, das so viele große Sorgen hat.“

In der deutschen Gruppe B war Zuschauermangel das geringste Problem. Was man hier vermisste, waren Tore und fußballerische Klasse. Im Grunde fing damals aber schon die englische Phobie vor dem deutschen Fußball an, die 1990 in Gary Linekers Spruch („Am Ende gewinnen immer die Deutschen“) gipfelte. Denn die Briten mussten abreisen, ohne ein Spiel verloren zu haben. Aber zwei 0:0-Spiele berechtigen auch nicht zum Weiterkommen. „Zwei Berge gebaren eine Maus“, lästerte France Soir nach dem Spiel gegen Deutschland zu Recht.

Nur 0:0 gegen England

Den einzigen Sieg der Gruppe aber meldete eben dieses Deutschland – als es unbedingt sein musste. Nach dem 0:0 gegen die Briten, als nur Rummenigges Lattenschuss in der 85. Minute die Kulisse vor dem Einschlafen bewahrte, musste der Gastgeber besiegt werden. Mit welcher Mannschaft, das wusste Derwall noch immer nicht. Hatte er die Vorrunde stets mit derselben Elf bestritten, so landeten Magath und Hrubesch gegen England plötzlich auf der Tribüne und Pierre Littbarski auf der Bank. Bernd Förster, Uwe Reinders und der verletzt angereiste Hansi Müller bekamen eine Chance, nur der ältere Förster-Bruder nutzte sie.

Derwall setzte Hrubesch auf die Bank. Es stürmten die Kölner Littbarski und Fischer, und die sollten sich bewähren. Im bis dahin besten deutschen Spiel schossen sie nach der Pause zwei Tore, Spaniens Zamora verkürzte noch. „Endlich ein Sieg, der Freude macht“, lobte Bild, die die Spieler mit der Schlagzeile „Siegen oder fliegen!“ in die Spur gebracht hatte. Nun aber waren die Deutschen in der Lage der Algerier zehn Tage zuvor. „Ich weiß jetzt, wie die sich gefühlt haben müssen“, sagte Verteidiger Hans-Peter Briegel vor dem letzten Gruppen-Spiel.

Würden sich die ausgeschiedenen Spanier gegen England noch mal reinhängen? Nur fünf deutsche Spieler wollten es hautnah erleben und fuhren ins Stadion, der Rest zitterte im Quartier vor dem Fernseher. „Einwurf für uns“, rief Derwall und meinte eigentlich die Spanier. Die hatten den Ehrgeiz, mit Anstand von ihrer eigenen Party zu gehen, wenn sie schon nicht bis zum Schluss bleiben konnten. Es wurde eine lange Sommer-Nacht für die Deutschen, die am 5. Juli gegen 23 Uhr der einzige Sieger dieses 0:0 waren. Dremmler und Breitner sprangen vor Freude in den Pool, ein DPA-Reporter folgte nicht ganz freiwillig. Vier Spieler hatten ihn hineinbefördert. Plötzlich waren sie wieder eine Spaßgesellschaft – wie noch vor der Abreise nach Gijon.

Gruppe C als Favoritengrab

Und plötzlich hatten sie sogar realistische Chancen, Weltmeister zu werden. Denn die Gruppe C wurde zum Favoriten-Grab, und der einzige Überlebende war die graue Maus der Vorrunde – Italien. Die Squadra Azzurra setzte sich gegen Weltmeister Argentinien und Top-Favorit Brasilien durch – nicht wie gewohnt und allseits gefürchtet mit Catenaccio, sondern mit einem unerwarteten Torrausch. Darunter fällt in Italien, wo laut Trainer Bearzot schon „ein Tor ein Weltwunder ist“, bereits ein 2:1. Solches glückte gegen Argentinien, das am Ende die Nerven und Gallego durch Platzverweis verlor. So hielten sie es auch im zweiten Spiel gegen Brasilien (1:3), diesmal flog Maradona nach einer Tätlichkeit hinunter. Sein Einstand in Spanien verlief enttäuschend, und mancher fragte sich, ob der 21-Jährige das Geld wohl wert sei, das Barcelona in ihn investierte.

Die nächste Frage war: „Wer wird jetzt der WM-Star?“ Sie wurde auch in der Gruppe C beantwortet, wo das kleine Stadion Sarria von Espanyol Barcelona die besten Gruppen-Spiele dieser WM sah. Hier ging am 5. Juli der Stern eines Mannes auf, der 1978 auch schon dabei war. Paolo Rossi, damals lebte er noch bei seiner Mutter, brauchte etwas länger, um erwachsen zu werden. 1980 war er in einen Wettskandal verwickelt und gesperrt worden, doch zur WM ließ man den nun 25-Jährigen von der Leine. Er dankte es auf die beste Weise, zu der ein Stürmer in der Lage ist: mit Toren.

An diesem Tag also schoss er die phantastischen Brasilianer aus dem Turnier, er ganz alleine. Rossi drei, Brasilien zwei hieß es nach überaus faszinierenden 90 Minuten. Zweimal hatte Brasilien ausgleichen können, doch nach Rossis drittem Streich kam es nicht mehr zurück. Auf der Tribüne beschlich den großen Pelé schon zur Pause (1:2) „ein ungutes Gefühl“, wie er die Heimat am TV-Mikrofon wissen ließ. Es sollte ihn nicht trügen.