Die hohe Zeit des Catenaccio

Die Weltmeisterschaft 1962 in Chile hat in den Chroniken keinen Ehrenplatz bekommen und gewiss auch nicht verdient. Nach diesem Turnier steckte die WM als solche in einer ernsten Krise und in Fifa-Kreisen beriet man ihre Abschaffung. Brutaler und zweckorientierter Defensivfußball vor leeren Rängen prägte die Spiele an der Pazifikküste Südamerikas. Es war die hohe Zeit des Catenaccio, einer Philosophie aus Italien, die dem Toreverhindern huldigte. Mit 2,78 Toren pro Spiel wurde folgerichtig ein WM-Minusrekord aufgestellt. Und in zwei der vier Vorrundengruppen kamen ausnahmslos vierstellige Zuschauerzahlen zustande, nur das Halbfinale zwischen Brasilien und Gastgeber Chile war ausverkauft. So wurde der bereits ernüchternde Zuschauerschnitt von Schweden 1958 nochmals unterboten (24.250 pro Spiel) – es ist bis heute der drittschlechteste der WM-Historie und der schlechteste nach dem Zweiten Weltkrieg.

Auch aus deutscher Sicht war Chile ein Reinfall, nie war ein Abschneiden enttäuschender und eine WM-Endrunde kürzer – abgesehen mal von 1938, als es noch keine Gruppenspiele gegeben hatte und schon im Achtelfinale Schluss gewesen war. 1962 reiste die deutsche Mannschaft nach nur vier Spielen zurück nach Europa, das sie erstmals für ein großes Turnier verlassen hatte. Sinnbildlich für das Abschneiden der Auswahl war das Los des Hamburgers Jürgen Werner, der sich in Chile gleich zwei Mal die Hand brach. Das erste Mal nach einer Trainingsrangelei, das zweite Mal nach einem Sturz vom Pferd.

Tief enttäuscht kehrten sie heim, denn das Viertelfinale war nicht genug gemessen an den Erwartungen. Das lässt nicht nur ein Satz aus einem Brief des DFB an einen Verbindungsmann in Santiago vermuten, der im Frühjahr 1962 aufgefordert wurde herauszufinden, „ob es in Chile einen guten Sekt gibt“. Offenbar nicht, jedenfalls wurden sieben Kartons importiert.

Die Chilenen waren schon froh, dass es überhaupt eine WM in ihrem Land geben würde, denn nachdem im Mai 1960 ein katastrophales Erdbeben dort fast den ganzen Süden zerstörte und die Lava ausbrechender Vulkane zahllose Dörfer verschluckte, war an Fußball vorläufig nicht zu denken. Es wurden Alternativen ersonnen, auch aus Sicherheitsgründen. Was, wenn es ausgerechnet während der WM wieder passieren würde? Doch die Chilenen bestanden auf ihrem Turnier. Organisationschef Carlos Dittborn, der kurz vor der WM verstarb, hatte schon 1956 betont: „Wir hatten nichts, darum mussten wir die Weltmeisterschaft haben.“ Nun wollte sie ihnen die FIFA auch nicht wegnehmen, obgleich zwei WM-Städte von der Katastrophe, die einigen tausend Menschen das Leben gekostet hatte, betroffen waren. Dass für die 7,4 Millionen Chilenen das Bewältigen des Alltags doch wesentlicher wichtiger als irgendeine Eintrittskarte war, sollte sich jedoch alsbald herausstellen in den 18 WM-Tagen.

Wieder war es übrigens eine WM der zwei Kontinente, weder Asien, noch Afrika noch Australien hatten einen garantierten Platz im Teilnehmerfeld erhalten – und das anscheinend zu recht: ihre Besten scheiterten in den Entscheidungsspielen an Europäern. So erging es Israel gegen Italien, Marokko gegen Spanien und Südkorea gegen Jugoslawien. Europas Hegemonie drückte sich 1962 so aus: es stellte zehn von 16 Teilnehmern. Ein Entscheidungsspiel fand übrigens in Berlin statt, wo die Schweiz Schweden mit 2:1 ausschaltete, sehr zur Freude des Publikums, das noch an die Vorkommnisse im Halbfinale von Göteborg 1958 dachte.

Die deutsche Mannschaft qualifizierte sich souverän für die 16.000- Kilometer-Reise. Alle vier Spiele in der Gruppe mit Nordirland und Griechenland wurden gewonnen, schon nach dem dritten im Mai 1961 gegen die Briten, ein 2:1-Sieg in Berlin, konnte der DFB auf Quartiersuche gehen. Dennoch stand nicht alles zum Besten in der Auswahl von Sepp Herberger, der nun im Rentenalter angekommen war und zu seiner vierten und letzten WM als Nationaltrainer fuhr.

Briefe aus dem Frühjahr 1962 künden von seiner Unsicherheit. Wem konnte er vertrauen, wo er seinen geliebten Fritz Walter nicht mehr hatte? Den er übrigens allen Ernstes noch mitnehmen wollte, obwohl der 41jährige Kapitän der Helden von Bern schon seit 1959 nicht mehr aktiv war. Walter sträubte sich erfolgreich. Dass Herberger nicht stärker auf ihn eingewirkt hatte, warf er sich nach der WM selbst vor, wie ein Brief an Walter vom August 1962 bezeugt: „Lieber Fritz! Die Weltmeisterschaft in Chile ist vorüber…Eines aber wissen nur wir beide allein: Ich hätte Sie gern dabei gehabt! Nicht als Zuschauer, nicht als Berichterstatter oder sonst was, nein als Spieler! ... In Chile habe ich mir dann desöfteren vorgeworfen: Hättest du doch deinen Kopf durchgesetzt.“

Einen Plan hatte er schon. Weil Walter sowieso für die Gewinner eines Preisausschreibens als Betreuer vor Ort war, wollte Herberger nur 20 von 22 erlaubten Spielern nominieren und ihn heimlich als 21. Mann führen. Aber der DFB bestand auf 22 Spieler. „Dadurch blieb kein Spielraum mehr für Sicherungsmaßnahmen. In Chile habe ich es bitter bereut“, schrieb Herberger. So musste er sich mit dem abfinden, was er hatte. Mit Amateuren, die bis zu 320 Mark verdienen durften und alle einem Beruf nachgingen. Es gab noch immer keine Bundesliga in Deutschland, sondern vier Oberligen. Eine im internationalen Vergleich selten nachteilige Situation, die besten Spieler mussten keineswegs wöchentlich an die Leistungsgrenze.

Und sich einen Überblick zu verschaffen, fiel keinem Nationaltrainer schwerer als Herberger – an Live-Übertragungen war nicht zu denken und die Sportschau zeigte nur regional relevante Beiträge. Was Herberger nicht sah, musste er sich eben berichten lassen und so florierte der Briefverkehr mit den Trainern der Oberliga-Klubs, von denen es damals 64 gab.

Im Februar 1962 erörterte er mit HSV-Trainer Günter Mahlmann die Lage. Nach einleitenden Mitleidsbekundungen wegen der über Hamburg eingebrochenen Sturmflut kam er auf seine Kandidaten zu sprechen und klagte über Verteidiger Jürgen Kurbjuhn: „Ausgesprochen schwach ist sein Kopfballspiel. Wenn ich dabei an die Kopfballspezialisten denke, mit denen wir es gleich im ersten Spiel gegen Italien zu tun haben werden, bekomme ich Angstzustände“.

Er empfahl Mahlmann, Kurbjuhn ans Kopfballpendel zu nehmen und Linksaußen Charly Dörfel noch dazu, wobei „Uwe Seeler hierbei wertvolle Hilfestellung leisten“ könne. Auch mit Seeler war der Chef nicht zufrieden in den Monaten vor der WM. Im März tippte er an DFB-Vize Hans Huber einen dreiseitigen Brief, betitelt „Gedanken und Pläne über die personelle Aufstellung unserer Angriffsreihe“. Über den HSV-Torjäger heißt es da: „So gefiel sich Uwe Seeler in den zurückliegenden Spielen immer mehr in der Rolle als Spielmacher, in die er von einem Teil der Presse in völliger Verkennung seiner wahren Fähigkeiten gehoben wurde. Die Folge war, dass all das verblasste was ihn strahlend aus der Maße heraushebt und was untrennbar zu seinem Leistungsbild gehört.“ Ferner bekümmerte den Bundestrainer das Fehlen eines starken Rechtsaußen.

Für einen Berner Helden blieb die Tür dennoch zu, so sehr ihn die Presse auch forderte: „Helmut Rahn wäre z.B. nicht der Mann gewesen, diese Pläne zu verwirklichen“, richtet

Herberger über den populären Essener, der damals in Enschede spielte. Sein Hoffnungsträger war der Schalker Willy Koslowski, „ein mit allen Ölen gesalbter, gerissener Bursche, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt.“ Nach nur einem Testspiel ergatterte sich Koslowski überraschend das Chile-Ticket. Wie undurchschaubar Herbergers Gedankenspiele selbst für Experten waren, zeigt dies: Als das Sport Magazin am 15. Januar 1962 spekulativ „100 Namen aus Herbergers Notizbuch“ abdruckte, fehlten noch immer drei spätere Chile-Fahrer. Einer war der im März reaktivierte Kölner Hans Schäfer, 1954 Weltmeister und seit 1959 eigentlich Ex-Nationalspieler. Herberger wollte den Routinier unbedingt dabei haben und nahm dafür sogar dem Fürther Herbert Erhardt die Spielführerbinde weg. Damit sind die beiden Verbliebenen von Spiez genannt, fünf weitere Spieler (Ersatztorwart Sawitzki, Schnellinger, Szymaniak, Sturm und Seeler) waren immerhin 1958 dabei gewesen. Horst Szymaniak war der erste Legionär in der WM-Historie, er spielte in Italien für Catania.

Für 15 Spieler war Chile die WM-Premiere. Auch auf der Torwart-Position vertraute Herberger einem denkbar unerfahrenen Mann: Wolfgang Fahrian von der TSG Ulm, der erst mit 19 (!) Torhüter wurde. Seine WM-Nominierung an sich war schon eine Sensation, zumal die Ulmer ein Zweitligist waren. Dass der knapp 21jährige, der auch noch verletzt zum Treffpunkt kam (Herberger: „Ei Wolfgang, Sie humpeln ja“) sogar spielen würde, erwartete noch niemand.

Der Favorit hieß Hans Tilkowski von Borussia Dortmund. Doch nach der Landung in Chile, wo der DFB-Tross nach fünf Zwischenlandungen am 20. Mai in einer Militärschule in Santiago Quartier nahm, war alles anders. Nicht nur das Wetter, in Chile war Herbst und manchmal sogar Fritz-Walter-Wetter. Das Unheil nahte am 30. Mai. Hans Tilkowski saß gerade mit den Reservisten Heinz Vollmar und Günter Herrmann beim Skat, als er selbst zum Reservist wurde. Vollmar erwähnte beiläufig, er habe gehört dass Fahrian gegen Italien spiele. Tilkowski zeigte ihm nur den Vogel, doch als Co-Trainer Helmut Schön plötzlich im Zimmer stand und sagte „Hans, der Chef möchte Sie sprechen!“, stieg ihm das Blut schon in den Kopf. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass Herberger dauernd bei Schöns Torwarttraining vorbei geschaut und gefragt hatte: „Helmut, was meinen Sie?“

Nun erfuhr Tilkowski, was das Trainergespann meinte. „Hans, morgen gegen Italien steht Fahrian im Tor“, eröffnete ihm Herberger. Ein Torwartwechsel am Tag vor einer WM, das war unerhört in der DFB-Geschichte und zuviel für Tilkowski, wie er in seinem Buch „Und ewig fällt das Wembley-Tor“ ausführt. So will er gesagt haben: „Es ist ihre Entscheidung. Meine Entscheidung ist: Ich spiele nie mehr für Deutschland.“ Er bat um seinen Reisepass und das Rückflugticket, doch beides wurde ihm verwehrt. Im spartanisch eingerichteten Vierbett-Zimmer reagierte sich Tilkowski in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai dann ab. Er erinnerte sich so: „Einer der Stühle steht mir im Weg, als ich ins Zimmer stürze. Mit aller Kraft, die einen Ball bis in den gegnerischen Strafraum befördert hätte, trete ich den Stuhl quer durch den Raum. Daraus wird dann in einigen Presseberichten, der randalierende Tilkowski habe im Trainingsquartier der deutschen Mannschaft das Mobiliar zerlegt. Da gab es nicht viel zu zerlegen.“

Tilkowski sprach in Chile und auch noch ein paar Jahre danach kein Wort mehr mit Herberger und erwiderte nicht mal seine Grüße. Herberger gab vor der überraschten Presse lapidar zu, „der Til ist eingeschnappt“. Noch vor dem Start hatte die deutsche Auswahl ihren ersten WM-Skandal. Das Klima war gedrückt, jedenfalls bei denen, die es mit Tilkowski hielten. Das waren aber nicht die Stammspieler, denn gerade aus deren Mitte soll der Vorschlag gekommen sein, Fahrian aufzustellen.

Der Ulmer stand also am 31. Mai 1962, seinem 21. Geburtstag, zum Auftakt in Santiago gegen Italien im Tor und hielt es sauber. Das Resultat von 0:0 nach durchaus ansprechender deutscher Leistung sollte Stil prägend für das Turnier sein. Mehrmals rechneten die Zuschauer mit Platzverweisen für einen Italiener, doch der schottische Schiedsrichter ließ alles durchgehen. Übrigens kamen alle WM Schiedsrichter aus Europa, was die Südamerikaner mit Recht brüskierte. Herberger pustete nach dem ersten Punktgewinn durch: „Es war unser schwerstes Länderspiel seit Jahren.“

Auch das nächste gegen die Schweizer sollte nicht viel leichter werden, denn es musste gewonnen werden, da zum Abschluss der Gastgeber wartete. Das merkt man den Spielern an. Kurz vor der Pause gelingt Albert Brülls aus 20 Metern das erste deutsche WM-Tor, aber der Knoten platzte deshalb nicht. Eine Einzelleistung Uwe Seelers führte nach einer Stunde zum 2:0, die Schweizer konnten nur noch verkürzen. Hans Fiederer, Chefredakteur des Sport Magazins, besänftigte das 2:1 nicht. „Es ist zum verzweifeln, wie oft sich die deutschen Stürmer mit unnötigen Dribblings festrennen… Ich kann mich nicht entsinnen, in den letzten Jahren so deprimiert, so trost- und ratlos einem deutschen Länderspiel beigewohnt zu haben.“, schrieb der Alt-Internationale aus Fürth. Da war es nur ein schwacher Trost, dass die Heimat davon wenig mitbekam. Das Fernsehen berichtete erst zwei Tage später in Zusammenfassungen.

Vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen die Chilenen war die Brisanz etwas raus, da die Gastgeber bereits fürs Viertelfinale qualifiziert waren. Freiwillig verschenkten sie die Punkte dennoch nicht, aber die Deutschen siegten wieder. Szymaniak verwandelte einen Elfmeter nach Foul an Seeler (21.) und der Hamburger sorgte mit einem Kopfball für die Entscheidung (82.). Nun war auch Kritiker Hans Fiederer zufrieden: „Deutschland im Viertelfinale! Diesen großartigen Sprung unter die acht weltbesten Mannschaften wird man an der internationalen Fußballbörse entsprechend anerkennen und notieren müssen. Wir trauten unserer Elf diese Steigerung nicht mehr zu.“

Auch in Chile also schienen die Deutschen am Mythos der Turniermannschaft zu stricken, wieder wurden sie von Spiel zu Spiel besser, auch wenn niemand der abwartend defensive Stil gefiel, den Herberger verordnete. „Dass auch bei uns bis zum bitteren Ende meist betont defensiv gespielt hat, hat mich als Stürmer natürlich nicht befriedigt. Aber was soll man machen: Man muss mit den Wölfen heulen und auf bessere Zeiten hoffen“, schrieb Uwe Seeler in seiner Bild-Kolumne nach dem WM-Aus. Das Niveau der Vorrunde war in der Tat bedenklich, jeder schien vor allem sein Tor verteidigen zu wollen – und das mit allen Mitteln. In der Vorrunde wurden 30 Verletzte und sechs Platzverweise gezählt. Die Bilder des Skandal-Spiels zwischen Chile und Italien (2:0), als ungeniert geprügelt und getreten wurde, gingen um die Welt. Von beiden Seiten, aber nur zwei Italiener flogen vom Platz – wobei Ferrini sich weigerte und von der Polizei nach zehn Minuten Theater abgeführt werden musste. Die aufgeheizte Stimmung sollen übrigens mitgereiste italienische Journalisten verursacht haben, die abfällig über die Moral chilenischer Journalisten geschrieben hatten.

Nach dieser Partie, kam es zu einem einmaligen Vorgang in der WM-Historie. FIFA-Präsident Stanley Rous lud alle Trainer und Funktionäre der Teams ins Hotel Carrera zu Santiago und appellierte angesichts der Auswüchse: „Was soll nur die Jugend denken, wenn sie diese unglaublichen Entgleisungen der Spitzenspieler sieht. Wir müssen den Ruf des Turniers retten – helfen Sie mit, dass es im sportlichen Geist zu Ende geht. Es darf keinen Sieg um jeden Preis, kein nationales Prestige geben.“ Herberger stellte die Frage, was denn die Fifa etwa gegen Spuckattacken oder Faustschläge zu tun gedenke. Auf die Antwort, das sei Sache der Schiedsrichter, knurrte der Chef: „Dafür holt man uns nun zusammen. Dabei hätte eine Aussprache Wunder wirken können.“

Aber es wurde auch Fußball gespielt und die Favoriten bewiesen ihr Können. Weltmeister Brasilien und Europameister UdSSR sowie die wieder erstarkten Ungarn gewannen ihre Gruppen. Auch England kam durch das erstmals zählende Torverhältnis knapp vor Argentinien weiter, Jugoslawien und die Tschechen verstärkten den auffällig guten osteuropäischen Block. Umso schlimmer die Bilanz der Lateinamerikaner: Für Uruguay, Kolumbien, Mexiko und Argentinien war nach der Vorrunde alles vorbei. Auch Italien, Schweiz, Spanien (mit dem eingebürgerten Ferenc Puskas) und Bulgarien packten die Koffer. Aber auch für den großen Pelé war das Turnier beendet, er wurde beim 0:0 gegen die Tschechen verletzt. Wie passend zu diesem Turnier der blauen Augen und Knochenbrüchen.

Für ihn sprang Garrincha in die Bresche. Der krummbeinige Rechtsaußen wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt und per Los zum Torschützenkönig, denn vier Treffer hatten gleich sechs Spieler geschafft. Die Hälfte seiner Tore schenkte er im Viertelfinale den Engländern ein, die in Vina del Mar 3:1 besiegt wurden. Das einzige britische Erfolgserlebnis: Bobby Charlton fing einen auf den Platz gesprungenen Hund ein, der für eine längere Unterbrechung sorgte.

Am gleichen Tag feierten nur 17.268 Chilenen im kleinen Stadion von Arica das 2:1 ihrer Helden gegen die Russen, in deren Tor der legendäre Lew Jaschin keine gute Figur machte. Im Osteuropa-Duell besiegten die Tschechen die Ungarn mit 1:0. Diese drei Partien hatten zusammen nicht annähernd so viele Zuschauer wie die Deutschen bei ihrem Viertelfinale gegen die Jugoslawen. Bis zur 85. Minute warteten in Santiago 63.324 Menschen auf Tore, ehe Radakovic den deutschen Traum platzen ließ. Mit seinem Tor wurde die erneut sehr defensive Taktik bestraft und alte Rechnungen beglichen. 1954 und 1958 hatte Deutschland die Jugoslawen im Viertelfinale eliminiert, nun war es also umgekehrt. In der Heimat hagelte es Kritik, Herberger wurde zum Rücktritt aufgefordert und Tilkowski plauderte aus: „Man war über seine Maßnahmen und Anordnungen, die sich oft widersprachen, verärgert und manchmal sogar belustigt. Mit seinen taktischen Maßnahmen war kaum jemand einverstanden.“

Der spätere DFB-Präsident Hermann Neuberger verteidigte den Chef im Sport Magazin: „Ich finde es abscheulich, nun dem guten Sepp das Fell über die Ohren zu ziehen. Die Tatsache des Gruppensieges ist doch nicht wegzuleugnen und wahrlich Erfolg genug.“ Das sahen nicht viele so in Deutschland, aber Herberger trotzte ihnen noch zwei Jahre: „Es gibt eben Leute, die nur das Negative suchen, aber das ist nichts Neues und deshalb komme ich darüber hinweg.“

Auch Uwe Seeler schluckte den Frust herunter und vertraute den Bild-Lesern an: „Für die nächste Zukunft hoffe ich nur, dass mich meine Frau mit dem Wagen vom Frankfurter Flughafen abholt.“ Dass sich Deutschland keineswegs blamiert hatte, verdeutlicht auch die Sport Magazin-Umfrage vor dem Turnier. Keiner der 16 WM-Trainer hatte Deutschland eine Final-Teilnahme prophezeit, damals waren andere Mächte einfach besser. Brasilien zum Beispiel, das im Halbfinale auch Gastgeber Chile dominierte (4:2). Garrincha schoss zwei Tore, flog aber drei Minuten vor Schluss vom Platz. Während dieses Spiel 77.000 Menschen sehen wollten, fand das zweite Halbfinale zwischen Jugoslawien und der Tschechoslowakei (1:3) vor der unwürdigsten Kulisse aller Zeiten statt: 5.890 kamen ins Stadion Sausalito von Vina del Mar und hörten Radio, da sie der Ausgang des Parallelspiels viel mehr interessierte. Das Transistorverbot der FIFA störte nur wenige. Wer doch ein Auge für das Spielgeschehen fand, musste erkennen, dass die Tschechen in Viliam Schroif wieder einen Wundertorwart der Kategorie Planicka aufzubieten hatten.

Im Finale gegen Brasilien teilte er aber das Schicksal eines Oliver Kahn 2002, als ihm vor dem dritten Tor ein entscheidender Fehler unterlief. Die Sonne soll ihn geblendet haben. Am verdienten Sieg des Titelverteidigers, der für Sünder Garrincha eine Begnadigung erwirkt hatte, gab es aber keinen Makel. Am 17. Juni 1962 drehten die Brasilianer nach Masopusts Tor die Partie noch zu ihren Gunsten und siegten dank Treffern von Amarildo, Zito und Vava noch mit 3.1 (1:1). Die älteste Mannschaft des Turniers (30,5 Jahre) wurde so zum ältesten Weltmeister aller Zeiten. In Rio wurde spontan Karneval gefeiert und der Tag der Rückkehr von Brasiliens Helden zum Feiertag erklärt. Und die Gastgeber freuten sich über den 3. Platz und einen Gewinn von 1,8 Millionen Dollar, aber rein sportlich war Chile 1962 ein Minusgeschäft.