"Hand Gottes" und genialer linker Fuß

Erstmals wurde eine Endrunde in ein Land vergeben, das bereits zuvor eine WM ausgetragen hatte. Mexiko erhielt wie schon 1970 den Zuschlag. Eigentlich hatte sich Kolumbien schon auf die WM gefreut, doch musste das mittelamerikanische Land die Ausrichtung schon 1982 zurückgeben. Die Wirtschaftslage erlaubte es ihm nicht, eine Endrunde für 24 Mannschaften auszutragen. Es hatte mit 16 Teilnehmern gerechnet. „Die Voraussetzungen, unter denen wir uns bewarben, sind nicht mehr gegeben. Wir fühlen uns hintergangen“, sagte Kolumbiens Präsident und erklärte den Verzicht.

Brasilien, Kanada und die USA hatten sich neben Mexiko als Nachrücker beworben, doch es blieben nur noch dreieinhalb Jahre Zeit, um Strukturen, sprich vor allem WM-reife Stadien, zu schaffen – und da war Mexiko mit einem Dutzend Spielstätten immens im Vorteil und erhielt am 20. Mai 1983 erneut den Zuschlag.

119 Länder meldeten sich für die Qualifikation, ein Rekordwert. Zu den Besonderheiten der Qualifikation zählte das Abschneiden des Irak, der wegen des Krieges mit dem Iran kein Heimspiel austragen konnte und sich doch erstmals für eine WM qualifizierte. Zweiter Vertreter Asiens war Südkorea, nach 32 Jahren Pause wieder dabei.

Afrika schickte mit Algerien und Marokko bewährte Vertreter an den Start. Nordamerika stellte mit Kanada einen WM-Debütanten, Südamerika entsandte seine Elite – Brasilien, Argentinien, Uruguay – und Newcomer Paraguay. Ozeanien blieb außen vor, da sich die Australier in zwei Entscheidungsspielen nicht gegen Schottland durchsetzen konnte. Die Briten erhöhten damit das europäische Kontingent auf 13. Es tröstete sie ein wenig über die Tragödie hinweg, die diese Qualifikation überschattete: Trainer Jock Stein erlitt gegen Wales einen Herzinfarkt und starb noch im Stadion.

Nicht dabei waren erneut die Niederlande, die auf Belgien trafen und diesmal in der Relegation den Kürzeren zogen. In ihrer Gruppe waren sie hinter den Ungarn zurückgeblieben, die sich als erstes europäisches Land bereits im April 1985 qualifiziert hatten.

Franz Beckenbauer neuer Teamchef

Keine Zeit verschwendete auch die deutsche Mannschaft unter ihrem neuen Trainer, Teamchef Franz Beckenbauer. Bereits vor den beiden letzten Heimspielen hatte sie das Mexiko-Ticket gelöst, was womöglich dazu führte, dass eine im Welt-Fußball einmalige Serie riss. Im nun bedeutungslosen Spiel gegen Portugal verlor sie am 16. Oktober 1985 in Stuttgart erstmals überhaupt nach 51 Jahren ein WM-Qualifikationsspiel – im 37. Spiel. Der Kicker kritisierte nach dem 0:1: „Blind und dumm Prestige verspielt.“

Noch war die Nation nicht ganz zufrieden mit ihrem liebsten Kind. Der Umbruch, den Beckenbauer als Nachfolger Jupp Derwalls eingeleitet hatte und der vor allem ein gefühlter Aufbruch war, war noch mit Mühen verbunden. Junge Spieler wie Thomas Berthold, Ralf Falkenmayer, Olaf Thon oder Michael Frontzeck hatte der „Kaiser“ in der Qualifikation ins Wasser geworfen und viel riskiert, doch als es gen Mexiko ging, hielt er Ausschau nach alten Recken. Er nominierte den bis dato ältesten Kader der DFB-Historie, der Altersschnitt betrug 28,37 Jahre.

In der Abwehr griff er auf den Hamburger Ditmar Jakobs (32) und Klaus Augenthaler (28) zurück, zwei Ausputzer alter Schule, auch die „Italiener“ Hans-Peter Briegel und Karl-Heinz Rummenigge hatten die 30 schon überschritten. Im April noch reaktivierte er Bayern-Stürmer Dieter Hoeneß, damals 33, nach sieben Jahren Abstinenz im DFB-Team. Und drei Wochen vor der WM machte er gar den 30-jährigen Münchner Vorstopper Norbert Eder zum Nationalspieler. Der hatte nach dem Double mit den Bayern schon seinen Apulien-Urlaub gebucht, doch dann ereilte ihn der Ruf des Teamchefs, und Eder wurde für knapp sechs Wochen zum Stammspieler der Nationalmannschaft.

Das Sicherheitsdenken, für das Beckenbauer stark kritisiert wurde, hatte Gründe. Denn das kreative Moment war nicht sonderlich ausgeprägt im DFB-Kader, der 1984 schon in der EM-Vorrunde gescheitert war.

Seitdem durchschritt der deutsche Fußball eine Talsohle, und wo sich einst Spielmacher gegenseitig auf die Füße getreten hattenn, wuselten nun die Wasserträger. Paul Breitner war zurückgetreten, Hansi Müller nicht mehr gut genug und Felix Magath nicht mehr jung genug. So wurde der Ruf nach einem laut, der nur aus der Ferne glänzte: Bernd Schuster, Dirigent des FC Barcelona. Er hatte sich 1984 mit dem DFB erneut überworfen, aber im Februar 1986 seinerseits die Fühler ausgestreckt. Doch brachte es seine Frau fertig, für die WM-Teilnahme Geld zu fordern, womit das Maß voll war. "Ich hätte, um bei der WM zu spielen, sogar noch eine Million Mark mitgebracht", sagte Dieter Hoeneß.

Das Gesicht fehlt

Der "blonde Engel" also sollte nie mehr für Deutschland spielen. Als Franz Beckenbauer am 5. Mai 1986 seine Vorauswahl traf, hatte er noch immer 26 Spieler im Kader. Das Streich-Quartett galt es in Malente und Kaiserau zu ermitteln, was den Einheiten eine gewisse Ruppigkeit verlieh. Das Urteil fiel nach dem letzten Testspiel gegen die Niederlande: Bis nachts um zwei diskutierte der Teamchef mit seinen Assistenten Horst Köppel und Berti Vogts. Als Beckenbauer noch vor dem Frühstück zum Stuttgarter Guido Buchwald aufs Zimmer ging, um die Hiobsbotschaft zu überbringen, "bin ich in eine depressive Stimmung geraten", erzählte er. Auch Heinz Gründel (HSV), Wolfgang Funkel (Uerdingen) und Frank Mill (Gladbach) verpassten unfreiwillig den Flieger nach Mexiko City, der am 19. Mai um 10.27 Uhr leicht verspätet abhob.

Die Stimmung in der 47-köpfigen Delegation war ambivalent. Zwar hatte die Mannschaft 1986 keines ihrer fünf Spiele verloren und mit Brasilien und Italien zwei WM-Favoriten geschlagen, doch ihr fehlte ein Gesicht. "Die Elf ist noch nicht gefunden", stellte der Kicker nach der Ankunft fest. „Als sicher können doch nur gelten: Schumacher im Tor, Briegel in der Abwehr, Matthäus im Mittelfeld und Völler im Angriff.“ Das lag auch daran, dass etliche Stammkräfte angeschlagen anreisten: Allen voran Kapitän Karl-Heinz Rummenigge, auch Felix Magath und Pierre Littbarski. Rudi Völler hatte die halbe Saison verpasst nach einem Foul von Klaus Augenthaler, aber mit drei Toren in den letzten Tests gegen Jugoslawien (1:1) und Holland (3:1) Signale der Fitness gesendet.

Beckenbauer beschwichtigte: „Natürlich habe ich die Elf, die allererste Wahl ist, im Kopf. Das Einspielen machen wir in Mexiko an Ort und Stelle.“ Aber in schwachen Momenten verströmte der bis dahin jüngste deutsche WM-Chefcoach auch Pessimismus: „Wenn wir die Vorrunde überstehen, haben wir schon viel erreicht.“

Angesichts der relativ kurzen Vorbereitungszeit stellte er sogar in Frage, ob WM-Teilnahmen noch Sinn machten für Deutschland, denn „auf Dauer haben wir keine Chance!“ Noch vor dem Turnier kündigte er an, spätestens 1988 aufzuhören, mit Erfolgen sei bis dahin nicht zu rechnen. „Wir werden weder Weltmeister noch 1988 Europameister, das könnt ihr vergessen.“

Die WM in Mexiko war die Reifeprüfung für den Trainer-Novizen: Mit 40 Jahren war er noch nicht der unumstrittene Souverän, gegen den keiner aufzubegehren wagte. Vor dem Abflug etwa musste er mit Toni Schumacher Tacheles reden, der ihm attestiert hatte: „Wir sind noch nie so wenig vorbereitet gewesen wie vor dieser WM.“ Der Teamchef machte dem Kölner klar, Kritik sei nur intern zu äußern.

Aus ihm sprach auch die Nervosität eines jungen Teamchefs, der fürchten musste, als erster nach der Vorrunde abreisen zu müssen. „Wenn wir ausgeschieden wären, wenn wir uns sang- und klanglos von der WM verabschiedet hätten, dann hätten sie mich mit Füßen getreten“, sagte er in der Rückschau auf Mexiko. Das Risiko des Scheiterns war größer als üblich, denn ausnahmsweise hatte das Losglück Deutschland verlassen: Die Gruppe E mit Dänemark, Schottland und Uruguay galt als "Todesgruppe".

Dafür wurde das Weiterkommen dem Teilnehmerfeld auf nie dagewesene Weise erleichtert. Weil der Modus wieder geändert und nach der Vorrunde wie zuletzt 1970 wieder K.o.-Spiele kamen, mussten aus 24 Mannschaften 16 gefiltert werden, um ein Achtelfinale möglich zu machen. Was tun bei sechs Gruppen? Die beiden Ersten schafften es wie zuvor direkt, aber auch die vier besten Dritten erhielten noch eine Chance. Also konnten Tore, die in einer anderen Gruppe fielen, über den Verbleib einer Mannschaft entscheiden. Richtig glücklich war man damit bei der FIFA nicht.

Favorit Brasilien vor Argentinien

Die Favoriten würde das wohl weniger treffen, doch wer eigentlich waren sie? Bei den Londoner Buchmachern ging man nach Namen: Brasilien (Quote 4,5) kam vor Argentinien (6,5). In Experten-Umfragen fielen oft zudem Uruguay und Frankreich, von Italien war dagegen weniger die Rede. Der Titelverteidiger hatte 1984 sogar die EM-Endrunde verpasst - diesmal sollte eine Titelprämie von 420.000 D-Mark pro Spieler Ansporn sein.

Vom dreimaligen Weltmeister Brasilien wurde in der heimischen Presse geschrieben, es sei „die schlechteste Mannschaft, die wir je zu einer WM geschickt haben“. Dazu passt, dass der große Pelé im Mai allen Ernstes sein Comeback in Aussicht stellte: „Ich biete mich an. Es liegt nun an Tele Santana, ob er mich haben will“, sagte der größte Fußballer (nicht nur) seines Landes in Radio „O Globo“. Er war zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt und hatte zuletzt 1978 Fußball gespielt, aber „meine Luft reicht noch für 45 Minuten“. Pelé meinte es ernst, Santana aber widerstand der Versuchung.

Zweifel begleiteten auch Argentinien trotz seines Wunderknaben Diego Maradona, der mit 25 Jahren auf der Höhe seines Könnens stand. Trainer Carlos Bilardo aber stand wegen der unattraktiven Spielweise am Pranger. Europameister Frankreich um Michel Platini und WM-Neuling Dänemark wurden zumindest als Geheimfavoriten gehandelt, und die Deutschen sah man im Ausland ohnehin besser als in der Heimat. Die englischen Buchmacher führten sie auf Platz 3 (Quote 7,5), und Luis Cesar Menotti, Argentiniens Weltmeister-Trainer von 1978, traute ihnen immerhin den Gruppensieg am Spielort Queretaro zu.

Schon das Eröffnungsspiel belegte, dass mit dem Anpfiff alles Gerede Schall und Rauch ist. Weltmeister Italien kam in Mexiko City trotz erfreulich offensiven Spiels gegen Bulgarien nicht über ein 1:1 hinaus. Die Bulgaren hatten eigens den nach einer Prügelei „lebenslang“ gesperrten Nasko Sirakov begnadigt, und der bedankte sich mit dem Ausgleichstor, das ganz Italien schockte. Man ahnte schon: Wieder sollte es eine mühsame Vorrunde werden für die Squadra Azzura. Aber wieder sollten sie sich durchsetzen, obwohl sie es noch mit Argentinien zu tun bekamen. Das Spitzenspiel der Gruppe A endete ebenfalls 1:1, und Italien-Legionär Diego Maradona, dem ein Tor gelang, freute sich nachher: „Bisher war noch kein Gegenspieler so fair zu mir.“ Der Star des SSC Neapel bekam es mit Mannschaftskamerad Salvatore Bagni zu tun, und der war sein bester Freund im Verein.