Dunkle Schatten über Spanien

Spanien 1982 war das bisher größte Turnier. Ein Qualitätsmerkmal ist das nicht, nur eine Längenangabe, das erstmals auf 24 Teilnehmer ausgedehnte Turnier dauerte vier Wochen und sah 52 Spiele. Darunter zahlreiche unvergessene Spiele, aber auch das ist eine zweischneidige Aussage. Die deutsche Mannschaft hatte einen wesentlichen Anteil am Bild dieses Turniers, das mit dem Prädikat „nicht schön, aber aufregend“ zu versehen ist. Es bekam mit Italien einen verdienten Weltmeister, der ab der Zwischenrunde voll da war.

Den Weg nach Spanien beschritt keine der 105 gemeldeten Mannschaften so mühelos und zielstrebig wie die deutsche, die alle acht Qualifikationsspiele gewann und sich nach dem EM-Gewinn 1980 offenkundig noch weiter entwickelt hatte. Vor allem war sie weitgehend eingespielt, es gab eigentlich vor dem Abflug nur ein Fragezeichen im Sturm – Fischer oder Hrubesch? Die Abwehr vor Toni Schumacher war unumstritten: Libero Ulli Stielike war der einzige Legionär (Real Madrid), daneben spielten seit über einem Jahr schon Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Hans-Peter Briegel. In Kapitän Karl-Heinz Rummenigge stand Europas Fußballer des Jahres im Sturm.

Und im Mittelfeld konnte Bundestrainer Jupp Derwall lange Zeit gleich unter vier exzellenten Spielmachern wählen: Bernd Schuster, Felix Magath und Hansi Müller bekamen am 29. April 1981 Gesellschaft, als Rummenigges kongenialer Partner bei Bayern München, Paul Breitner, nach sechs Jahren gegen Österreich zurückkehrte.

Daraufhin provozierte Schuster seinen Rauswurf. Deutschland fuhr also ohne seinen „blonden Engel“ zur WM – aber dennoch mit viel Hoffnung. Der Europameister zählte zu den großen Favoriten, neben Brasilien, Argentinien und Spanien.

19 Spieler am Schluchsee

Das kannte die DFB-Auswahl schon, aber einiges war neu. Erstmals seit 1962 ging es zur Vorbereitung nicht nach Malente, sondern in den Schwarzwald. Jupp Derwall ließ auch drei Spieler auf Abruf zu Hause und nahm nur 19 mit an den Schluchsee, darunter jeweils drei Stars der dominierenden Klubs aus Hamburg, München und Köln. Meister HSV und Pokalsieger FC Bayern standen im Mai noch in Europapokalfinals, was zwar ein Gütesiegel für die Bundesliga war, sich aber als Nachteil erwies. Derwall klagte hinterher über eine zu kurze Vorbereitungszeit, die Saison endete erst zwei Wochen vor Turnierstart. Aber „wegen der Endspielteilnahmen von Hamburger SV und Bayern München konnte man von beiden Vereinen nicht verlangen, in dieser Phase Spieler zu Lehrgängen abzustellen.“

Neidisch blickte er da auf die Franzosen, die den Kern des Kaders schon Ende 1981 mitsamt Familien in den Pyrenäen erstmals zusammengezogen hatten. Der spätere Halbfinalist hatte eines der 13 Tickets ergattert, die Europa nunmehr zustanden. Die Sensation ereignete sich in Gruppe 2, wo der Vize-Weltmeister von 1974 und 1978 nur Vierter wurde: Holland verlor das entscheidende Spiel in Paris mit 0:2 und auch Erzrivale Belgien holte einen Punkt mehr.

Dafür hatte England endlich wieder den Weg zur WM gefunden, nach zwölf Jahren Abstinenz. Österreich kam in der deutschen Gruppe auf den rettenden zweiten Platz und war doch unzufrieden. Trainer Karl Stotz wurde gefeuert, der Verband liebäugelte mit HSV-Meister-Trainer Ernst Happel. Aber der DFB hätte zustimmen müssen und gab ihn nicht frei für die WM: „Happel kann nicht samstags Kaltz, Magath und Hrubesch trainieren, um dann eine Woche später auf der anderen Seite zu stehen“, ersparte ihm Neuberger einen Gewissenskonflikt. Happel knurrte: „Ich wundere mich, dass die starken Deutschen protestieren. Wir treffen erst im letzten Gruppenspiel aufeinander. Da ist doch schon alles gelaufen.“

Letzteres sollte sich als kolossaler Irrtum erweisen, der nicht nur einem Ernst Happel unterlief. Nach der Auslosung sah es ja alle Welt so, dass Deutschland seine Gruppe dominieren würde. Wo selbst einer der stets zur Bescheidenheit neidenden Berner Helden wie Jupp Posipal sagte, man könne „morgens gegen Chile und abends gegen Algerien spielen“. Die FIFA hatte es auch sonst gut gemeint mit den Favoriten und sie als Köpfe auf sechs Gruppen verteilt, in der jeweils ein Exot wartete.

Nur El Salvador hatte 1970 schon Erfahrung gesammelt, der Rest aus Topf 4 freute sich auf seine WM-Premiere: Kamerun und Algerien als Vertreter Afrikas, El Salvador und Honduras aus Mittelamerika und Kuwait aus der arabischen Welt.

"Solidarnosc" und Falkland als Nebenschauplätze

Zwei politische Konflikte überschatteten die WM: In Polen führte das Volk einen Freiheitskampf, der Streik der Gewerkschaftsaktivisten von „Solidarnosc“ wurde von der Sowjetunion unterdrückt. Seit Dezember 1981 herrschte Kriegsrecht, die polnische Nationalmannschaft hatte kein Spiel mehr bestritten. Da Polen und die UdSSR in einem Topf waren, konnte es wenigstens in der Vorrunde nicht zu einem brisanten Treffen kommen. Auch Argentinien und England hielt das Setzprozedere auseinander, und das war gut so. Im Atlantik führten ihre Soldaten einen bewaffneten Kampf um ein Eiland: Der Krieg um die Falkland-Inseln forderte knapp 900 Menschenleben und endete erst einen Tag nach der WM-Eröffnung.

Das Turnier zu eröffnen, stand traditionell dem Titelverteidiger zu. Argentiniens Spieler verspürten einen besonderen nationalen Auftrag angesichts der militärischen Niederlage. Doch der Versuch, „wenigstens einen Funken Freude in den grauen Alltag des argentinischen Lebens“ (Osvaldo Ardiles) zu bringen, schlug fehl. Denn erstmals seit 1962 fiel wieder ein Tor im ersten Spiel. Und das für den Außenseiter. Belgiens Vandenbergh traf aus abseitsverdächtiger Position und machte die Sensation perfekt.

Trainer Luis Cesar Menotti beruhigte zwar die Heimat, und die glaubte ihm nach dem 4:1 über Ungarn, der Start sei „nur ein Betriebsunfall“ gewesen. Doch beim 2:0 gegen El Salvador zeigte der Weltmeister wieder sein zweites Gesicht, und Maradona ließ sich gar von einem Edelreservisten von Zweitligist Bayer Uerdingen abkochen. Immerhin reichte es Argentinien zum Weiterkommen, aber die unspektakulären Belgier ließen sich den Vorsprung nicht mehr abnehmen und wurden mit 3:1 Toren Gruppensieger.

Rekordsieg der Ungarn über El Salvador

Die Mannschaft mit den meisten Toren in der Vorrunde fuhr dagegen wie 1978 früh heim: Ungarn nahm immerhin einen WM-Rekord mit, das 10:1 gegen überforderte El Salvadorianer ist bis heute das höchste WM-Ergebnis. Die Argentinien-Gruppe war die der krassesten Gegensätze, die die Fußballwelt damals kannte. Während Maradona sich auf sein künftiges Honorar über umgerechnet 2,6 Millionen Mark im Monat bei Barcelona freute, verdienten die Besten bei El Salvador 700 D-Mark. Nach Berichten über ihre Armut sah sich der Verbandspräsident gezwungen zu erklären: „Alle Spieler haben genügend Geld bekommen, um sich Getränke zu kaufen und in die Heimat zu telefonieren.“

Nicht alle Exoten verdienten Mitleid. In der kuriosen Gruppe 1, in der fünf von sechs Spiele Remis endeten, blieb Kamerun ungeschlagen. Nur weil 1:1 Tore nach FIFA-Arithmetik weniger wert waren als 2:2, war für die Afrikaner das Turnier zu Ende - und für Italien der Weg zum Titel nicht schon früh zu Ende. Hinter Polen, das Peru in 20 furiosen Minuten mit 5:1 zerlegte, belegte Italien Platz zwei.

Italien bleibt ohne Vorrundensieg

Dass diese Mannschaft Weltmeister werden könnte, war nach der Vorrunde freilich nicht abzusehen. Nie zuvor hatte eine Mannschaft ohne Vorrundensieg noch den Pokal gewonnen, aber der Modus erlaubte es der Auswahl Enzo Bearzots, noch zu hoffen. Verärgert über die Falschmeldungen, für ihre drei trostlosen Remis hätte jeder Spieler umgerechnet 140.000 D-Mark bekommen, veranlassten die schon im Torstreik befindlichen Italiener nun noch zu einem Presseboykott. „Silenzio stampa“ nennt der Italiener das, und nur der 40-jährige Torwart-Veteran Dino Zoff fütterte die Medienmeute mit dürren Worten.

Die deutsche Mannschaft hatte ähnliche Probleme, und der DFB bezeichnete es in seiner WM-Analyse als Fehler, mit der Presse in Gijon ein Hotel bezogen zu haben. Aber was sollten die Reporter auch Positives schreiben nach dieser denkwürdigen Vorrunde im Stadion El Molinon von Gijon? Erstmals überhaupt startete Deutschland, am 16. Juni, mit einer Niederlage in ein Turnier. Algerien wurde zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit ein 2:1 geschenkt.

Der Kicker hatte zwar noch in seinem Sonderheft gewarnt: „Zeigt Mut, aber keinen Übermut“, aber das half wenig. „Meine Spieler würden mich für doof erklären, wenn ich ihnen was über die algerische Mannschaft erzählen wollte“, sagte Jupp Derwall im Vorfeld und kündigte an: „Ich fahre mit dem Zug nach Hause, wenn wir verlieren sollten.“

Madjer wird zum Schreck der Deutschen

Die spanischen Zuschauer feuerten nach einer Weile die Algerier an, und nach torloser Hälfte wuchsen die Außenseiter über sich hinaus. Ein Lattentreffer kündigte das Unheil schon an, in der 53. Minute trat es ein - 0:1 durch Madjer, für den sich Jahre später Bayern München interessieren sollte. Dann atmete die Heimat kurz auf: Felix Magath bediente nach 68 Minuten Rummenigge und der drückte den Ball im Spreizschritt ins Tor. Dabei zog er sich eine Verletzung zu, die ihn im ganzen Turnier hemmen sollte – und in diesem Spiel war das Opfer vergeblich. Denn gleich mit dem Anstoß ließen die Algerier den Ball über acht Stationen laufen, und ihr Star Belloumi schoss unbehindert ein. 1:2 – dabei blieb es, und die WM hatte ihre zweite Sensation. Algeriens Trainer Khalef jubelte: „Wir sind nicht die bessere Mannschaft, aber wir haben besser gespielt. Fußball ist keine Wissenschaft.“

Noch am Abend tagte im Hotel „Principe de Asturias“ der Krisenstab: Derwall bat seine Assistenten Erich Ribbeck und Berti Vogts sowie Kapitän Rummenigge zum Gespräch. Rummenigge berichtet in seinem WM-Buch: „Auch wir mussten den Schock erst herunterschlucken, bevor wir unsere Maßnahmen beraten konnten. Ich machte den Vorschlag, gegen Chile mit der gleichen Elf einzulaufen, die gegen Algerien jene 1:2-Suppe eingebrockt hatte.“ So kam es, trotz der Kritik gerade an Paul Breitner, dessen Herausnahme die Presse vehement forderte.

Gegen die Chilenen ging es schon um alles. Auch sie hatten verloren (0:1 gegen Österreich), danach sah man sie betend in einer Klosterkirche. Von einem Erzbischof Asturiens ließen sie sich segnen. Karl-Heinz Rummenigge, der vier fürchterliche Tage voller Selbstzweifel („So deprimiert war ich noch nie, und noch nie stand ich unter einem derart extremen Druck“) erlebte, machte ein Riesenspiel. Er fuhr schon eine Stunde vor der Mannschaft ins Stadion und machte unter Ribbecks Aufsicht Sprints. Es ging, er konnte spielen.