Sechs Deutsche und fünf Österreicher: Feuer trifft auf Wasser

Nie stand ein WM-Turnier unter bedrohlicheren Vorzeichen als 1938 in Frankreich. Noch stand die Welt nicht in Flammen, doch die Glut glimmte schon an vielen Ecken und Enden. In Spanien tobte ein Bürgerkrieg und Deutschland war im März 1938 in Österreich einmarschiert. Der „Anschluss“ ans Reich hatte auch Folgen für die WM, denn Österreich hatte sich qualifiziert und musste nun seine Mannschaft zurückziehen. So kam Schweden, das bereits als Gegner zugelost war, automatisch ins Viertelfinale und musste erst eine Woche nach Turnierbeginn anreisen.

Andere reisten gar nicht an, denn auch vor dieser WM war einigen der Weg zu weit. Besonders die Vertreter Süd- und Mittelamerikas zeigten sich verärgert, dass nach 1934 (in Italien) wieder eine Endrunde in Europa stattfinden würde. So aber wurde es von der FIFA am 5. August 1936 in der Berliner Kroll-Oper beschlossen und Deutschland wurde bei der Gelegenheit gleich die WM 1942 in Aussicht gestellt.

England wieder nicht dabei

Das war ein Affront für die Lateinamerikaner, Argentinien und der erste Weltmeister Uruguay zogen beleidigt zurück. Von 35 weltweit für die Qualifikation gemeldeten Mannschaften traten schließlich nur 27 an und Länder wie Kuba und Niederländisch Indien (heute: Indonesien) gelangten kampflos zu ihrer ersten WM-Teilnahme. Nach dem Ausscheiden Österreichs winkte diese Chance kurzfristig auch England, das nicht mal FIFA-Mitglied war. Das Mutterland des Fußballs sollte quasi eine Green Card erhalten, um so auf 16 Teilnehmer zu kommen. Doch die Antwort aus London war britisch unterkühlt: „Der Monat Mai ist allein der Erholung der wertvollen Ligaspieler vorbehalten“ und „sie sind im Juni – wie alle, die sich am Fußballsport interessieren – fußballmüde.“ England kam also wieder nicht.

Zum Glück gab es andere Ansichten. Brasilien etwa bezog schon ab 22. März mit dem ganzen Kader ein Trainingslager und bereitete sich zehn Wochen auf die WM vor, die wieder eine bessere Europameisterschaft mit drei Farbtupfern (Brasilien, Kuba, Indonesien) war. Favorit war der Titelverteidiger Italien, der 1936 in Berlin auch die olympische Gold-Medaille gewonnen hatte. Von den Siegern anno 1934 waren Trainer Vittorio Pozzo zwar nur Giuseppe Meazza und Giovanni Ferrari geblieben, aber das änderte nichts am Mythos der Unschlagbarkeit. „Eines aber kann gesagt werden: Europas derzeit beste Fußball-Nationalelf und damit heißer Favorit für den Titel ist die squadra azzurra“, schrieb die Fußball Woche.

"Der Reichsführer wünscht ein 6:5 oder 5:6!

Von der deutschen Mannschaft sagten das nicht mal die Instrumente der Nazi-Propaganda. Die Erwartungen waren bescheiden. Denn die hohe Politik hatte die glorreiche, seit Mai 1937 in 16 Spielen ungeschlagene Breslau-Elf gesprengt. Bundestrainer Sepp Herberger wurde von der NS-Regierung gezwungen, die Österreicher zu integrieren. Das WM-System und die Wiener Schule paaren, schien unmöglich. Disziplinierte Kämpfer hier, schlampige Genies da – Feuer traf auf Wasser. Jeder Experte sah das. Doch Herbergers Proteste beim „Fachamt für Fußball“ in Stettin verhallten ungehört. „Seppl, leben Sie denn auf dem Mond? Wissen Sie nicht, was vor sich gegangen ist? Der Reichsführer wünscht ein 6:5 oder 5:6! Die Geschichte erwartet das von uns!“, belehrte ihn Amtsleiter Felix Linnemann in Bezug auf die Aufstellung.

Künftig sollte die Nationalelf also mit sechs Deutschen und fünf Österreichern – oder umgekehrt – spielen. Frustriert kehrte Herberger zurück in die Duisburger Sportschule, wo er nun versuchen musste, aus zwei konträren Fußballschulen eine Siegermannschaft zu machen. Er glaubte selbst nicht daran: „Aus zwei guten mach’ eine Bessere! Oh heilige Einfalt!“, notierte er in seinem Tagebuch, in das auch ein Anflug von Selbstmitleid einfloss: „Ich: so einsam und verlassen auf einem hohen Felsenrand.“

"Verschworene Gemeinschaft" bleibt eine Utopie

Aber nach dem letzten Vorbereitungsspiel gingen selbst ihm die Argumente aus: Am 14. Mai 1938 spielte letztmals die Breslau-Elf – sie unterlag in Berlin England deutlich mit 3:6. „Die deutsche Mannschaft ist zu dem großen Unbekannten der Weltmeisterschaft geworden. So hat das 3:6 gegen England doch noch sein Gutes“, schloss die Fußball Woche etwas eigentümlich.

Fraglos hatte es nie ein Bundes- oder Reichstrainer schwerer gehabt, seinen Kader auf eine WM vorzubereiten. Herberger blieben nur zehn Wochen Zeit, sich auf die neuen Umstände einzustellen. Aus 38 Kandidaten siebte er seinen WM-Kader aus. Am 23. Mai versammelte er 13 Deutsche und neun Österreicher, nunmehr Vertreter der „Ostmark“, in Duisburg. Dort sollten sie zu einer „verschworenen Gemeinschaft“ verschmelzen, nahm sich Herberger fest vor. Doch es fehlte der gute Wille, gegenseitige Ressentiments standen im Raum und wurden nur mühsam abgebaut. „Wir hatten den Eindruck, als Vertreter eines Fußball-Entwicklungslands betrachtet zu werden“, erinnerte sich der Wiener Wilhelm Hahnemann Jahre später deutscher Hochnäsigkeit. Doch dazu waren auch die Österreicher in der Lage.

Zank und Hader am Mittagstisch

Eine Szene aus den ersten gemeinsamen Tagen in Duisburg dokumentiert das Reizklima. Die beiden Gruppen saßen sich auf Holzbänken strikt getrennt gegenüber, jeweils mit dem Rücken zur Wand – und zwischen ihnen die ganze Turnhalle. Da schnappte sich der Wiener Josef „Peppi“ Stroh den Ball und jonglierte ihn minutenlang, ehe er sich unter dem Beifall der Österreicher wieder hinsetzte. „Ja, das kann nur der Peppi“, frozzelten sie.

Schalkes Fritz Szepan ließ das nicht auf sich sitzen, vollführte sogar noch etwas bessere Kunststücke und schloss sie mit einem Vollspannschuss ab, der dicht über den Köpfen der Österreicher einschlug. Dem Donnerschlag folgte Totenstille. „Da habt ihr euer ‚das kann nur der Peppi’“, höhnte Szepan und garnierte seinen Spott noch mit einem deftigen Ruhrpott-Schimpfwort. Sepp Herberger sah die Episode mit Sorge. „Sie war alles, nur keine Hilfe von meinem Kapitän. Statt auszugleichen, goss sie Öl ins Feuer.“

So bat er Szepan zu den Österreichern an den Mittagstisch, „das würde manchem die Schärfe nehmen.“ Und was passierte? „Schon wieder Kartoffeln, das ess’ ich nicht“, jammerte Stroh und Szepan schlug auf den Tisch: „Dann sagt doch, wenn ihr eure Mehlspeis wollt. Man kocht sie euch, nur das Meckern muss aufhören.“ Nein, elf Freunde konnten sie nicht sein, wenn schon am Mittagstisch Zank und Hader war. Unter diesen Vorzeichen ging die „Großdeutsche Mannschaft“ in eine WM, wo sie im Achtelfinale auf die Schweiz traf.

Überzählige Spieler bleiben in Deutschland

Weil Deutschland 1938 ein devisenarmes Land war, wurde angeordnet, in Frankreich kein Quartier zu beziehen, sondern mit dem Zug anzureisen. Und das nur mit dem engsten Kreis.

So machten sich am 2. Juni nur 15 Spieler, Herberger, ein Funktionär und der Masseur „Tute“ Lehmann auf die Bahnreise gen Paris. Selbst in Zeiten einer gleichgeschalteten Presse erregte dies öffentlichen Unmut. Die Fußball Woche schrieb: „Dass man die anderen aber in Duisburg zurückließ, statt ihnen Gelegenheit zu geben, den Kampf in Paris zum mindesten mitzuerleben, das vermögen wir nicht zu fassen. Ein geschlossener, einheitlich funktionierender Körper sei unsere Weltmeisterschafts-Vertretung, hatten wir geglaubt. Schade, dass wir uns darin geirrt hatten.“

Sechs deutsche und fünf Österreicher gegen elf Schweizer

Fritz Szepan fuhr nur als Reservist mit, was quasi Tribüne bedeutete, da Auswechseln nicht erlaubt war. Doch da Herberger nicht alleine entscheiden durfte über die Aufstellung, sondern sie dem Fachamtsleiter vorlegen musste, musste es Alternativen geben. Angeblich dauerten die Diskussionen im Hotel Littre am Pariser Bahnhof Montparnasse bis tief in die Nacht vor dem Spiel hinein.

Heraus kam eine Elf, die so noch nie zusammengespielt hatte. Kapitän war Johann Mock von Austria Wien – und das bei seinem Länderspiel-Debüt. Es war fatal: Sechs deutsche und fünf Österreicher kämpften gegen elf Schweizer und gegen die 30.000 Zuschauer im Pariser Prinzen-Park, wie sich bald herausstellte. Hitlers Expansionspolitik kostete im benachbarten Ausland viele Sympathien, schon einige der 2000 in Sonderzügen angereisten Schlachtenbummler wurden in Paris angefeindet und bespuckt. Als die Mannschaft einlief, flogen Flaschen, Eier und Tomaten. Ein unwürdiger Rahmen für ein WM-Eröffnungsspiel, dessen Verlauf auch keinen Beifall weckte.