Der Europameister wird erstmals Weltmeister

Im Wettkampf um die WM 2006 war Südafrika im Juli 2000 nur um eine Stimme Ausrichter Deutschland unterlegen gewesen. So war es keine allzu große Überraschung, dass die FIFA die Bewerbung des Landes für die WM 2010 im zweiten Anlauf annahm. Am 14. April 2004 verkündete FIFA-Präsident Josef Blatter in Zürich die historischen Worte: "The FIFA World Cup 2010 will be organised in South Africa." In der von Nelson Mandela angeführten Delegation brach großer Jubel aus, den ein ganzes Land teilte – erstmals war eine Weltmeisterschaft nach Afrika vergeben worden.

Letzteres war schon nach der Wahl für 2006 festgelegt worden, die Frage war nur: Welches Land? Marokko unterlag in der Abstimmung mit 10:14, der dritte Bewerber Ägypten ging völlig leer aus.

Je näher die WM kam, desto kritischer wurden die Berichte vorwiegend in europäischen Medien. Kann ein Land in dem Armut grassiert und Kriminalität den Alltag bestimmt, eine WM mit 32 Mannschaften ausrichten? Werden die Stadien – insgesamt waren es zehn in neun Städten – rechtzeitig fertig? Funktioniert das Internet, damit die Journalisten aus aller Welt ihre Berichte schicken können? Kommt man sicher von A nach B oder ist überall mit Wegelagerern zu rechnen?

"Von Fahrten mit dem öffentlichen Personennahverkehr wird abgeraten", schrieb der Kicker in seinem WM-Sonderheft und ergänzte: "Fahrzeugentführungen stellen besonders in den Großstädten eine Gefahr dar." Der damalige Bayern-Präsident Uli Hoeneß nannte die WM-Vergabe an Südafrika noch im Januar 2010 "einen der größten Fehler der FIFA" und kündigte an, nicht zu kommen "solange Sicherheitsaspekte nicht zu 100 Prozent geklärt sind". Zeitungen veröffentlichten Statistiken, wonach in Südafrika täglich 50 Menschen ermordet werden würden, in einem Ranking der gefährlichsten Länder der Welt landete der WM-Ausrichter auf Platz zehn. Franz Beckenbauer, Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees, beschwichtigte auf seine Art: "Hundertprozentige Sicherheit gibt's nirgends, auch nicht bei uns in Deutschland."

Sicher war dagegen, dass die WM allen Unkenrufen zum Trotz in Südafrika stattfinden würde, auch die bei fast jeder WM obligatorischen Bauarbeiter-Streiks bei der Errichtung der Stadien konnten das nicht verhindern. Und über 370.000 Fußball-Fans aus aller Welt ließen sich die Vorfreude auf die 19. WM der Historie nicht nehmen und reisten in das Land, dessen Küsten den Indischen und den Atlantischen Ozean säumen.

Umfangreichste Qualifikation aller Zeiten

Vorausgegangen war die umfangreichste Qualifikation aller Zeiten, an der sich exakt 200 Länder beteiligten, auch Gastgeber Südafrika – aber nur, weil parallel die Teilnahme am Afrika-Cup ermittelt wurde. Die WM-Qualifikation begann am 26. August 2007 in Ozeanien, die Fidschi-Inseln gewannen auf Tuvalu 16:0 – und schafften es doch nicht zur Endrunde. Ozeaniens Platz bekam erstmals seit 1982 wieder Neuseeland, Australien guckte in die Röhre. Afrika war erstmals durch sechs Länder vertreten. Den Löwenanteil bekam wie üblich Europa (13 Länder), am Ende war der alte Fußball-Adel vollständig vertreten. Deutschland blieb in seiner Sechser-Gruppe ungeschlagen, hatte aber in Russland einen zähen Widersacher, der erst nach einem gefühlten Finale um den Gruppensieg in Moskau (1:0) abgeschüttelt war.

Überhaupt fehlte kein Ex-Weltmeister in Südafrika, auch Frankreich hatte seine Krise leidlich überwunden. Dennoch stand die "Equipe tricolore" wieder im Fokus internationaler Kritik, weil sie nur durch ein skandalöses Tor in den Play-offs gegen Irland nach Südafrika kam. Thierry Henry hatte es mit der Hand vorbereitet und sich im Konflikt zwischen Fair Play-Gedanken und Patriotismus für letzteres entschieden. Wer immer in dieser Situation eine Selbstanzeige vom Weltstar Henry erwartet hatte, war vermutlich nie in seiner gewesen. Erst nach dem Spiel in Paris gestand er: "Ich will ehrlich sein, das war ein Handspiel." Die von Giovanni Trapattoni gecoachten Iren blieben zu Hause, ihr Trainer zürnte: "Ganz Europa hat den Betrug gesehen."

Mit Kroatien, Russland, Tschechien und Schweden blieben Teams auf der Strecke, an deren Anwesenheit bei Endrunden man sich gewöhnt hatte, dafür war mit der Slowakei ein einziger Neuling in einem der vier Lostöpfe bei der Prozedur am 9. Dezember 2009 in Kapstadt.

DFB-Team gegen Australien, Serbien und Ghana gefordert

Deutschland erhielt mit Australien, Serbien und Ghana nominell eine leichte Gruppe, die freilich eine pikante Note enthielt. Das erste Bruder-Duell der WM-Historie zeichnete sich ab: Jérome gegen Kevin-Prince Boateng. Der ältere der Brüder hatte sich für Ghana entschieden und sollte im Vorfeld des Turniers für noch mehr Gesprächsstoff sorgen. Am Tag, als in Deutschland das Pokalfinale zwischen dem neuen Meister Bayern München und Werder Bremen stieg, ermittelten auch die Engländer ihren Pokalsieger. Außenseiter FC Portsmouth traf auf den FC Chelsea und Kevin-Prince Boateng auf DFB-Kapitän Michael Ballack. In der 38. Minute des Finales von Wembley traf Boateng den DFB-Kapitän nach einer rüden Attacke am Knöchel, was Ballack die WM-Teilnahme kostete. Zwei Tage nach dem Foul kam die ernüchternde Diagnose: Innenbandriss im Sprunggelenk, Teilabriss des Syndesmosebandes. An Krücken humpelte Ballack aus der Klinik von Dr. Müller-Wohlfahrt, vor der die Kamerateams warteten. Die Empörung war groß, die ARD sendete einen "Brennpunkt". Schlichte Geister sahen im Foul eine gezielte Attacke, um einen WM-Gegner zu schwächen und Ghanas Verband entschuldigte sich offiziell beim DFB.

Bundestrainer Löw ereilte die Nachricht im Regenerationscamp auf Sizilien. Exakt vier Wochen vor dem ersten Spiel in Südafrika musste er sein Konzept ändern. In der Öffentlichkeit sank die Zuversicht rapide. "Ohne Ballack – ohne Chance?", fragte der Kicker. Das Unglück erleichterte Löw immerhin die Wahl der Streichkandidaten, von denen es bis zum Meldeschluss noch drei gab. Auch der Stuttgarter Christian Träsch und Schalkes Heiko Westermann verletzten sich noch während der Vorbereitung, so dass es letztlich nur einen Überzähligen gab: Der Hoffenheimer Andreas Beck verpasste den Flieger nach Südafrika im letzten Moment.

Der hob am 6. Juni 2010 in Frankfurt ab. An Bord war die drittjüngste aller 32 Mannschaften (Schnitt 24,96) und die zweitjüngste der WM-Historie des DFB. "Bundesjugendspiele in Südafrika", titelte die Welt süffisant. Der 28-köpfige Begleittross war noch ein Stück weit größer als der Spieler-Kader.

Im Hotel "Velmore Grande" wartete schon ein "Funpark" auf die Hoffnungsträger der Nation. Billard, Darts und Tischtennis sowie die Segnungen der modernen Technik sollten jeden Anflug von Langeweile vertreiben und zur allgemeinen Erleichterung ging auch das Internet. Eine Woche mussten sie noch warten, ehe es anfing.

Gastgeber Südafrika verpasst Auftaktsieg nur knapp

Der Auftakt der ersten WM auf afrikanischem Boden war dem Gastgeber vorbehalten und der schlug sich wacker. Mancheiner hatte der "Bafana bafana" ein blamables Abschneiden prophezeit, doch nun hatte sie schon einen Punkt mehr als viele dachten. Ein gewisser Siphiwe Tsabalala erzielte gegen Mexiko das erste Tor der WM, das in seiner Schönheit zu der "zauberhaften Eröffnung" (FAZ) passte. Der Auftakt im Soccer City-Stadium zu Johannesburg war schon mal gelungen, zur Perfektion fehlte den Gastgebern nur ein Sieg. Aber der Mexikaner Marquez gab mit seinem späten Ausgleichstreffer den ersten Spielverderber. "Wir haben jetzt ein Gesicht", sagte Südafrikas stolzer Trainer Carlos Alberto Parreira.

Der Brasilianer betreute bereits seine fünfte Mannschaft bei einer WM. 83.548 Zuschauer verließen das Soccer City-Stadion, um auf den Straßen weiter zu feiern. Keinen Sieg zwar, aber doch das Glück, dass die Welt des Fußballs auf ihr Land schaute. "Dies ist eine afrikanische WM, Afrikas Zeit ist gekommen", sagte Staatspräsident Jacob Zuma bei der Eröffnung. Dazu gehörte auch die Vuvuzuela, "das lärmende Folterinstrument" (FAZ), an das sich europäische Ohren während der vier Wochen nie gewöhnen konnten. Proteste, auch von Aktiven und TV-Anstalten, bügelte die FIFA ab. Josef Blatter sagte: "Das wäre ja diskriminierend." Der Sound der WM (bis zu 140 Dezibel) war das Gesprächsthema der ersten Tage, dann ergaben sich andere Themen.

Die Franzosen lieferten das meiste Futter. In Gruppe A war der Vize-Weltmeister Favorit, aber den Status büßte er schnell ein. Beim 0:0 gegen Uruguay holten sie ihren ersten und einzigen Punkt, schon da aber mäkelte Trainer Raymond Domenech: "Das Niveau ist enttäuschend gewesen." Dann überschlugen sich die Ereignisse. In der Halbzeit des Spiels gegen Mexiko nannte Stürmer Victor Anelka seinen Trainer, der mehr Einsatz gefordert hatte, einen "Hurensohn", was mit Auswechslung und Suspendierung geahndet wurde. Der Vorfall stand umgehend in der größten französischen Sportzeitung L'Equipe. Kapitän Patrice Evra nahm eine eigenwillige Position ein: "Das Problem ist nicht Anelka, es ist der Verräter, den müsste man ausschließen."

Am 20. Juni schrieben die Franzosen dann ein besonders unrühmliches Kapitel WM-Geschichte. Die Mannschaft bestreikte das Training aus Protest über Anelkas Rauswurf und die Indiskretion, die sie einem Mitglied des Trainerstabs zutraute. Der düpierte Raymond Domenech verlas vor Dutzenden Reportern die Erklärung der Spieler. Der Kernsatz lautete: "Alle Spieler der der französischen Mannschaft wollen ohne Ausnahme ihre Opposition gegen den vom französischen Fußball-Verband beschlossenen Ausschluss von Nicolas Anelka bekannt geben."

Im Hintergrund gerieten derweil Evra und ein Fitnesstrainer aneinander. Vor aller Welt blamierten sich die Franzosen, deren Delegationsleiter schon nach dem zweiten Spiel abreiste. "Ich fliege nach Paris. Ich bin angewidert. Was hier passiert, ist ein Skandal für den Verband, für die Mannschaft, für das ganze Land", sagte Monsieur Valentin. Die Mannschaft folgte ihm nur drei Tage später, nachdem sie auch das Spiel der letzten Chance in den Sand setzte. Gastgeber Südafrika, der zuvor Uruguay 0:3 unterlegen war, kam zu seinem historisch ersten WM-Sieg überhaupt (2:1) und schied erhobenen Hauptes bei seiner eigenen WM aus. Das Torverhältnis sprach zugunsten Mexikos. Zwar schied tatsächlich erstmals ein Gastgeber schon nach der Vorrunde aus, aber niemand sprach von Blamage. Trainer Parreira fand Beifall, als er bilanzierte: "Ich bin stolz auf meine Jungs, sie haben das ganze Land stolz gemacht."

Stars in Gruppe B sitzen auf den Trainerbänken

Auch in Gruppe B hatte die afrikanische Mannschaft das Nachsehen. Mit Nigerias ruhmlosen Scheitern – nur ein Punkt gegen Südkorea – war nicht zu rechnen gewesen. Dass Argentinien alle Spiele gewann, verwunderte dagegen niemanden. Selbst mit der Reserve kamen sie gegen Griechenland noch zu einem 2:0, was die Griechen das Weiterkommen kostete. Wie zuletzt 2002 erreichten so die Südkoreaner das Achtelfinale.

Die Stars dieser Gruppe saßen auf den Trainerbänken. Argentinien hatte seine Auswahl in die Hände von Diego Maradona gegeben, der als Trainer keine Erfahrung hatte und von seinem Ruf als Spieler-Legende lebte. Er fiel vor allem durch Rumgehampel auf, warf sich auf den Boden und wurde zum "Rumpelstilzchen im Maßanzug" (stern.de). Nach dem Gruppensieg nutzte er die Pressekonferenz zu einem Rundumschlag gegen Schiedsrichter, den WM-Ball Jabulani ("Er geht nie dorthin, wohin er soll"), andere Mannschaften und natürlich die Medien: "Ihr solltet euch bei den Spielern entschuldigen." Gelassen verfolgte sein Kollege die Ausführungen, es schien die letzte Pressekonferenz seiner Karriere zu sein. Otto Rehhagel hatte den Griechen immerhin ihren ersten Sieg bei einer WM (2:1 gegen Nigeria) geschenkt, aber nach dem Aus in der Vorrunde trat er zurück. Mit einem Rekord – mit 71 Jahren avancierte der Deutsche zum ältesten WM-Trainer aller Zeiten. Die griechische Zeitung Sportday schrieb: "Danke Otto! Mit dir haben wir Griechen gelernt, wozu wir fähig sind."

In Gruppe C fielen nur neun Tore, dabei hatte sie die schlechtesten Torhüter. Topfavorit England wechselte schon nach dem ersten Auftritt gegen die USA (1:1) seine Nummer eins, Robert Green wurde sein Patzer beim amerikanischen Ausgleich zum Verhängnis. Algeriens Torwart Faouzi Chakoui fiel gar in der Kabine vor seinen Kameraden auf die Knie und bat um Verzeihung für seine missglückte Abwehr eines Aufsetzers, der Slowenien den Sieg brachte. Die mit drei Bundesligaspielern angetretenen Slowenen feierten so bei ihrer WM-Premiere gleich einen Sieg (1:0).

Noch eine Premiere gab es an diesem 13. Juni in Polokwane: Der zweite Spieltag brachte keine Sieger, Slowenien verspielte eine 2:0-Führung gegen die USA, zwischen England und Algerien fielen gar keine Tore. Über die Briten ergoss sich der Spott der Heimat-Medien. "Capellos Flops verdienen es nicht, dieses Trikot zu tragen", schrieb der Mirror, während der italienische Trainer der "Three Lions" Fabio Capello auf Distanz ging: "Das ist größtenteils die Mannschaft, die in der Qualifikation sehr gut gespielt hat. Ich weiß nicht, was seitdem passiert ist."

Nach Abpfiff in Kapstadt ergab sich noch eine Posse, die kein gutes Licht auf die WM-Gastgeber warf. Von keinen Sicherheitskräften gehindert, betrat ein englischer Fan die Kabine der Mannschaft. David Beckham, mittlerweile Co-Trainer, fragte ihn, was er da zu suchen habe. Ehrliche Antwort des Eindringlings: "Ich bin Pavlos, und ich muss auf Toilette." Die Ordner hatten ihm den Weg nicht weisen können, also suchte er sich seinen eigenen. Die FIFA bedauerte den Vorfall, der letztlich harmlos war. Auch wenn Pavlos die Chance nutzte, seine Meinung über das schwache Spiel loszuwerden. Die Spieler hatten ja auch geschimpft, Wayne Rooney reagierte bitter auf die Pfiffe: "Toll, wenn einen die eigenen Fans ausbuhen. So sieht bedingungslose Unterstützung aus."

Den Frieden im englischen Quartier rettete am letzten Spieltag, vor dem noch alle Teams hofften, Jermaine Defoe. Der dunkelhäutige Stürmer erzielte das Tor des Tages gegen Slowenien, was England ins Achtelfinale brachte. Capello war endlich mal zufrieden: "Das ist das, was ich sehen wollte."

Den Gruppensieg aber stahl ihnen der Ex-Münchner Landon Donovan, der im Parallelspiel gegen Algerien in der Nachspielzeit das 1:0 für die USA erzielte. Es zerstörte Algeriens kleine und Sloweniens große Chancen aufs Weiterkommen. Auf der Tribüne in Pretoria jubelte auch Ex-Präsident Bill Clinton, der pathetische Worte fand: "Es war phantastisch. Vieles hängt vom Kopf ab, wie bei Wahlen oder bei Kriegen. Sie sind mental spitze, haben viel Herz gezeigt und das richtig gut gemacht." USA Today drückte es weniger kriegerisch aus: "Dieses Team verkörpert den Spirit des amerikanischen Volkes."

Deutschland muss um Gruppensieg zittern

Während Algerien ohne Tor nach Hause fuhr, kam Afrikas Vertreter in Gruppe D weiter – Ghana. Der Sieg ging erwartungsgemäß an die Deutschen, aber ohne Zittern ging es nicht.

Dabei startete die Löw-Mannschaft furios ins Turnier und wurde über Nacht zum Mit-Favoriten. Australien war sicher nicht der ganz große Maßstab, aber während andere europäische Top-Teams Akklimatisierungsprobleme im südafrikanischen Winter offenbarten, waren die Deutschen auf den Punkt fit. Mit fünf Spielern, die ihr WM-Debüt gaben, lief die Mannschaft auf. Die ersten Tore aber gingen auf das Konto des WM-Sturms von 2006: Lukas Podolski und Miroslav Klose sorgten für ein beruhigendes 2:0 zur Pause. Thomas Müller, einer von fünf Bayern-Spielern, entschied die Partie in der 68. Minute, in der der Stuttgarter Cacau eingewechselt wurde. Zwei Minuten später stach der Joker zum 4:0-Endstand. Alle Tore waren herausgespielt, der Bremer Mesut Özil hatte zwei aufgelegt. Und Ballack-Vertreter Sami Khedira ließ den Kapitän fast schon vergessen sein.

Cacau ist in Brasilien aufgewachsen, Özil hat türkische Eltern, Khediras Vater ist Tunesier. Das Multi-Kulti-Element prägte diese junge deutsche Mannschaft und verschaffte ihr zusätzliche Sympathien in der Welt, die ohnehin aus dem Staunen nicht heraus kam. "Das neue Deutschland schickt die Fantasie an die Macht", schrieb eine italienische Zeitung und eine dänische fragte: "Bisher war die deutsche Adelsmarke die Fähigkeit zu Erfolg ohne Schönheit. Was soll nun werden, wenn es jetzt auch noch Spaß macht, den Germanen zuzuschauen?" Joachim Löw blieb sachlich: "Es ist wichtig, das Auftaktspiel gewonnen zu haben, aber es ist noch ein weiter Weg." Offenbar schien er geahnt zu haben, dass es so leicht nicht mehr werden würde. Dem Triumph von Durban folgte fünf Tage später der Reinfall von Port Elizabeth. Dort trafen sie auf Serbien, das zuvor gegen Ghana 0:1 verloren hatte und schon um seine letzte Chance kämpfte.

Obwohl Löw dieselbe Startelf ins Rennen schickt, ist alles anders an diesem 18. Juni. Die Serben halten die Partie offen und nutzen die Chancen, die sich ihnen bieten. Als Miroslav Klose nach Spielverzögerung und einem Foul im Mittelfeld schon in der 37. Minute vom Platz flog ("Ich bin todtraurig"), folgt eine Minute später der zweite Nackenschlag. Jovanovic glückt die serbische Führung, die der 2,02 Meter lange Zigic per Kopf vorbereitete. Trotz Unterzahl spielten sich die Deutschen etliche Ausgleichschancen heraus, Sami Khedira traf nur die Latte.

Und in der 60. Minute krönte Lukas Podolski den deutschen Pech-Tag und verschoss einen Elfmeter - es war erst der dritte Fehlschuss bei einer WM in dieser deutschen Domäne. Fertig war die Niederlage und nun kam es zum "Endspiel, das keiner wollte" (Kicker) gegen Ghana. Die Afrikaner versäumten es, sich vorzeitig zu qualifizieren. Obwohl 65 Minuten in Überzahl, spielten sie nur 1:1 gegen Australien. "Das war Leidenschaft, echte Leidenschaft!", schwärmte der Sydney Morning Herald über den Auftritt der "Socceroos", die sich eine kleine Chance offen hielten.

In deutschen Wohnstuben und Büros wurde eifrig gerechnet: Ein Sieg brächte Platz eins, eine Niederlage das Aus. Aber was ist bei Remis? Bei einem serbischen Sieg gegen Australien wäre es zu wenig. Günter Netzer beschwor in seinem Kommentar in der Bild am Sonntag die deutschen Tugenden: "Immer, wenn es am schwierigsten war, haben wir Charakter und Fähigkeiten gezeigt, um alles positiv zu drehen! Wir haben eine Mannschaft, die für solche Situationen besser ausgerüstet ist als andere Nationen."

Aber Löw musste sie ändern. Für den gesperrten Klose gab der Stuttgarter Cacau sein Startelf-Debüt und Linksverteidiger Holger Badstuber wurde als einziger geopfert. Philipp Lahm wechselte von rechts auf links und ausgerechnet Jérome Boateng kam neu in die Startelf und somit auch das erste Bruder-Duell der WM-Historie zustande. Noch einmal wurde die Ballack-Affäre in den deutschen Medien aufgewärmt, Jérome warb um Verständnis für seinen Bruder: "Kevin ist auch nur ein Mensch, der Fehler macht. Er hat das nicht mit Absicht getan."