Deutschland - ein Sommermärchen

Im Jahre 1844 schrieb Heinrich Heine sein anrührendes Reisegedicht „Deutschland – Ein Wintermärchen“. Es handelt von einer unerfüllten Liebe und zugleich der Liebe zu seinem Land, das er nach einjährigem Exil wieder besuchte. Es ist heute noch ein Begriff und zumindest in literarischen Zirkeln bestens bekannt. Von Fußball handelte es nicht. Wie auch? Es war noch lange nicht die Zeit da ein Ball alle Welt in seinen Bann zu ziehen vermochte. 2006 erlebte Deutschland sein Sommermärchen und dieses Etikett ist Menschen in aller Welt bis dato ein Begriff, wie belesen sie auch sein mögen.

Es hatte keinen Dichter, aber viele Schöpfer und tausende Darsteller. Der Regisseur Sönke Wortmann gab seinem erfolgreichen Dokumentationsfilm über die aufregenden WM-Tage im Kreise der deutschen Mannschaft diesen Titel, der längst für das gesamte Turnier steht. Die 18. Fußball-Weltmeisterschaft übertraf auch fernab des Sportlichen alle Erwartungen. Kicker-Chefredakteur Rainer Holzschuh muss über seherische Fähigkeiten verfügt haben, als er im Sonderheft vor dieser WM schrieb: „Diese WM 2006 wird eine große, eine fantastische WM. Womöglich eine Kult-WM!“

Das wurde sie, denn sie erreichte ein wahrlich lohnendes Ziel: Fußball als Völker verbindendes Element, wohl nie hat es eine bessere Demonstration dieses Anspruchs gegeben. Die Gründerväter der WM-Idee würden sich bestätigt gesehen haben in jenem deutschen Sommer: Gemeinsam auf den Straßen beim Public Viewing in den WM-Städten feiernde Gäste aus 31 Nationen, die von den Gastgebern überaus freundlich aufgenommen wurden, prägten diese Weltmeisterschaft. Es war ein überwiegend friedliches Fest, zu dem auch der Himmel lachte – vier Wochen Sonnenschein. „So stellt sich der liebe Gott die Welt vor“, sagte Franz Beckenbauer, der als OK-Chef in jenen Tagen mit dem Helikopter durch die Lande flog und wirklich jedes Spiel sah, das möglich war. Nur ein Mal fehlte er – um zu heiraten. Fußball ist eben doch nicht alles.

14 Jahre Vorlauf hatte die deutsche Bewerbung um die zweite WM-Endrunde (nach 1974) genommen. Am 22. September 1992 hatte der DFB beschlossen, sich um die WM 2006 zu bewerben, am 1. Juni 1993 wurde die FIFA offiziell informiert. „Wir ermitteln den erklärten Wunsch von 5,3 Millionen Mitgliedern im DFB, aber auch den Wunsch unseres Landes, nach der Weltmeisterschaft 1974 und der Europameisterschaft 1988 zum dritten Mal eine außergewöhnliche Veranstaltung für die große Familie des Fußballs durchführen zu dürfen“, schrieb DFB-Präsident Egidius Braun an Fifa-Präsident Joao Havelange. Als am 6. Juli 2000 in Zürich die Entscheidung fiel, war Havelange nicht mehr an der Macht, sein Nachfolger Josef Blatter hatte übernommen. Er durfte dann auf Englisch die legendären Worte sagen: „And the winner is…Deutschland!“

"Die Welt zu Gast bei Freunden"

Damit hatten sich die immensen Anstrengungen des DFB, dessen Bewerbung 37 Kilogramm wog (1200 Seiten) und insbesondere die von Globetrotter Beckenbauer, bezahlt gemacht. Der hatte im Mai 2000 sogar die Meisterschaft seines FC Bayern, dessen Präsident er war, verpasst, weil er in Samoa auf Stimmenfang war. Letztlich bekam Deutschland eine hauchdünne Mehrheit von 12:11 Stimmen. So durfte sich Fußball-Deutschland in der Stunde tiefster Erniedrigung, gerade war man in der EM-Vorrunde ausgeschieden, aus vollem Herzen freuen. Beckenbauer sagte: „Ich bin überglücklich. Eine WM organisieren, das kannst Du nur einmal im Leben.“ Und wieder ging er auf Weltreise. Sobald das Teilnehmerfeld feststand, besuchte er binnen sechs Monaten 31 Länder, um sie persönlich nach Deutschland einzuladen. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ war das Motto dieser WM und Franz Beckenbauer lebte es glaubwürdig vor.

Fast drei Jahre lang wurden die Gäste ermittelt. Schon im September 2003 wurden in Südamerika die ersten Qualifikationsspiele ausgetragen. Kein Wunder, diesmal wollte wirklich fast die ganze Welt dabei sein, nur sieben von 204 Verbänden gaben keine Bewerbung ab. Erstmals war der Titelverteidiger nicht automatisch qualifiziert, aber Brasilien schaffte es auch zum 18. Mal – also wie immer – dabei zu sein. Argentinien, Ecuador und Paraguay folgten im Schlepptau des Weltmeisters. Uruguay blieb diesmal auf der Strecke und unterlag Ozeanien-Sieger Australien, das nach 1974 wieder zu einer WM fuhr. Immer in Deutschland durften die „Socceroos“ dabei sein.

Nord- und Mittelamerika entsandte mit den USA und Mexiko seine Dauerbrenner, Costa Rica meldete sich zum dritten Mal – und Exot Trinidad/Tobago war ein Debütant besonderer Art. Die Karibik-Insel war das kleinste Teilnehmer-Land der WM-Geschichte; 1,088 Millionen Einwohner fieberten mit den „Soca warriors“, die in Leo Beenhakker einen niederländischen Trainer hatten.

Alle Top-Teams in Deutschland dabei

Europa stellte inklusive Deutschland 14 Teilnehmer. Alle großen Namen waren dabei: England, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal die Holländer. Dennoch änderten sich die Machtverhältnisse auf dem Kontinent, wo plötzlich Länder wie Kroatien, Serbien-Montenegro oder die Ukraine als Gruppensieger firmierten. Lange Gesichter gab es in der Türkei. Der WM-Dritte von 2002 scheiterte in zwei von Ausschreitungen überschatteten Entscheidungsspielen an der Schweiz. Tschechien kam durch die Hintertür gegen Norwegen zur WM, Nachbar Polen nahm den Haupteingang. Ebenso wie die Schweden, die die meisten Tore (30) aller Qualifikanten in Europa erzielten.

Afrika erhielt erneut fünf Startplätze und entsandte neben Tunesien noch vier absolute WM-Neulinge: in Togo, der Elfenbeinküste, Ghana und Angola. Togo reiste mit einem deutschen Trainer zur WM, Otto Pfister übernahm noch 111 Tage vor der Endrunde das Amt und sollte einige Kapriolen erleben. In Asien setzten sich in Saudi-Arabien, Südkorea, Japan und Iran ausnahmslos Länder mit WM-Erfahrung durch, während dem Bahrain in den Ausscheidungsspielen mit Trinidad seine Premiere versagt blieb.

Der deutschen Mannschaft blieb die Last einer Qualifikation erspart und der neue Trainer Jürgen Klinsmann nutzte die zweijährige Vorbereitungszeit zum Experimentieren. 37 Spieler setzte der Weltmeister von 1990 ein, darunter elf Debütanten. Überhaupt standen mit seinem Amtsantritt die Zeichen mehr denn je nach einem Trainerwechsel auf Veränderung. Jeden Stein wolle er umdrehen und alles hinterfragen, kündigte Klinsmann kämpferisch an. Noch besser gefiel den Fußballfreunden im Land, was der Nachfolger Rudi Völlers am 29. Juli 2004 bei seiner Vorstellung sagte: „Die Fans haben den Wunsch und die große Hoffnung, dass wir 2006 im eigenen Land Weltmeister werden. Das ist auch meine Zielsetzung.“ Mutige Worte nach einem erneuten Aus in der Vorrunde einer Europameisterschaft, Titel-Träume in der Stunde Null. Doch Klinsmann ging ans Werk. Geradlinig und kompromisslos.

Amerikanische Fitnesstrainer brachte der Wahl-Kalifornier mit, sein früherer Sturmpartner Oliver Bierhoff übernahm den neugeschaffenen Posten des Managers, ein Psychologe wurde eingestellt, man trennte sich von Torwarttrainer Sepp Maier. Auch die Torwarthierarchie hinterfragte Klinsmann, was schon mit der Absetzung Kahns als Kapitän deutlich wurde.

Nun führte Michael Ballack die Mannschaft ins Spiel. Und zuweilen trug sie rote Trikots. Ein Bruch mit der DFB-Geschichte und äußeres Zeichen für die neue Zeitrechnung. Alle sollten sehen: Deutschland spielt künftig wieder aggressiv und auf Sieg. Und das mit Tempo. Analysen hatten ergeben, dass der deutsche Fußball zu langsam war im internationalen Vergleich, zu viele Ballkontakte gingen dem Spiel in die Spitze voraus. Das wollte der Reformer ändern und an seiner Seite stand der Mann für die Taktik: Joachim Löw, dem er im Juli 2004 24 Stunden Bedenkzeit gab, sein Assistent zu werden. Der heutige Bundestrainer ließ sich nicht lange bitten. Erfolge zeichneten die ersten Monate der Klinsmann-Ära aus. Das Auftreten war in der Tat ein anderes und schwungvolle Typen wie Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski verkörperten das neue Selbstvertrauen.

Confed Cup lässt Vorfreude wachsen

Bei der WM-Generalprobe, dem Confed Cup 2005, glückte auch der Schulterschluss mit dem Publikum und der dritte Platz mit beachtlichen Spielen die Fußballmächte Argentinien (2:2) und Brasilien (2:3) wurde allseits bejubelt. Die Vorfreude wuchs und konnte auch von Bedenkenträgern der Stiftung Warentest, die im Januar 2006 vier der 12 WM-Stadien Sicherheitsmängel attestierten, nicht gebremst werden.

Doch ausgerechnet im WM-Jahr gab es erste sportliche Rückschläge: die sich bisher auf Nebensächlichkeiten wie Klinsmanns häufige Abstinenz – Huntington Beach blieb sein Hauptwohnsitz – konzentrierende Kritik nahm bedenkliche Ausmaße an, als die Mannschaft am 1. März 2006 in Florenz Italien 1:4 unterlag. Einige hatten es schon vorher gewusst: Zehn Spieler standen in Klinsmanns Kader, die in ihren Vereinen aus den verschiedensten Gründen nicht zu den Stammskräften zählten. „Nationalteam der Reserve“ titelte die Welt am Sonntag einen Vorbericht auf das Florenz-Fiasko, nachdem sich Abgeordnete aus dem Deutschen Bundestag zu Wort meldeten. Vertreter aller Parteien forderten Klinsmann auf, „dem Sportausschuss zu erklären, wie er Weltmeister werden will.“

Debatten um den richtigen Sportdirektor – Klinsmann wollte Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters installieren, der DFB setzte Matthias Sammer durch – und verärgerte Spieler wie der ausgeladene Christian Wörns, trübten die Vorfreude auf die WM. Als Klinsmann dann einem WM-Workshop fernblieb, zu dem alle 31 Trainer der Gastländer erschienen waren, tobte auch der Kaiser. Franz Beckenbauer: „Der Bundestrainer des Gastgeberlandes hätte da sein müssen. Das ist überhaupt keine Frage, das ist ein Pflichttermin und so viele Pflichten hat er ja nicht.“

Das Presseecho im März 2006 war verheerend. Im Focus schrieb Chefredakteur Helmut Markwort: „Die besten Fußballspieler des Landes werden einem Träumer überlassen, einem Einzelgänger, der mehr Guru ist als Stratege. Ein Anfänger und ein Besserwisser – eine gefährliche Mischung.“ Sollte es sich doch rächen, dass der DFB im Juli 2004 den Tipp von Berti Vogts gefolgt war – „Ruft doch mal den Jürgen an“ – und sich einen Trainer-Novizen aus Amerika geholt hatte?

Auch den Sturm der Entrüstung über die Demontage von Oliver Kahn, der einen Tag vor einem Spiel in Bremen erfuhr, dass Jens Lehmann bei der WM die Nummer eins sein würde, überstand Klinsmann. „Klinsi killt King Kahn“, titelte die Bild am 8. April. Klinsmann sprach von der „schwersten Entscheidung meiner jungen Trainer-Karriere.“

Kahn zeigt Größe

„Wir alle halten diese Entscheidung für falsch!“, schrieb Bayern-Vorstand Karl-Heinz Rummenigge im Stadionheft in einem offenen Brief an Kahn, „Du bis zu Recht enttäuscht“. Alle Welt rechnete nun mit Kahns Rücktritt, doch der zeigte auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz zwei Tage nach der Degradierung wahre Größe: „Die Weltmeisterschaft im eigenen Land ist wichtiger als die Person Oliver Kahn.“, sagte er und betonte: „Wir brauchen eine positive Stimmung, dann kann diese Mannschaft Weltmeister werden.“ Dafür setzte er sich auch auf die Bank.

Es gab noch mehr personelle Überraschungen, als Klinsmann am 15. Mai in Berlin den Kader im Rahmen einer aufwendigen Präsentation mit 23 Filmporträts nominierte. Ohne Kevin Kuranyi, Fabian Ernst und Patrick Owomoyela, die seine Amtszeit mitgeprägt hatten – dafür mit Marcell Jansen, Mike Hanke und einem gewissen David Odonkor. Der 23jährige Dortmunder Flügelflitzer, bis dato ohne Länderspieleinsatz, verdankte sein Glück dem erneuten Verletzungspech eines Sebastian Deisler. „Er ist ein Riesentalent und bringt etwas mit, was wir dringend brauchen: Schnelligkeit, Überraschungsmoment. Mit seiner Frechheit gibt er uns Varianten.“, begründete Klinsmann den Coup.

Glückskind Odonkor musste den ganzen Tag Reporterfragen beantworten und wiederholte: „Ich bin aus allen Wolken gefallen. Ich werde heute Abend schlafen gehen und wenn ich morgen aufwache, hoffe ich dass es kein Traum wahr.“ Auch andere Länder hatten übrigens ihren Odonkor. Englands Trainer Sven-Göran Eriksson nominierte mit dem 17jährigen Theo Walcott von Arsenal London einen jungen Mann, der noch nie in der Premier League gespielt hatte und erntete viel Spott. Dennoch glaubte Eriksson an den Titel und sprach von der „stärksten englischen Mannschaft seit 40 Jahren“. Damals war England letztmals Weltmeister geworden. Deutschland bereitete sich derweil auf seine Gäste vor.

Rund eine Million Menschen wurden erwartet und zuhause mit allerlei guten Ratschlägen ausgestattet. Ein Benimm-Buch in den USA empfahl seinen Landsleuten vor der WM-Reise: „Lehnen Sie sich nie gegen ein fremdes Auto. Autos sind in Deutschland heilig.“ Darüber konnten die Deutschen noch lachen, weniger über die pauschale Warnung des deutschen Afrika-Rats vor „No-Go-Areas“ in Ost-Deutschland.

Ballack fehlt im ersten Spiel

Jürgen Klinsmann hatte andere Sorgen. In der Vorbereitung offenbarte die Abwehr gegen Japan (2:2) große Schwächen, zudem verletzten sich seine Säulen Michael Ballack und Philipp Lahm in Testspielen gegen Amateure. Als die WM am 9. Juni endlich begann, saß Ballack tatsächlich auf der Bank – wenngleich er sich selbst für einsetzbar erklärte. Klinsmann aber lehnte ab: „Die Wade ist noch nicht da, wo sie hin muss.“

Der Gastgeber musste also ohne seinen Kapitän die WM eröffnen. Zum Glück wartete in München mit Costa Rica keine unlösbare Aufgabe. „WM-Rekord gegen Costa Gurka?“, fragte Bild zwei Tage vor dem Anpfiff despektierlich und bekam sogar Recht. Der offiziellen Eröffnung, nach einem von bayerischer Folklore geprägten Showprogramm, durch Bundespräsident Horst Köhler folgte fünf Minuten und zehn Sekunden nach dem Anpfiff die fußballerische: Philipp Lahm, mit einer dicken Manschette an der verletzten linken Hand, umkurvte seinen Gegenspieler und drosch den Ball vom Strafraumeck in den Winkel. 1,5 Milliarden TV-Zuschauer waren weltweit Zeuge. „Das war das Tor meines Lebens“, strahlte der Münchner hinterher. Mit einem Urknall hatte Deutschland seine eigene WM eröffnet.

Am Ende stand nach weiteren Treffern von Miroslav Klose (2) und Torsten Frings ein 4:2 und das torreichste Eröffnungsspiel aller Zeiten. Die beiden Gegentore aber beunruhigten die Experten. Bayern-Manager Uli Hoeneß sprach vielen aus dem Herzen: „Gegen andere Teams dürfen wir uns diese Abwehr-Schnitzer nicht erlauben.“ Das fand auch die Mannschaft und so traf sich die Defensivabteilung nach dieser Partie mit dem Trainerstab zur Analyse. Fortan sollte es besser werden. Obwohl auch die Gegner besser wurden. In Dortmund kämpfte Polen in einem dramatischen Spiel bis in die Nachspielzeit aufopferungsvoll und in Unterzahl – zehn gegen zwölf hieß es in den letzten 15 Minuten, als Sobolewski vom Platz geflogen und das Publikum der zwölfte Mann war. Es sah alles nach einem 0:0 aus, als Klose und Rückkehrer Ballack in der 90. Minute binnen Sekunden jeweils die Latte trafen. Wieder tat dann der Sturm seine Pflicht, wenn auch nicht die erste Reihe. Dafür stachen Klinsmanns Joker: In der 91. Minute entwischte David Odonkor seinen Bewachern und flankte nach innen, wo sich Oliver Neuville schon aufhielt. Mit langem Bein markierte er im Fallen das 1:0, das so etwas wie die Initialzündung für eine gelungene WM bedeutete. Somit hatte sich Odonkors Nominierung schon bezahlt gemacht. Das Publikum zweckentfremdete in seiner Euphorie den Pokal-Hit und sang „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ – also ins WM-Finale.

Trauer dagegen bei den rund 25.000 Polen, für ihre Auswahl war nach der zweiten Niederlage schon alles vorbei.