Die Weltmeisterschaft der Sensationen

Die Rückkehr zur Normalität nach dem fürchterlichen Weltkrieg war in vielen Bereichen des Lebens ein schwieriger Prozess. Auch die Idee einer Fußball-WM litt unter den politischen Spannungen einer Welt, die längst noch nicht friedlich war, auch wenn die Waffen schwiegen. 1942 und 1946 fanden keine Endrunden statt. Erst 1950 kamen die Nationen nach zwölf Jahren Pause wieder zusammen, um zum vierten Mal den Weltmeister zu ermitteln – in Brasilien, das 1946 auf dem FIFA-Kongress in Luxemburg den Zuschlag erhalten hatte.

Noch wirkte der Krieg nach: Deutschland und Japan wurden als Kriegsanstifter ausgeschlossen und gehörten der FIFA deshalb nicht an, beide hatten nicht mal eine Nationalmannschaft. Und wer eine hatte, war noch längst nicht bereit, sie gegen jeden einzusetzen. Derartiges war auf fast allen Erdteilen zu beobachten. Österreich wollte nicht gegen die Türkei spielen, Argentinien nicht gegen Chile und Bolivien, Uruguay nicht gegen Peru, Philippinen und Burma nicht gegen Indien. Absurd: Paraguay meldete sich acht Wochen zu spät und kam ohne ein einziges Spiel zur WM, weil sich keine Gegner fanden. Sport und Politik waren wohl nie schwerer zu trennen als in diesen Tagen und die FIFA der Verzweiflung nahe. Von 31 gemeldeten Ländern zogen sieben wieder zurück, sogar drei bereits für die Endrunde qualifizierte und schon in Gruppen geloste Länder (Schottland, Türkei, Indien).

Nur 13 Mannschaften dabei

Die Schweiz zog auch zurück und kam erst, als Brasilien die Kosten-übernahme zusagte. Die gewünschte Zahl von 16 Teams war dennoch verfehlt. Wieder musste die FIFA noch Wochen vor Turnierbeginn versuchen, das Feld mit Green Cards aufzufüllen, aber auch das misslang. Weder Portugal noch Frankreich waren zur Reise nach Brasilien zu bewegen, wobei Frankreichs Absage erst 19 Tage vor Turnierbeginn eintraf. So starteten am 25. Juni 1950 – wie schon 1930 – schließlich nur 13 Mannschaften. Afrika, Australien und Asien waren gar nicht vertreten, wobei Indiens Absage zu den großen Kuriositäten der Sportgeschichte zählt. Die Inder waren gewohnt, mit Bandagen an den Füßen, aber ohne Schuhe (!) zu spielen und bestanden auf ihrer merkwürdigen Angewohnheit. Die FIFA war von den Socken und lehnte die entsprechende Anfrage ab – und so blieb Indien, das sich ohnehin kampflos qualifiziert hatte, beleidigt daheim. Im Ausrichter-Land konnte all das die Vorfreude nicht trüben. Die WM 1950 war die bis dahin am besten vermarktete, in den Geschäften waren alle brasilianischen Spieler als Plastikpuppen zu kaufen und die WM-Sponsoren ließen in den sechs Ausrichterstädten Flugzeuge steigen, um ihre Botschaften an den Mann zu bringen.

Im Rundfunk wurde vor den brasilianischen Spielen teils im Fünf-Minuten-Rhythmus zum Besuch der Spiele aufgerufen, was bei der Fußballbegeisterung der Brasilianer beinahe überflüssig erschien. Die Mannschaft sollte, so wollten es die Organisatoren, die meisten Spiele im nagelneuen Maracana-Stadion austragen, dem größten der Welt (offizielles Fassungsvermögen: 173.850), das wesentlich dazu beitragen sollte, dass diese WM noch bis 1966 mit 1, 337 Millionen Zuschauer die am besten besuchte war.

Chaotische Szenen im Kampf um die Karten

Aber selbst Maracana schien noch zu klein zu sein, vor fast jeder Partie spielten sich chaotische Szenen im Kampf um die Karten ab. Es gab in Rio keine Wegweiser und Kontrolleure „so dass jeder seinen Block und Platz auf eigene Faust suchen musste. Wir kletterten über Holz- und Eisengerüste. Verschwitzt und staubbedeckt kamen wir an unserem Ziel an, als hätten wir eine Pyrenäen-Etappe der Tour de France hinter uns“, kabelte der Reporter der Zeitschrift „Fussball“ entrüstet in die Heimat.

Noch etwas ärgerte die Fachwelt: der seltsame Modus, den Brasilien mit der Androhung, ansonsten abzuspringen, durchdrückte. Statt wie gewohnt K.-o.-Spiele auszutragen, gab es nun Vierer-Gruppen, was bei 13 Teilnehmern ein mathematisch unlösbares Problem aufwarf. Brasilien aber bestand darauf, da man möglichst viele Spiele austragen und somit Einnahmen generieren wollte. So verteilten sich die Teams auf zwei Vierer-, eine Dreier und eine Zweier-Gruppe. Die Gruppe 4 erlebte also nur eine Partie und geht als die seltsamste aller Zeiten in die WM-Historie ein. Spannend war sie auch nicht, Uruguay besiegte Bolivien mit 8:0.

Damit stand der erste Weltmeister bereits in der Endrunde, die erstmals ebenfalls eine Gruppe war – sie sah kein Finale vor. Zum Glück fand diese Idee keine Nachahmer mehr bei späteren Turnieren.

"WM der Sensationen"

Seltsames geschah auch auf dem Platz. Brasilien 1950 ging als die „WM der Sensationen“ in die Annalen ein und als „Europas Katastrophe“. So war für Titelverteidiger Italien schon nach dem Auftakt fast alles vorbei – es unterlag den Schweden mit 2:3. Allerdings traten mildernde Umstände ein, die einer ganz anderen Katastrophe geschuldet waren. Am 4. Mai 1949 war die Mannschaft des AC Turin bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, in ihr standen zehn Nationalspieler. Das führte nicht nur zu einer gravierenden Schwächung, sondern auch dazu, dass die Squadra azzura kein Flugzeug besteigen wollte.

Sie reiste also mit dem Schiff an, was 15 Tage dauerte. „Es war ein Fehler, sagen die Fachleute, dass die italienische Mannschaft mit dem Schiff reiste! Die wochen-lange Ruhe machte die Spieler unbeweglich, fast alle hatten etliche Pfund durch die Schiffskost zugenommen“, schrieb die Fussball Woche, als das Aus feststand. Der 2:0-Sieg über Paraguay half nichts mehr, Außenseiter Schweden kam weiter.

Italiens Fiasko war aber nichts gegen das der Engländer, die sich erstmals herabgelassen hatten teilzunehmen und mit Qualifikations-Ergebnissen wie 9:2 gegen Nordirland keinen Zweifel an ihrer Vorrangstellung ließen. Sechs Tage vor WM-Beginn landeten die Engländer nach 31 Flugstunden in Rio und belegten ein Hotel im Amüsierviertel Copacabana, was sich auf die Nachtruhe auswirken sollte. Dennoch starteten die Briten planmäßig mit einem 2:0 über Chile in Maracana ins Turnier, aber dann trafen sie am 29. Juni in Belo Horizonte auf die Mannschaft der USA, nur 10.151 Zuschauer waren gekommen. Alles lag in der Luft, nur keine Sensation.

England erlebt "unfassbare Überraschung"

Aber es gab eine, die bis dahin größte der WM-Historie. England hatte noch einmal auf Stan Matthews und weitere Stars verzichtet und agierte überheblich gegen die vorwiegend aus europäischen Einwanderern bestehenden US-Boys. Die waren allesamt Amateure und gingen Berufen wie Leichenbestatter, Schnapslieferant oder – typisch amerikanisch – Tellerwäscher nach. In der Vorbereitung unterlagen sie unter anderem einer türkischen Armeeauswahl.

Für England aber sollten ihre Künste reichen an diesem Tag. Das Kopfball-Tor von Joe Gaetjens nach 39 Minuten löste zwar heftige englische Reaktionen wie drei Pfostenschüsse aus, blieb aber das einzige. Auch weil die Briten schon damals keine Elfmeter schießen konnten und Bentley einen verschoss. „England 1:0 besiegt! Es ist die wohl unfassbarste Überraschung, die jemals in einem Weltturnier sich abspielte.“, schrieb das Sport Magazin. Auch in England konnte es keiner fassen, man hielt das über die Nachrichtenagenturen verbreitete Ergebnis für einen Druckfehler, TV-Übertragungen nach Europa gab es nicht von diesem Turnier. Und da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, vermeldete eine englische Zeitung glatt einen 10:1-Sieg ihrer Elf. Als sich die bitere Wahrheit aus Übersee doch verbreitete, beklagte die Daily Mail ein „Fußball-Dünkirchen“. Dabei war noch nichts verloren, aber als auch das entscheidende Spiel gegen Gruppensieger Spanien trotz stärkster Aufstellung mit 0:1 endete, mussten die Engländer frustriert abreisen.

Auch ihr Verständnis von Fair Play war übrigens verletzt, weil die Spanier schonungslos auf Zeit gespielt und permanent den Ball aus geschossen hatten – was Kraft kostete, da es keine Balljungen gab bei dieser WM. „Das Ball-Austreten lohnt sich hier. Die Spieler müssen sich die Bälle 20 und 30 Meter weit selber holen. Keiner der Offiziellen und Photographen rührt sich. Es spielt sich nun eine halbe Stunde lang das groteske Schauspiel ab, dass englische Spieler dauernd aus dem Spielfeld laufen, um die Bälle zu holen“, vermeldet das Sport Magazin ein weiteres Kuriosum dieser WM. Sie ging nun ohne England weiter: „Am 2. Juli entschlief nach kurzem, aber schwerem Leiden der englische Fußball in Rio“, klagte der Daily Herald.

Weg frei für Brasilien?

Nun war der Weg frei für Brasilien, das mit Uruguay, Spanien und Schweden die Endrunde erreicht hatte. Klare Siege über Mexiko (4:0) und Jugoslawien (2:0) rückten die Gastgeber trotz eines Ausrutschers gegen die Schweiz (2:2) in die Favoritenrolle. Nach dem ersten Endrundenspiel zweifelte kaum jemand noch am Titelgewinn, die überforderten Schweden wurden in Maracana mit 7:1 geschlagen. „Die Brasilianer im eigenen Lande zu schlagen ist einfach eine übermenschliche, unlösbare Aufgabe!“, kommentierte das Sport Magazin.

Star des Turniers war schon vor dem für Brasilien bitteren Ende der Mittelstürmer Ademir, vom Publikum ob seines Antritts Lokomotive („Quaixada“) gerufen, der mit neun Treffern Torschützenkönig wurde. Den wackeren Schweden schenkte er vier Tore ein, aber sie nahmen es sportlich. „Wir verloren gegen eine Mannschaft, die den besten Fußball der Welt spielt!“, sagte Schwedens englischer Betreuer, Mister Raynor.

Nach Schweden kamen die bis dahin gleichfalls ungeschlagenen Spanier an die Reihe. Ihnen erging es kaum besser – 1:6 hieß es am Ende. Vor 180.000 Zuschauern, die einen Weltrekord bedeuteten, der nur wenige Tage halten sollte, setzte das Team von Trainer Flavio Costa neue Maßstäbe. Übrigens auch rein taktisch, ein 4-2-4 kannte die alte Fußball-Welt noch nicht. „Uns schwindelt bei dieser Katastrophe des europäischen Fußballs. Wir müssen neu lernen in unserem Erdteil“, schrieb Friedebert Becker, nach Rio entsandter Chefredakteur des Sport Magazin mahnend.

Zu diesem Spiel gelangten übrigens Tausende ohne Karten, Holzbarrieren und Polizeiketten waren kein Hindernis für die enthusiastische Menge, die ihre Helden in Weiß sehen wollte. Man zählte danach einen Toten, drei Schwer- und 261 Leichtverletzte. Zeitgleich schlug Uruguay die Schweden mit 3:2, weshalb das letzte Gruppenspiel am 16. Juli doch noch ein Endspiel war. Denn Weltmeister konnte nur einer dieser beiden Südamerikaner werden, aber Brasilien reichte schon ein Punkt. Und das vor eigenem Publikum, dem größten der Weltgeschichte – offiziell zählte man 173.850, inoffiziell gingen die Schätzungen über 205.000 hinaus.

Wie auch immer, an diesem 9. Juli 1950 versammelte sich im Nachhinein die größte Trauergemeinde der Welt, wenngleich in der Absicht, ein Riesenfest zu feiern. Nie ging ein größerer Favorit in ein WM-Finale als es Brasiliens Selecao an diesem Tag gewesen war. Die Zuversicht war ebenso riesig wie die Sehnsucht dabei zu sein, wenn Brasilien Geschichte schreibt. Weitere rund 200000 Zuschauer standen ohne Ticket vor dem Stadion. Eine halbe Million Weltmeister-T-Shirts waren gedruckt und im Umlauf, der Bürgermeister von Rio wog die Spieler noch in Sicherheit, als er sagte, dass sie „in weniger als zwei Stunden von Millionen als Weltmeister gefeiert werdet, ihr, die ihr keine Rivalen habt, ihr die ich jetzt schon als Eroberer begrüße.“

"Man fühlt eine Sensation"

Jedoch, es kam anders. Zur Pause griff schon Verunsicherung um sich. Kein Tore-Festival wie sonst diesmal, es stand 0:0. Dann endlich fiel das erlösende 1:0 durch Friaca (48.), jetzt war der nach Fifa-Präsident Jules Rimet benannte Pokal zum Greifen nah. Die Masse zündete Raketen und Böller, es war in Rio so üblich und nicht verboten anno 1950. Auch auf dem Rasen brannte Brasilien ein Feuerwerk ab und vergaß darüber seine Defensivpflichten, was Trainer Flavio Costa immer wieder erbost an die Seitenlinie rennen ließ. Ahnte er, was kommen würde? Uruguays großer Star Schiaffino versetzte dem Gastgeber einen Schock und glich per Volleyschuss aus zum 1:1. Noch 24 Minuten waren zu überstehen, Brasilien bekam das Zittern. „Ja, jetzt ist Gefahr, denn Brasilien kann nicht mehr. Man fühlt eine Sensation“, schilderte das Sport Magazin die Phase, in der das Spiel kippt. Um 16.33 Uhr trat das sich ankündigende Unheil für Brasilien ein: Ghiggia enteilte seinem Bewacher Bigode und schoss ins kurze Eck ein, ein Leben lang wird man das Torwart Barbosa in Brasilien vorwerfen. Das war der Siegtreffer. Entsetzen auf den Rängen, weinende Menschen auch auf der Pressetribüne. „Tudo perdido“ – alles verloren, schluchzte ein heimischer Radioreporter in sein Mikrofon. Zehntausende saßen noch Stunden danach im Stadion, fassungslos. Als würden sie hoffen, die Mannschaften kämen noch einmal heraus, um das Undenkbare zu tilgen. Drei Menschen starben in Maracana an Herzinfarkt, hinzu kamen zwei Selbstmorde und zahlreiche Ausschreitungen auch mit tödlichem Ausgang.

Es war so, als ob ein ganzes Land in Therapie musste nach diesem 9. Juli 1950. Schriftsteller und Liedermacher nahmen sich des Dramas an, vom „tosendsten Schweigen in der Geschichte des Fußballs“ war die Rede, als die Massen die Uruguayer jubeln sahen. Die Siegerehrung fiel entsprechend bescheiden aus, Fifa-Präsident Rimet steckte den Uruguayern den Pokal unauffällig zu und diese eilten in die sicheren Katakomben. Eine Hymne wurde nicht gespielt, keine Reden gehalten. Aus Pietät. Selbst die Sieger hatten Mitleid. „Es war eine Tragödie, eine Beerdigung, ein grausames Schauspiel“, sagte Schiaffino, der wie seine Kollegen nach dem Triumph den Dank des Vaterlands erhielt und verbeamtet wurde. Auch eine Art, Siegprämien zu zahlen.

Den Brasilianern war dagegen nur der Undank des Vaterlands sicher. Der Trainer musste in Frauenkleidern aus dem Stadion flüchten und Torwart Barbosa wurde noch über 40 Jahre später vom Trainingsplatz der Selecao verjagt, denn er bringe bloß Unglück. „Die Höchststrafe in Brasilien beträgt 30 Jahre – aber meine Bestrafung wohl 50“, jammerte Barbosa 1993. Sozusagen lebenslänglich verbannt wurde auch das Unglücks-Dress der Verlierer. Seit jenem schwarzen Tag hat Brasilien nie mehr in Weiß gespielt. Man schrieb vielmehr einen Wettbewerb aus für eine neue Farbgebung. Ein Neunzehnjähriger gewann mit seinem Vorschlag, in Gelb-Blau zu spielen. In diesen Farben sollte Brasilien fünf Mal Weltmeister werden.