Titelgewinn im eigenen Land

Die zehnte Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland setzte neue Maßstäbe. In punkto Organisation und Logistik verdiente sich der DFB als Veranstalter Bestnoten. Hochmoderne Stadien, die mit Ausnahme von München eigens zu diesem Fußballfest errichtet oder modernisiert worden waren, sorgten für einen Zuschauerrekord. Offiziell wurden bis dahin unerreichte 1.769.062 Karten verkauft. Und das, obwohl die WM 1974 im Gegensatz zu der von 2006 gewiss kein Sommermärchen, sondern eher ein Wasserfest war. Mit dem Wetter hatten die Deutschen und ihre Gäste aus 15 Ländern vor 36 Jahren kein Glück, dafür lachte ihnen der Fußball-Gott zu, denn am Ende hieß der Weltmeister zum zweiten Mal Deutschland.

Um die Teilnahme bewarben sich diesmal 99 Länder, auch das war ein Rekordwert. Diesmal gab es nur wenige Überraschungen. Die größte sah Wembley, wo England nach einem 1:1 im Oktober 1973 an den Polen scheiterte. Kurios das Ausscheiden der Belgier, die es als erste Auswahl fertigbrachten, ungeschlagen und ohne Gegentor eine WM zu verpassen. Nachbar Niederlande, gegen den beide Partien 0:0 endeten, hatte die bessere Tordifferenz. Und so kam der spätere Finalist nur mit knapper Not nach Deutschland.

Noch dramatischer machten es Jugoslawen und Schweden, die erst in Entscheidungsspielen in Deutschland gegen ihre punktgleichen Kontrahenten das WM-Ticket lösten. Viel einfacher hatte es dagegen Chile, dessen Elf am 21. November 1973 in Santiago in einem leeren Stadion alleine aufs Feld lief und den Ball ins Tor schoss. Ohne jede Gegenwehr, denn die UdSSR war aus politischen Gründen nicht erschienen. Man wollte nicht in einem Stadion spielen, in dem das Militärregime von General Pinochet Oppositionelle folterte. Für die FIFA war das kein Protestgrund und so entschied sie am Tag vor der Auslosung mit 13:5 Stimmen, dass Chiles „1:0“, das nach dem „Tor“ von Kapitän Valdez auf der Anzeigetafel erschienen war, zur Teilnahme berechtigte – weil die Russen nicht angetreten waren.

Osteuropa war dennoch vertreten, als am 6. Januar 1974 in Frankfurt die Lose gezogen wurden. Neben den Bulgaren und den Polen hatte es erstmals überhaupt die DDR geschafft, Abwehrchef Bernd Bransch schoss sie gegen Rumänien (2:0) quasi allein zur WM. Dass der kommunistische Ost-Block sogar durch ein viertes Land vertreten sein würde – Jugoslawien – wusste man noch nicht. Denn erstmals überhaupt war das Teilnehmerfeld bei einer Auslosung nicht komplett, da sich Spanien und Jugoslawien nicht rechtzeitig auf einen Termin für das nötig gewordene Entscheidungsspiel einigen konnten. Verständlich allerdings, dass die katholischen Spanier nicht an Weihnachten (26. Dezember) spielen wollten, wie angeboten.

So traf man sich erst am 13. Februar im mit Gastarbeiter restlos gefüllten Frankfurter Waldstadion, die Jugoslawen siegten 1:0. Fünf Wochen lang aber wusste die Welt nicht, wie die Eröffnungspartie heißen würde und wer denn nun Titelverteidiger Brasilien am 13. Juni in Frankfurt fordern würde. Fast alle anderen Unklarheiten waren längst beseitigt. Aus 53 Entwürfen wählte die FIFA den neuen WM-Pokal aus, nachdem Brasilien den alten hatte behalten dürfen. Das Modell, um das noch immer gespielt wird, erhielt den sachlichen Namen „FIFA World Cup“, während der Vorgänger nach FIFA-Präsident Jules Rimet benannt worden war. Das neue Modell ist größer und schwerer, aus 18karätigem Gold und die heiß begehrteste Trophäe des Fußballs.

Pokalpremiere für Beckenbauer

Franz Beckenbauer sollte der erste sein, der sie berühren durfte. Bis dahin war es ein weiter Weg. Eine Überraschung war es nicht, denn Deutschlands Fußball erlebte in den frühen Siebzigern eine nie dagewesene Hochphase und die Nationalmannschaft wurde gemeinhin zum Top-Favoriten des Turniers erkoren. Nicht nur weil sie Gastgeber war. Hatte sie doch 1972 in begeisternder Manier die Europameisterschaft gewonnen, in Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Wolfgang Overath und Gerd Müller Spielerpersönlichkeiten, um die sie die ganze Welt beneidete. Hinzu kam die Stärke der Bundesliga, deren Serienmeister Bayern München im Mai 1974 erstmals den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Im Vorjahr hatte Borussia Mönchengladbach das UEFA-Cup-Finale erreicht.

Zwölf Spieler dieser beiden Mannschaften, die sich bis zum 33. Spieltag 1973/74 ein packendes Titelrennen lieferten, bildeten das Gerüst und das Gros des Kaders von Helmut Schön, der am 29. Mai traditionell die Sportschule Malente in Schleswig-Holstein bezog. Im Wesentlichen hatte der Bundestrainer seine Elf schon im Kopf, nur eine seit vier Jahren ungelöste Frage beschäftigte ihn: Netzer oder Overath? Die beiden großen Mittelfeld-Regisseure, die nicht im Gleichtakt spielen konnten, galt es einmal mehr zu trennen. Netzer spielte 1972 überragend und genoss in den Medien mehr Popularität, doch war er in schlechter Verfassung aus Madrid angereist, wo er seit einem Jahr sein Geld bei Real verdiente. Nach einer Verletzung hatte er erheblichen Trainingsrückstand und schlichtweg Übergewicht, so dass ihm Schön eine Autogrammstunde strich. Er solle lieber trainieren. Overath wiederum hatte keine gute Saison gespielt und war voller Selbstzweifel, die ihm die Mitspieler sogar in der Sauna austreiben wollten. „Da gab es dann aber einige Spieler, die in der Schwitzstube zu mir sagten: ‚Wolfgang, ich renne für dich genauso wie für den Günter Netzer.’ Das fand ich toll.“, erzählte Overath später.

Glaubt man den Erzählungen von Franz Beckenbauer unmittelbar nach der WM, hätte allerdings nicht viel gefehlt, und keiner der Auserwählten wäre aufgelaufen. Schon am siebten Tag nämlich kam es in Malente zum großen Krach. Ein Prämienstreit war am 4. Juni ausgebrochen: die Spieler wollten sich mit dem Angebot des DFB, 30.000 D-Mark pro Kopf für den Titel zu bezahlen, nicht zufrieden geben. So viel hatte es schon 1970 in Mexiko für Platz drei gegeben und die Zeit war schließlich nicht stehen geblieben. Man hatte es nun mit Jungunternehmern zu tun, die ihren Marktwert kannten. Und wenn Italien das Vierfache bot, fühlten sich die Bundesliga-Stars schlicht unter Wert verkauft.

15 Stunden währten die Verhandlungen, die bis nachts um halb zwei gingen. Zwischendurch fielen Sätze wie „Die Mannschaft ist sich der Konsequenzen bewusst und sie wird abreisen. Nicht ein Spieler wird dableiben“ (Beckenbauer) oder „Mit diesem Sauhaufen will ich nichts mehr zu tun haben“ (Schön). Sowohl Schön als auch Verteidiger Paul Breitner hatten die Koffer schon gepackt, aber dann siegte die Vernunft.

Mit letztlich 70.000 D-Mark waren die Spieler zufrieden, wenngleich erst ein Machtwort Beckenbauers nach einer Pattsituation von 11:11 Stimmen das traurige Schauspiel beendete. Der Kicker schrieb dazu: „Es zeigte sich jedoch auch, welch cleveren Verhandlungspartner die Spielerseite in ihrem Kapitän Beckenbauer hatte. Wie wohl die gesamte Mannschaft vom Intellekt her nicht unterschätzt werden darf. Die geringschätzige Beurteilung, dass Fußballer eben nur mit dem Ball umzugehen verstünden und sonst nur wenig auf dem Kasten hätten, muss längst zu den Akten gelegt werden.“

Startprobleme gegen Chile

Nach dieser Vorgeschichte, die schnell in den Zeitungen stand, empfahl es sich dennoch, nun auch mit dem Ball gut umzugehen. Das aber fiel schwer in der Vorrunde, in der man auf Chile, Australien und erstmals (und nie wieder) auf die DDR traf. Das deutsch-deutsche Bruderduell wäre übrigens beinahe gar nicht zustande gekommen, da DDR-Funktionäre ein Image schädigendes Resultat befürchteten und am 8. Januar 1974 einen Rückzug von der WM berieten – was erst 1995 herauskam.

Einen Tag nach dem dritten torlosen Eröffnungsspiel in Folge zwischen Brasilien und Jugoslawien startete die DFB-Auswahl ins Turnier. In Berlin, damals noch eine geteilte Stadt, traf sie auf Chile. Schon nach 16 Minuten glückte Paul Breitner mit einem Weitschuss aus 25 Metern das Tor des Tages. Mehr gelang nicht gegen die defensiven Südamerikaner. „Mannschaften wie Chile verderben die Spiellaune“, fand der Kicker. Missgelaunt war auch das Publikum, viele der 85.000 Zuschauer verabschiedeten die Spieler mit Pfiffen. Eine WM-Premiere mit vier Jahren Anlauf bekamen sie immerhin zu sehen, der Chilene Carlos Caszely sah die erste Rote Karte nach deren Einführung 1970. Auch die zwanzigminütige Überzahl verhalf den Deutschen zu keinem überzeugenden Ergebnis, das es vier Tage später in Hamburg gegen WM-Neuling Australien geben sollte. „Heute schießen wir uns ein!“, titelte der Kicker optimistisch und bekam nur zur Hälfte recht. Denn auch das 3:0 stellte niemanden so recht zufrieden im Lager des WM-Favoriten. Wolfgang Overath, dem Schön den Vorzug vor Netzer gab, sein Kölner Teamkollege Bernd Cullmann und Gerd Müller schossen die Tore, aber das Hamburger Publikum pfiff die Sieger in den letzten zehn Minuten eines langweiligen Kicks aus. Es gipfelte in hämischen „Uwe, Uwe“-Rufen, doch Lokalmatador Uwe Seeler war seit zwei Jahren nicht mehr aktiv. Es war beinahe grotesk: Ohne Gegentor und Punktverlust hatte sich der WM-Favorit vor dem Bruder-Duell mit der DDR bereits für die neuartige Zwischenrunde, die erneut Gruppenspiele vorsah, qualifiziert. Nur die Herzen hatte der kommende Weltmeister noch nicht erobert. Das war anderen gelungen.

Der bessere Fußball wurde gewiss in den Gruppen 3 und 4 mit den Niederländern und Polen, beide erstmals seit 1938 wieder dabei, gespielt. „Oranje“ zelebrierte seinen vielbesungenen „Voetbal total“ und etablierte das 4-3-3-System auf der Weltbühne des Fußballs. Trainer Rinus Michels hatte um Johan Cruyff eine Mannschaft geformt, die perfekt harmonierte. Bis zum Finale spielte sie sechs Mal in unveränderter Aufstellung, nur ein Mal nahm Michels eine Änderung vor. Die Niederländer gewannen ihre Gruppe und boten sogar in ihrem einzigen torlosen Spiel gegen Schweden sehenswerten Fußball.

Gegen Uruguay (2:0) und Bulgarien (4:1), das auch bei seiner dritten WM-Teilnahme sieglos blieb, wurde ihr Offensivfußball belohnt. Hatten die Niederländer auch aufgrund der Erfolge von Ajax Amsterdam, das von 1971-73 den Europapokal der Meister gewann, viele auf dem Zettel, so war Polen die Sensation des Turniers. In einer vermeintlich schweren Gruppe mit Italien und Argentinien sowie Exot Haiti setzte sich der Olympiasieger von 1972 mit makelloser Bilanz durch. Als einziges Team gewann es alle Vorrundenspiele. Namen wie Lato, Szarmach, Gorgon, Tomaszewski oder Deyna sind bis heute in Polen populär, es war die wohl beste Mannschaft, die das Land je hatte. Gegen Argentinien (2:3) und Haiti (7:0) wurde die Zwischenrunde schon gebucht, dennoch legte sich das Team von Trainer Kazimierz Gorski zum Abschluss gegen Italien, das nach einem 1:1 gegen Argentinien bangen musste, weiter ins Zeug. Später wurde von polnischer Seite erzählt, die Italiener hätten sie auf dem Platz regelrecht angebettelt, noch den Ausgleich zuzulassen und dafür 2000 Dollar pro Kopf geboten. Doch der Ausgleich fiel nicht, Polen gewann mit 2:1 und Italien fuhr nach Hause.