Uli Hoeneß im Glück - erst verbannt, dann doch gespielt

Gegen Jugoslawien stand in Düsseldorf jedenfalls eine völlig andere Mannschaft auf dem Platz – auf vier Positionen umformiert und in den Köpfen komplett umprogrammiert. Die Opfer der Abrechnung von Malente waren Uli Hoeneß, Jürgen Grabowski, Bernd Cullmann und Heinz Flohe, die auf Bank oder Tribüne versetzt wurden. Und von Günter Netzer sprach nach seinem missglückten Kurzeinsatz niemand mehr.

Die Profiteure hießen Bernd Hölzenbein, Dieter Herzog, Rainer Bonhof und Herbert Wimmer, von denen man mehr Kampfgeist erwartete. Diesmal schien sogar die Sonne und als Paul Breitner wie gegen Chile wieder aus der zweiten Reihe traf, lief es endlich. Gerd Müller sorgte nach Vorarbeit des immerhin noch eingewechselten Hoeneß für die Entscheidung und schon schlug das Stimmungs-Barometer wieder in die andere Richtung aus: „2:0! So schaffen wir das Endspiel!“, titelte der Kicker und lobte „Es hat sich ausgezahlt, dass nun hungrige Spieler in unserem Team standen.“

Besonders Benjamin Bonhof, mit 22, auch Rechtsaußen Hölzenbein durfte wiederkommen. Über Herzog gingen die Meinungen auseinander und Wimmer verletzte sich wieder. Sein Pech war das Glück von Uli Hoeneß, dessen Verbannung wieder aufgehoben wurde. Im nächsten Spiel der Gruppe B, die nach Ansicht aller Experten leichter war als Gruppe A mit Argentinien, Brasilien und Niederlande, traf Deutschland auf die Schweden, für die es nach dem 0:1 gegen Polen schon um alles ging. Im Dauerregen von Düsseldorf sahen 67.000 am 30. Juni bei kühlen 16 Grad einen heißen Kampf, der einen deutlichen Beleg für die neue Moral des Favoriten lieferte. Nach dem Pausenrückstand drehten die Deutschen das Spiel und gingen durch Overath und Bonhof binnen zwei Minuten in Führung, um postwendend den Ausgleich zu kassieren. Drei Tore in drei Minuten – es war nichts für schwache Nerven.

Grabowskis Stunde schlägt

Dann schlug wieder die Stunde von Jürgen Grabowski, der sich schon in Mexiko einen Ruf als idealer Joker gemacht hatte. 1970 war er Vorbereiter, 1974 aber traf er selbst. Zwölf Minuten nach seiner Einwechslung überwand der Frankfurter Torwart Ronny Hellström, der nach der WM nach Kaiserslautern wechselte. Das bis dahin dramatischste Spiel der WM entschied mit Uli Hoeneß, der einen Elfmeter verwandelte, ein zweites Opfer von Beckenbauers Wutrede. Grabowski und Hoeneß hatten ihre Chance zur Wiedergutmachung genutzt und so fand sich in der Schlussphase des fünften Spieles endlich die Elf, die Weltmeister werden sollte. „Ein Spiel, das uns von den Sitzen riss“, wertete der Kicker die Wasserschlacht von Düsseldorf, der eine noch berühmtere folgen sollte. Im letzten Gruppenspiel warteten die Polen und obwohl es der Modus nicht zwingend vorsah, war es quasi ein Halbfinale, denn der Sieger würde am 7. Juli in München spielen. Doch es musste nicht unbedingt einen geben, das bessere Torverhältnis erlaubte den Deutschen ein Remis, da Polen gegen Jugoslawien in Frankfurt nur mit 2:1 gewonnen hatte. Grzegorz Lato, mit sieben Treffern Torschützenkönig dieser WM, erzielte wie gegen Schweden das Siegtor und war bei diesem Turnier das, was Gerd Müller für die Deutschen war – der Mann der entscheidenden Tore.

Am 3. Juli machte Müller den Unterschied in einem Spiel, das wohl nie wieder unter vergleichbaren Umständen stattfinden würde. Der Himmel öffnete am Nachmittag knapp neunzig Minuten vor Anpfiff seine Schleusen wie nie zuvor bei dieser Regen-WM, 14 Liter pro Quadratmeter gingen nieder und „die Regentropfen sprangen einen halben Meter vom Boden hoch“, erinnerte sich der Schiedsrichter Erich Linemayr aus Linz. 40 Minuten dauerte der Spuk und hinterließ auf dem Rasen des Waldstadions eine Seenlandschaft. Ein FIFA-Funktionär klopfte besorgt an Linemayrs Kabinentür und fragte, ob er sich „das da draußen mal ansehen“ könne. Was er sah, brachte Linemayr in die Bredouille. 60.000 Zuschauer waren trotz allem gekommen, Millionen saßen an den Bildschirmen und der Terminplan sah eigentlich keinen Spielraum vor. Eine Absage hätte dazu geführt, dass das Finale am Montag ausgetragen worden wäre – und wer wollte das schon?

Linemayr beriet sich mit seinen Assistenten und beschloss, es zu wagen. Mit 40 Minuten Verzögerung pfiff er an. In der Zwischenzeit hatten Ordner und Feuerwehrleute einen rührenden Kampf gegen die Fluten gekämpft und mit Walzen und Schläuchen so viel Wasser wie möglich vom Platz gedrängt. Im ARD-Studio wurden zur Überbrückung derweil Zuschauerfragen eingespielt und ein Herr wollte von Braunschweigs Trainer Walter Johannsen als Experten wissen, ob eigentlich barfuß gespielt werden dürfe.

Am besten wäre wohl gar nicht gespielt worden, zu oft blieben eigentlich gut getimte Pässe in Lachen liegen und mancher Dribbler verlor den Ball unterwegs nicht an einen Gegenspieler, sondern in einer Pfütze. Die Wasserschlacht von Frankfurt wurde dessen ungeachtet ein legendäres Fußballspiel, in dem der deutsche Torwart Sepp Maier über sich hinaus wuchs und den Sieg festhielt, den wieder mal ein Müller-Tor (75.) möglich machte. Uli Hoeneß verschoss zuvor noch einen Elfmeter, aber es war egal – zum dritten Mal hatte Deutschland ein WM-Finale erreicht. DFB-Vize Hermann Neuberger war nicht nur darüber froh, sondern auch über das Einhalten des Terminplans: „Organisatorisch wäre es für uns eine Katastrophe gewesen!“, Kritik mussten sich die Organisatoren dennoch gefallen lassen. „Der Frankfurter Rasen ist eine Weltmeisterschaftsblamage!“, mäkelte der Kicker.

Am Abend zogen bei weit angenehmeren Bedingungen auch die Niederländer in das Finale ein und das im Stile eines Weltmeisters. In Dortmund gewannen sie auch ihr drittes Zwischenrundenspiel und zerstörten die Hoffnungen von Titelverteidiger Brasilien. Wie zuvor Deutschland – Polen war auch diese Partie ein verkapptes Halbfinale, nur diese beiden Teams hatten nach jeweils zwei Siegen eine Finalchance. Die DDR hatte sich mit Anstand verabschiedet, nur ein Freistoß von Rivelino überwand Croy gegen Brasilien und gegen die Holländer hieß es 0:2. Zum Abschluss sprang gegen Argentinien ein 1:1 heraus.

„Wir sind der erste echte Gegner der Niederländer“, tönte Rivelino, „wir zittern nicht, wenn wir den Namen Cruyff hören.“ Ein Mitel fanden sie gegen den Schlachtenlenker der Niederlande dennoch nicht, der nach dem1:0 von Johan Neeskens das 2:0 selbst markierte. Sehr zur Freude der 30.000 Landsleute unter den 54.000 im Westfalen-Stadion. Brasilien erwies sich als schlechter Verlierer, Pereira verdiente sich seinen Platzverweis nach Foul an Neeskens redlich. „Jeder muss dankbar sein, dass die niederländische Mannschaft das Finale erreicht hat. Denn Brasilien, das dem Gesicht des Fußballs in der Vergangenheit oft ein Lächeln aufgesetzt hat, trug 1974 nur noch eine verbissene Grimasse zur Schau“, fand die Daily Mail aus England.

Schmach für Brasilien

In Brasilien trugen enttäuschte Fans symbolisch Särge durch die Straßen, um den Verlust des Weltmeister-Titels zu betrauern und der Staatspräsident sagte den geplanten Empfang der Selecao ab. Platz drei oder vier – darum ging es nun noch – verdiente keinen Beifall im Land des Rekord-Weltmeisters. Entsprechend ist die Leistung am 6. Juli im Münchener Olympia-Stadion, wo die Polen natürlich wieder durch ein Lato-Tor den größten Erfolg ihrer Geschichte erringen.

Das allgemeine Interesse galt natürlich dem großen Finale am Folgetag. Auch die Deutschen waren nun in München eingetroffen und Franz Beckenbauer lud spontan zu einer Gartenparty auf seinem Anwesen in Grünwald. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Öffentlichkeit noch nicht, was Helmut Schön am Tag nach dem Polen-Spiel erfuhr. Jürgen Grabowski, Wolfgang Overath und Gerd Müller erklärten ihren Rücktritt sobald das Finale abgepfiffen sei. Overath war 30, Grabowski wurde es am Tag des Endspiels – damit war man in jenen Zeiten durchaus ein alter Spieler. Aber Müller, gerade 28? Warum? Und war es richtig? Es beschäftigte ihn selbst in den Morgenstunden des 7. Juli in der Sportschule Grünwald. Gerd Müller war schon lange wach an diesem Sonntag, weit vor Sonnenaufgang. Mit Bewunderung blickte er auf das Bett nebenan. Dort lag Franz Beckenbauer, sein Kapitän, und schlief den Schlaf des Genialen. Müller selbst waren nur dreieinhalb Stunden vergönnt gewesen, er hatte keine Ruhe mehr. Natürlich kreisten seine Gedanken um das Finale der Weltmeisterschaft gegen die Holländer, das um 16 Uhr angepfiffen wird. Aber nicht ausschließlich. Nur wenige wussten, dass er Helmut Schön seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt hat.

Er ahnte, dass die Presse Erklärungen haben wollte und dass ihm das nicht behagen würde. Sein Entschluss aber stand fest. Zu selten hatte Gerd Müller seine Familie zu Gesicht bekommen. Tochter Nicole, damals drei, sollte mehr vom Papa haben. So hat er es später erzählt und doch hält sich hartnäckig die falsche Version, er habe aus Ärger über das Bankett, von dem die Frauen ausgeschlossen waren, getan.

An diesem Sonntag ohne Sonne bekam Müller jedenfalls den denkbar besten Abschied. Sein Tor machte Deutschland zum Weltmeister. Die Holländer waren aufgrund ihrer überzeugenden Leistungen leichter Favorit und strotzten vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. „Wir holen uns die Fahrräder zurück“, hieß das Motto von Oranje und Rinus Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der nun schon 30 Jahre zurücklag. Es war kein normales Spiel, gewiss nicht.

Helmut Schön bereitete seine Elf darauf vor und befahl: „Junge, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke.“ Bernd Hölzenbein, nach Grabowskis Rückkehr mittlerweile auf Linksaußen rochiert, hielt sich daran und will Wim Suurbier „ganz, ganz böse und tief“ in die Augen geschaut haben. Als es mit zweiminütiger Verzögerung, man hatte die Eckfahnen vergessen, endlich losging, war nichts von eingeschüchterten Niederländern zu merken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verriet, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Sein eigentlicher Bewacher war Berti Vogts, der im Training vor dem Finale gegen Günter Netzer ran musste, der Cruyff doubeln sollte.

Doch was auf dem Platz passiert, lässt sich nie voraussehen. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und der erste durch Elfmeter. „Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann“, behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schief ging für Holland. In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig.

Bernd Hölzenbein muss mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: „Ganz klar, es war einer. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders.“ Wer ihn in seinem Büro bei Eintracht Frankfurt besucht, bekommt die Szene auf Wunsch vorgespielt, er hat die Aufzeichnung immer parat.

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich übrigens vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe rein gar nichts. Vielleicht raubte ihm die Anspannung die Worte. So wie sie den etablierten Schützen den Mut nahm. Weder Hoeneß noch Müller rissen sich um den Ball und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich und erst als er am nächsten Tag die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Der "Bomber" macht den Unterschied

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war mit Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil dem der Ball mit links versprang und somit wieder ein mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte.

Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed, einer der Letzten, der noch mit bloßen Händen spielte, warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen 45 dramatische Minuten bevor.

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er Schiedsrichter kritisiert hatte. Cruyffs Nerven lagen in den Tagen vor dem Finale blank, hatte er doch angeblich ernstliche Ehe-Probleme bekommen, als die Bild-Zeitung von einer wilden Pool-Party mit nackten Mädchen im Quartier der Elftal berichtete. „Einige holländische Spieler, ein paar einheimische Mädchen im Pool – eigentlich harmlos. Weil nicht herauskam, welche unserer Jungs dabei waren, hatten plötzlich alle Probleme mit ihren Frauen“, gestand Arie Haan später. Cruyff jedenfalls wanderte rauchend nachts durchs Zimmer und raubte Johan Neeskens den Schlaf. Vielleicht lastete zudem der Druck auf ihm, nun zu beweisen, dass er der Beste sei. Das Finale war auch das Duell zwischen Franz Beckenbauer und Johan Cruyff, der tatsächlich zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Doch was brachte es? Was zählte es gegenüber der Auszeichnung, die Beckenbauer stellvertretend für ein ganzes Land in Empfang nehmen durfte, als Taylor die nach der Pause torlos verbliebene Partie abpfiff? Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war – schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein. 20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland und nicht jeder analysierte den Triumph von München so tiefgreifend wie Tribünengast Henry Kissinger, Amerikas deutschstämmiger Außenminister: „Deutschland spielte nach dem Schlieffen-Plan, nach einem komplizierten System mit verzwickt angelegten Spielzügen, nahezu unwiderstehlich, wenn alles wie geplant klappte.“

Einfacher war da doch die Erklärung eines Fußball-Fans aus Recklinghausen, der noch am Finaltag ein Telegramm nach Magdeburg schickte – an Jürgen Sparwasser. „Spari, wir danken Dir. Du hast uns zum Weltmeister gemacht!“. So kann man es auch sehen. Die französische Sportzeitung L’Equipe schwelgte: „Das Endspiel fand in einem wunderbaren Stadion vor einer begeisterten Menge statt und wurde zu einem der reichsten und aufregendsten der Geschichte des Sports – zu einem Abenteuer, das man nicht vergisst.“ Das gilt für die ganze WM.