Haiti schockt Dino Zoff

Die WM hatte ihre erste große Sensation, für eine kleine hatte in dieser Gruppe zuvor Haiti gesorgt. Der WM-Neuling brachte es nämlich fertig, Italiens Torwart Dino Zoff nach 1142 Minuten, die Weltrekord bedeuteten, zu überwinden. Emanuel Sanon hieß der Schütze jenes denkwürdigen Führungstreffers in der 46. Minute, dessen Bedeutung die 1:3-Niederlage von München nicht wirklich schmälern konnte.

Der Verband der Karibik-Kicker war jedenfalls mit dem Abschneiden trotz dreier Niederlagen zufrieden und spendierte vor der Rückreise noch einen Ausflug in den Tierpark Hellabrunn und in den Zirkus. In Gruppe zwei lief nur auf den ersten Blick alles nach Plan, neben Jugoslawien kam Brasilien weiter. Aber wie! Der Weltmeister, dem der große Pelé nicht mehr helfen konnte – er drückte als Co-Kommentator des Radios die Daumen – spielte zwei Mal 0:0 und kam nur gegen Zaire (3:0) zu Toren. Da Schottland gegen den ersten schwarzafrikanischen WM-Vertreter überhaupt noch knapper gewann (2:0), fuhren die Briten schließlich ungeschlagen wegen eines fehlenden Tores heim.

Ein Tor fehlte auch Jugoslawien zum ersten zweistelligen Sieg der WM: Zaire war in Gelsenkirchen beim 0:9 völlig chancenlos und wechselte schon nach 21 Minuten den frustrierten Torwart aus – da stand es 4:0. Auch durch fehlende Regelkenntnis blieben die Afrikaner in Erinnerung, ein Spieler handelte sich eine Verwarnung ein, weil er aus der Freistoßmauer rannte, als der Schiedsrichter den Ball freigab, und diesen vor dem Schützen wegkickte. Mit derartigen Kapriolen rechnete die bundesdeutsche Mannschaft am 22. Juni nicht, auch wenn ihr Gegner „von drüben“ gleichfalls ein WM-Neuling war. „Es geht um mehr als um Fußball“, sagte der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt, erst seit Mai im Amt, bedeutungsschwanger. Sein Vorgänger Willy Brandt war gerade über einen Spitzel der DDR gestolpert (Guillaume-Affäre), was die Brisanz des Spieles nicht gerade minderte. Die DDR wurde von 1780 ausgewählten, der Republikflucht absolut unverdächtigen Fans begleitet. Durch ihre Hammer und Sichel-Flaggen und seltsam anmutende Sprechchöre wie „sieben, acht neun, zehn – klasse“ waren sie leicht identifizierbar im ausverkauften Volkspark-Stadion.

Die ganz große sportliche Brisanz war zwei Stunden vor Anpfiff aber gewichen, als sich herausstellte, dass beide Teams sicher in die Zwischenrunde kommen würden, da Chile gegen Australien nur 1:1 gespielt hatte. Dennoch war die Stimmung im Kader des Gastgebers gedämpft. Die Pfiffe gellten manchem noch in den Ohren und der Lagerkoller war auch schon ausgebrochen. „In Malente wird man wahnsinnig“, zitierte die Bild in großen Lettern Beckenbauer am 20. Juni, nachdem man „drei Wochen eingesperrt“ gewesen war. Aus Angst vor Terroranschlägen wie bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor durften die Spieler das Quartier nur selten und dann in Gruppen verlassen.

Vor den Toren patrouillierten Soldaten mit Maschinengewehren und GSG9-Beamte mit Schäferhunden. Selbst in den Gottesdienst fuhren sechs Katholiken in der Mannschaft unter Polizeischutz und Beckenbauer hatte sogar eine kleine Pistole im Doppelzimmer. Dort war Damenbesuch streng untersagt, am Tag des DDR-Spiels dozierte Schön: „Wenn einige Frauen und Bräute am Sonnabend nach Malente kommen, so habe ich nichts dagegen, wenn sie mit ihren Männern sprechen. Darüber hinaus gehende Kontakte sind jedoch nicht im Sinne der WM-Vorbereitung.“

Aber die Trainingsbelastung – zwei Einheiten täglich – war wiederum nicht im Sinne der Stars und so suchte Beckenbauer Schöns Zimmer auf, um die Sorgen der Mannschaft zu überbringen. „Nach drei Wochen Training fiel uns buchstäblich die Decke auf den Kopf, weil es an Abwechslung mangelte. 1966 und 1970 war das anders gewesen, da hatten wir Malente nach 14 Tagen verlassen und waren in ein anderes Land gefahren. Diesmal litten wir unter der

Monotonie des Ortes, zumal uns die Sicherheitsbestimmungen kaum Bewegungsfreiheit ließen. Ich erklärte dem Bundestrainer, dass wir fast alle ziemlich nervös seien und einige sich übertrainiert fühlten. Er hat das sofort eingesehen und meinem Vorschlag entsprochen, das Programm in jeder Beziehung etwas aufzulockern.“ , schrieb Beckenbauer in seinem WM-Buch. Auf die Leistung hatte das zunächst keine Auswirkung. Zwar hatte Schön noch am Spieltag verkündet: „Es ist ein WM-Spiel, das wir gewinnen wollen. Die Spieler haben versprochen, zu kämpfen und mit Volldampf zu spielen.“, aber auch nach ihrem dritten Auftritt erntete der große Favorit Pfiffe und diesmal stimmte nicht mal das Ergebnis. Gerd Müller traf den Pfosten, Grabowski aus zwei Metern das Tor nicht.

Faires Bruderduell

Die ausgeglichene Partie verlief im Übrigen fairer, als es erwartet wurde. Überliefert sind Dialoge wie „Jetzt muss ich Dich leider mal festhalten“ (Beckenbauer zu Harald Irmscher) oder „Hab ich Dir weh getan? (Konrad Weise zu Gerd Müller nach jedem Foul). Der Dresdener Siegmar Wätzlich bat Overath während des Spiels, einen gemeinsamen Bekannten in Köln herzlich zu grüßen und nach dem Spiel wurden die Trikots getauscht – aber aus Angst vor kritischen Nachfragen der Partei im Schutze der Kabinen. Das blaue Trikot mit der Nummer 14 sollte von besonderem Wert sein. Denn ein gewisser Jürgen Sparwasser aus Magdeburg war der einzige Deutsche, der an diesem kühlen Hamburger Sommerabend ein Tor schoss. Eines, das ihn unsterblich macht. Das Tor, das am 22. Juni 1974 um 21.04 Uhr fiel, ist längst Legende. Sparwasser hat später gesagt. „Wenn ich mal sterbe, muss auf dem Grabstein nur ‚Hamburg 1974’ stehen und jeder weiß, wer drunter liegt.“ 1998 erschien sogar ein Buch mit dem Titel „Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?“. Seine Popularität erschien den Verantwortlichen des Teams von Georg Buschner schon mit Abpfiff so groß, dass sie ihm einen spontanen Reeperbahn-Bummel mit den Kameraden verboten. „Ich durfte nicht mit. Man hatte Angst, dass ich auf der Straße erkannt werde“, erzählte Sparwasser.

Doch die mussten eher die Spieler der westdeutschen Mannschaft haben, über die sich der Zorn der Öffentlichkeit ergoss. „So nicht, Herr Schön!“, titelte die Bild am Sonntag und der Kicker forderte: „Es muss etwas geschehen. Grabowski ist nicht mehr tragbar und Flohe kein echter Linksaußen. Hölzenbein und Herzog sollen Außen spielen“. Das ging Franz Beckenbauer noch nicht weit genug. Schon im Bus faltete der Kapitän die Mitspieler zusammen. „Vor allem dem Uli Hoeneß habe ich gesagt, dass ihm im nächsten Spiel gegen Jugoslawien der Aufenthalt auf der Ersatzbank gut tun würde.“ Er sagte noch viel mehr in der zweiten langen Nacht von Malente, das man jetzt als Gruppenzweiter verlassen konnte. Während der gebürtige Dresdener Helmut Schön nach kurzer Standpauke mit Magenschmerzen ins Bett ging, redeten die Führungsspieler in der Küche Tacheles. „An Schlaf dachte niemand und ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam. Ich tat eben das, was der Bundestrainer wohl auch gemacht hätte, wozu er aber viel zu vornehm gewesen ist“, erzählte der plötzlich so wilde Kaiser. In diesen Stunden, erzählt man sich, wurde in der Küche von Malente der Weltmeister 1974 gebacken.