Viertelfinale gegen Frankreich

Die deutsche Mannschaft muss am 4. Juli das Viertelfinale eröffnen. Im Sehnsuchtsort Maracana wartet Frankreich. Erstmals spielen bei dieser WM Khedira und Schweinsteiger gemeinsam, im Sturm versucht Löw es mit Altmeister Klose und Lahm steht in der Viererkette. "Eistonnen-Mann" Per Mertesacker rutscht auf die Bank. Diesmal spricht hinterher niemand von taktischen Schwächen. Eine disziplinierte Leistung und ein großartiger Torwart sind der Schlüssel zum Sieg, aber ohne Tore geht es nicht. Wie gegen Portugal glückt Mats Hummels, gegen Algerien wegen Fieber pausierend, nach einem Kroos-Standard (Freistoß) ein Kopfballtor (13.). Es ist das Tor des Tages und bringt Deutschland zum vierten Mal in Folge ins Halbfinale.

Die Erkenntnis von Maracana: Löw hat seine Mannschaft gefunden. Und die Bild neue Zuversicht. "Jetzt sind wir WM-Favorit!" Auch wenn der nächste Gegner Brasilien heißt. Der Gastgeber indes feiert gegen Kolumbien einen Pyrrhus-Sieg (2:1), verliert er doch seinen großen Hoffnungsträger Neymar. Kolumbiens Zuniga rammt ihm in der 88. Minute das Knie in den Rücken, Neymar scheidet mit einer schweren Lendenwirbelverletzung aus. Sein Transport ins Krankenhaus wird live übertragen, Hunderte versammeln sich vor dem Hospital wie zu einer heiligen Messe und beten für ihren Messias.

Das Opfer des unfairsten WM-Spiels (54 Fouls!) fällt für den Rest des Turniers aus und hat nur eine Grußbotschaft für das Volk: "Mein Traum als Spieler ist ein WM-Finale, aber unser Traum vom WM-Titel ist noch nicht vorbei." Der Kolumbiens schon, doch die Heimat feiert die Helden: "Ihr seid die Besten der Geschichte", schreibt El Tiempo. Noch ein Trost: James Rodriguez verwandelt einen Elfmeter und wird WM-Torschützenkönig (sechs Treffer).

Argentinien kann auch ohne Messi-Tore gewinnen, zeigt sich in Brasilia. Gonzalo Higuain trifft schon nach neun Minuten gegen Belgien, auch hier passiert nichts mehr auf der Anzeigetafel. "Es war taktisch und strategisch ein erstklassiges Match, wir sind zufrieden", kommentiert Alejandro Sabella 90 ereignisarme Minuten aus Trainersicht. Noch zäher sind die 120 Minuten im einzig torlosen Viertelfinale zwischen Holland und Costa Rica. Die Europäer können ihre Dominanz (64% Ballbesitz) nicht nutzen, aber sie haben den clevereren Trainer. In letzter Minute wechselt Louis van Gaal den Torwart aus, da Tim Krul der bessere Elfmetertöter sei. Es reicht schon, wenn der Gegner das nur denkt.

Krul fällt mit unsportlichen Psychospielchen gegenüber den Schützen etwas aus der Rolle, hält dann zwei Bälle und ist der Held des Abends. Louis van Gaal: "Ich bin ein bisschen stolz, dass dieser kleine Trick uns weitergebracht hat." Und der ausgewechselte Stammkeeper Cillessen, der mit Wasserflaschen um sich wirft, beruhigt sich wieder ("Das war blöd von mir."). Die Mittelamerikaner reisen ungeschlagen ab, denn "ein Elfmeterschießen ist keine Niederlage", beteuert Torwart Navas. "Wir haben Wunderbares gegen große Kaliber des Fußballs erreicht und eine gute Show gezeigt", resümiert Trainer Jorge Luis Pinto. Weiter aber geht sie für die anderen.

7:1 im Halbfinale: Deutschland schockt die Gastgeber

Das Halbfinale erreichen zwei Südamerikaner und zwei Europäer und es bringt eine Rarität. Obwohl Deutschland und Brasilien die Länder mit den meisten WM-Teilnahmen sind, sind sie erst einmal (im Finale 2002) aufeinander getroffen. Bis zu jenem unglaublichen Abend des 8. Juli in Belo Horizonte, wo noch viel mehr Ungewöhnliches geschieht. Als die Mannschaften ins Stadion einlaufen, ahnt niemand, dass über das nun folgende Spiel Bücher erscheinen werden, dass das Ergebnis in Sprichwörter einfließen wird und dass die ganze Fußballwelt vor schierem Erstaunen für einen Moment den Atem anhalten wird.

"In 50 Jahren werden unsere Kinder wissen, dass Brasilien ein WM-Halbfinale zu Hause mit 1:7 gegen Deutschland verloren hat", sagt der große Trainer Jose Mourinho, ein Portugiese, noch am selben Abend, da in Deutschland längst Straßenfeste ausgebrochen sind – so kühl sich der Sommer 2014 auch wieder einmal zeigt.

Auch in Belo Horizonte sind es am 8. Juli nur 22 Grad, angenehm auch für Mitteleuropäer. Warum kommt es an diesem Tag zu einem solchen Ergebnis, warum ist das Spiel schon zur Halbzeit (0:5) entschieden?

Brasilien bricht unter der Last der Erwartungen ein. Schon vorher war zu beobachten, dass die Spieler bei der Hymne weinen, sogar beim Training fließen Tränen. Scolari bestellt am 7. Juli erneut die Team-Psychologin ein, weil die Spieler nach Neymars Ausfall zu hadern beginnen. Regina Brandao hält nicht viel von der Schweigepflicht und erzählt den Reportern: "Auf allen lastet große Verantwortung. Sie sagten mir, dass es Neymar war, der ihnen den Spirit gab. Aber sie sagten auch: das Leben geht weiter."

Derartige Probleme hat die deutsche Elf nicht, auch der am 8. Juli publizierte Wechsel von Toni Kroos zu Real Madrid sorgt nicht für Unruhe. Zu sehr gefestigt ist die deutsche Equipe. Was Englands Steven Gerrard nach der WM gesagt hat, trifft es ziemlich gut: "Argentinien hat Messi, Brasilien hat Neymar, aber Deutschland hat eine Mannschaft."

Müller, Klose, Kroos, Kroos, Khedira: Fast jeder Schuss sitzt vor der Pause

Und diese Mannschaft in ihren rotschwarzen "Auswärtstrikots" spielt groß auf. Fast alles gelingt, fast jeder Schuss ist ein Treffer und mit jedem schwinden Gegenwehr und Organisation der Brasilianer. Thomas Müller macht den Anfang (11.), freistehend kommt er nach einer Ecke zum Schuss. Schon das ist ein Signal. Auch Klose kommt frei zum Schuss, darf sogar noch nachschießen und avanciert mit seinem 2:0 (23.) zum WM-Rekordschützen (16 Tore). Es folgen sechs magische Minuten, die keiner vergessen wird, der sie erlebt hat. 0:3 Kroos (24.), 0:4 Kroos (26.), 0:5 Khedira (29.). Alles herausgespielte Tore, alles schöne Tore.

"Das ist ein Spielverlauf, der zu den sensationellsten in der Geschichte des Weltfußballs gehört", heißt es in der ARD-Rundfunk-Reportage. Das Fernsehen zeigt derweil weinende Menschen in gelben Trikots, die im Stadion und vor Großleinwänden fassungslos das Debakel ihrer Selecao mitansehen müssen. Es kommt nach der Pause, während der sich die Deutschen vornehmen, den Gegner nicht vorzuführen und seriös zu Ende zu spielen, noch etwas dicker.

André Schürrle beweist wieder seine Joker-Qualitäten und schießt noch zwei Tore, ehe Oscar in letzter Minute ein Ehrentor gegönnt wird - was die Ehre nicht mehr retten kann. "So etwas wird es nie wieder geben. Wir bitten um Vergebung bei der Bevölkerung.", sagt der geknickte Trainer Felipe Scolari. Bayern-Verteidiger Dante, der an diesem Tag sein WM-Debüt gibt, stellt fest: "Deutschland ist uns sechs Jahre voraus und wir müssen daraus unsere Lehren ziehen." Das Ergebnis, auf Portugiesisch "sete um", steht in Brasilien mittlerweile für ein großes Missgeschick wie Waterloo für die Franzosen, ebenso wie ein "gol de almanha".

In Deutschland verschlägt es einigen die Sprache, Bild titelt am nächsten Tag "Ohne Worte" und widmet jedem Tor eine eigene Seite. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach bedankt sich bei der Mannschaft per Bordmikrofon auf dem Rückflug und sieht "Fußball von einem anderen Stern". Nicht nur er.

Das andere Halbfinale kann da ganz unmöglich mithalten, dafür ist es wenigstens spannend. Doch Tore fallen zwischen Holländern und Argentiniern in Sao Paulo erst im Elfmeterschießen und diesmal ist van Gaal nach bereits drei Wechseln gezwungen, den Torwart drin zu lassen. Cillessen hält keinen einzigen Ball, dagegen scheitern Vlaar und Sneijder an Sergio Romero. Arjen Robben, der seinen Elfmeter verwandelt, ist geknickt: "Wir hatten es eigentlich mehr verdient. Dieses Ausscheiden ist tragisch." Sie trösten sich mit Platz drei gegen erneut desolate Brasilianer, deren Versuch der Wiedergutmachung misslingt (0:3).

WM-Finale im Maracana: Götzes Sternstunde

Und so stehen am 13. Juli mit Deutschland und Argentinien zwei klassische Turniermannschaften im Finale - die Paarung gibt es schon zum dritten Mal nach 1986 und 1990. Nach dem 7:1 sind die Deutschen klarer Favorit, zumal die Brasilianer ihren Nachbarn den Titel noch weniger gönnen als ihren Bezwingern. Thomas Müller aber warnt: "Wir haben noch nichts erreicht. Bei Anpfiff steht es wieder 0:0." Bei Anpfiff steht auch einer in der Elf, der zuvor nur zwei WM-Minuten gespielt hat. Der Mönchengladbacher Christoph Kramer springt kurzfristig für den beim Warmlaufen Beschwerden verspürenden Khedira ein und hat nicht mal mehr Zeit, nervös zu werden.

Noch eine merkwürdige Geschichte rankt sich um Kramer. Nach 17 Minuten erhält er einen Ellenbogenschlag von Garay an den Kopf und spielt fortan im Blindflug weiter. Er weiß nicht mehr wo er ist und fragt den Schiedsrichter sogar, ob das das Endspiel sei. Die Gehirnerschütterung kostet ihn die Erinnerung an einige der bedeutendsten Minuten seines Lebens. Löw muss ihn früh auswechseln und bringt André Schürrle, was sein Gutes haben wird. In dem intensiven Kampf fallen trotz hochkarätiger Chancen auf beiden Seiten lange keine Tore.

Benedikt Höwedes, der sich in ungewohnter Rolle als Linksverteidiger in jedem Spiel bewährt, köpft Sekunden vor der Pause an den Pfosten. Higuain trifft frei vor Neuer den Ball nicht richtig und Messi verfehlt nach der Pause um Zentimeter das Tor. Es ist eines jener seltenen 0:0-Spiele, die auf hohem Niveau stehen - eines WM-Finales würdig.

In der 90. Minute wechselt Löw Mario Götze ein und flüstert ihm ins Ohr: "Zeig der Welt, dass Du besser bist als Messi." Und er zeigt der Welt, wer Mario Götze ist. Als sein Freund Schürrle in der 113. Minute links davon zieht und gefühlvoll vors Tor flankt, da antizipiert er das, nimmt den Ball mit der Brust an und schlenzt ihn im Fallen mit links ins lange Eck. Das Tor eines Artisten macht Deutschland zum Weltmeister. Noch müssen sieben bange Minuten vergehen, Schweinsteiger spielt mit blutiger Platzwunde und wird zum Symbol deutscher Unbeugsamkeit. Dann schießt Messi in letzter Minute einen Freistoß übers Tor und alle ahnen: es ist geschafft. Der Abpfiff von Nicola Rizzoli schafft Fakten - Deutschland ist Weltmeister. Als erste europäische Mannschaft in Südamerika, als torreichste WM-Mannschaft aller Zeiten (18 Treffer, mit Brasilien 2002), als das Team mit den meisten Joker-Toren (5) und das, das den besten WM-Torjäger aller Zeiten stellt. Miro Klose tritt im Triumph zurück, mit ihm überraschend auch Kapitän Philipp Lahm und Per Mertesacker.

Halb Deutschland hat das Finale gesehen: 34, 65 Millionen ARD-Zuschauer sind Rekord für eine deutsche Fernsehsendung. Nach einer langen Feiernacht in Rio werden die Helden am Dienstag, den 15. Juli, am Brandenburger Tor von einer unübersehbaren Menschenmenge gefeiert. Die Generation Schweinsteiger, der man viel Talent bescheinigt hat, aber auch, keine Turniere gewinnen zu können, ist am Ziel und hat ihre Kritiker widerlegt. Der Architekt des Triumphes, Bundestrainer Joachim Löw, hat es kommen sehen: "Die Arbeit begann vor zehn Jahren mit Jürgen Klinsmann. Seitdem haben wir uns kontinuierlich gesteigert und spielerisch weiterentwickelt. Nur mit deutschen Tugenden wäre es nicht gegangen. Der Titel war jetzt fällig."