"Es kann nur besser werden"

DFB-Präsident Hermann Neuberger mäkelte: „Das war Fußball wie vor 20 Jahren – stoppen, gucken, abgeben. Die meisten von uns spielten aus dem Stand.“ Hinterher häuften sich die Stimmen, Eröffnungsspiele endlich abzuschaffen. „Sie stehen immer unter ungünstigen Vorzeichen“, sagte der große Pelé, der wieder als TV-Experte vor Ort war. Auf dem Rückflug gab Berti Vogts die fatalistische Parole aus „Es kann nur besser werden“ und schon am nächsten Morgen hatte Schön nach kurzer Nacht seine neue Elf gefunden. Quasi im Spaziergang, den er vor dem Frühstück zu machen pflegte. Bernard Dietz kam in der Abwehr für Herbert Zimmermann, Dieter Müller und Karl-Heinz Rummenigge für Erich Beer und Rüdiger Abramczik.

Diesmal lief alles gut in Cordoba, das als Synonym für den Tiefpunkt der deutschen WM-Geschichte steht. Tatsächlich wurde in diesem Stadion aber auch der bis 2002 höchste WM-Sieg erzielt – ein 6:0 gegen Mexiko. Alle Tore waren herausgespielt, eines schöner als das andere. Rummenigge und Flohe trafen doppelt, der 20jährige Hans Müller aus Stuttgart und Namensvetter einfach.

Nun musste Schön umschwenken und aufkommende Euphorie bremsen: „Wie Weltmeister habt ihr noch nicht gespielt!“. Aber die Medien waren zufrieden. „Nach 6:0 endlich der Durchbruch“ titelte der Kicker und Schön strahlte: „Wir haben heute unsere Stamm-besetzung gefunden.“ Das glaubte er so fest, dass er in den nächsten Tagen gar in zwei Gruppen trainieren ließ, was bei Reservist Beer sauer aufstieß: „Ich verstehe das nicht. Das ist doch eine Degradierung.“

Die neue Stammelf lief derweil wieder in Cordoba gegen Außenseiter Tunesien auf. Ein Punkt wurde noch benötigt zum Weiterkommen, zwei für den Gruppensieg. Denn Polen hatte Tunesien mühsam geschlagen (1:0), wonach Trainer Jacek Gmoch sein Team „einen Haufen geistig Minderbemittelter“ nannte. Auch Deutschland tat sich schwer gegen Tunesien und so wäre Cordoba fast schon elf Tage früher zum Synonym deutschen Versagens geworden. Denn die Schön-Elf erlitt einen herben Rückfall und die Afrikaner spielten munter auf. Berti Vogts gestand: „Wir hatten manchmal wirklich Angst vor einem Gegentor.“ Schon in der Pause wurde Schön deutlich: „So geht es nicht weiter, so gewinnen wir hier keinen Blumentopf.“ Aber es ging so weiter, vielleicht auch weil Schön als einziger Trainer bei dieser WM in der Vorrunde überhaupt nicht auswechselte. Inklusive der WM 1974 geschah dies gar schon zum fünften Mal in Folge – das Reser-vistendasein war unter ihm offenkundig ein besonders hartes Brot.

Harte Selbstkritik von Sepp Maier

Wie auch immer, das neu gewonnene Selbstbewusstsein war auf dem Weg ins Stadion verloren gegangen, die Kreativität auch und am Ende waren sie im deutschen Lager froh über den einen Punkt, den so ein torloses Spiel einbringt. Er reichte ja für den zweiten Platz hinter Polen, das Mexiko 3:1 schlug, und brachte jedem Spieler 20.000 D-Mark ein. Mit Werbe-Einnahmen kamen sie auf 85.000 D-Mark. Im deutschen Quartier herrschte dennoch Verzagtheit statt Freude vor. Sepp Maier richtete hart: „Unsere Leistung war eine einzige Katastrophe“. Seine indes nicht, der Münchner überstand als einziger WM-Torhüter die Vorrunde ohne ein Gegentor. Dieses Gütesiegel verleitete aber niemand zu Blütenträumen. Man sah Helmut Schön danach regelrecht deprimiert im Gespräch mit der Presse. „Nun sagen Sie mir doch, was ich besser machen könnte oder wen ich noch bringen sollte“, ging er offen mit seiner Ratlosigkeit um.

Trost fand Schön nur in der Aussicht, dass man in der Zwischenrunde – erneut eine Vierergruppe – nicht mehr in jedem Spiel Favorit sei. In der Mannschaft brachen Gräben auf. Kapitän Vogts murrte: „Einige haben schon wieder gedacht, sie seien die Größten.“ Klaus Fischer berichtete in seinem mit Uli Hoeneß herausgegebenen WM-Buch: „Vor allem im Spiel gegen Tunesien machte sich die Unsitte breit, dass einer den anderen beim geringsten Fehler gleichsam zusammenstauchte.“

Für die meiste Aufregung sorgte aber ein angebliches Interview von DFB-Präsident Hermann Neuberger, den der Sport-Informations-Dienst so zitierte: „Ich habe den Eindruck, dass unsere Mannschaft nicht genügend trainiert. Vielleicht fehlt ihr die Kondition.“ Auch seien „zwei Spieler dabei, die für Unruhe sorgen. Ich habe das schon vor dem Abflug prophezeit.“ Neuberger dementierte entschieden; vieles sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Der SID blieb bei seiner Darstel-lung und die Öffentlichkeit ratlos. Schön aber war trotz des Herberger-Dementis „tief getroffen“ und nahm an, „irgend-etwas in der Richtung wird geredet worden sein.“ Es blieb eine unerfreuliche WM aus deutscher Sicht, obwohl die Mannschaft ungeschlagen war und kein Tor kassiert hatte.

Andere hätten etwas gegeben für diese Bilanz. Allen voran die Franzosen, die in der Gruppe 1 den vielleicht besten Fußball spielten und doch bereits nach der zweiten Partie ausgeschieden waren. Sie unterlagen Italien und Gastgeber Argentinien jeweils mit 1:2. Dennoch setzten sie ein paar Marksteine der WM-Historie: Bernard Lacombe schoss gegen Italien das schnellste Tor aller Zeiten (1. Minute), Trainer Michel Hidalgo setzte alle drei Torhüter ein und die Equipe sorgte in Mar del Plata für eine vierzigminütige Spielverzögerung. In der bedeut-ungslosen Partie gegen die gleichfalls ausgeschiedenen Ungarn wollten beide Weiß tragen. Die FIFA hatte aber Blau für Frankreich angeordnet, doch die Franzosen hatten keine blauen Trikots mehr dabei. Nun raste ein Polizeiwagen mit Blaulicht zum Vereinsheim des örtlichen Zweitligisten Kimberley Mar del Plata und organisierte einen Satz grün-weiß gestreifter Trikots, mit denen sich die blauen Hosen der Franzosen geradezu bissen.

Ungarn verlieren im "Kostüm"

In dieser Kostümierung kamen sie immerhin zu ihrem ersten WM-Sieg (3:1). Ungarns Trainer Lajos Baroti schwänzte die Pressekonferenz und trat zurück. Zu enttäuschend war das Comeback der Erben von Puskas und Hidegkuti verlaufen. Ausschlaggebend war die Start-Partie gegen Argentinien (1:2), als die Stars Nyilasi und Töröcsik in den Schlussminuten vom Platz geflogen waren.

Ganz anders dagegen die Stimmung der Italiener. Ihnen hatte die Heimatpresse attestiert, die am schlechtesten vorbereitete die Mannschaft dieser WM zu sein. Stattdessen wurde sie zumindest die Beste der Vorrunde, denn nur Enzo Bearzots Team gewann alle Spiele. Das 1:0 über Argentinien durch ein Tor des früh ergrauten Roberto Bettaga hatte unangenehme Folgen für die Gastgeber, mussten sie doch nun als Gruppenzweiter nach Rosario ausweichen, wo nur 40.000 Zuschauer Platz fanden. Italien dagegen blieb im doppelt so großen River-Plate-Stadion.

In der Gruppe 3 spielte sich die größte Überraschung ab. Hier gewann mit Österreich eine Mannschaft, der man allseits die frühe Heimreise prophezeit hatte. Lästermaul Max Merkel, aus privaten Gründen in Argentinien, reiste noch vor dem ersten Spiel seiner Landesleute wieder ab, „weil ich bei dem Begräbnis nicht dabei sein will. Die gewinnen doch kein Spiel“. Aber auch Experten und Meistertrainer können irren. Die Mannschaft von Trainer Helmut Senekowitsch überraschte alle und erreichte schon nach zwei Spielen die Zwischenrunde. Spanien (2:1) und Schweden (1:0) wurden bezwungen und schließlich auf die Heimreise geschickt.

Wunden gab es bis dahin nur auf dem Trainingsplatz, als ein Hund den Spieler Eduard Krieger in den Hintern biss. Erst im letzten Spiel leisteten sich die Österreicher eine ehrenhafte Niederlage gegen Favorit Brasilien (0:1), das wie 1974 nur schwer ins Turnier kam und mit zwei Remis begonnen hatte. Nach dem 0:0 gegen Spanien wurde Trainer Coutinho angeblich entmachtet und musste sich nun den Anweisungen des nationalen Sportverbandes beugen.

Referee Thomas sorgt für Verwirrung

Zuvor, beim 1:1 gegen Schweden, ereignete sich eine der kuriosesten Szenen der WM: Nach einer Ecke in allerletzter Minute köpfte Zico den Ball zum vermeintlichen Sieg ein. Doch Schiedsrichter Thomas aus Wales hatte Sekundenbruchteile zuvor abgepfiffen. Warum er dann die Ecke noch gab, blieb sein Geheimnis. „Das ist unglaublich, so was habe ich noch nicht erlebt“, schimpfte Coutinho über das Tor, das sozusagen in der Luft hängengeblieben war.

In Gruppe vier fielen die meisten Tore, was man erwarten durfte. Doch das Tabellenbild verblüffte die Fachwelt. Nicht Vize-Weltmeister Holland und auch nicht der selbsternannte WM-Favorit Schottland grüßte von der Spitze, sondern Peru. Die Mittelamerikaner hatten gleich zum Auftakt die großmäuligen Schotten geschlagen (3:1) und in Doppel-Torschütze Teofanis Cubillas den überragenden Spieler der Vorrunde. Die Schotten, wurde eifrig kolportiert, waren Opfer ihres Lagerlebens geworden. In Alta Gracia, schrieb der Kicker, kam es in der Hotelbar jeden Abend „zu einem regelrechten Trinkgelage, wobei Spieler und Funktionäre in fröhlicher Eintracht um die Wette schluckten.“ Als die Schotten endlich abreisten, atmete der Hoteldirektor erleichtert auf: „Dass Weltstars sich im betrunkenen Zustand zum Teil splitternackt ausziehen und im Whiskey-Delirium den Korridor mit der Toilette verwechseln, hat uns alle sehr geschockt“, teilte Jesus Garcia der Welt mit.

Noch ein Schatten fiel auf das Gastspiel der Schotten: in Willie Johnston, der ein Nahrungsergänzungsmittel nahm, hatten sie auch den ersten ertappten Doping-Sünder der WM-Historie, er wurde ein Jahr gesperrt. Letztlich gestolpert sind die Schotten aber über WM-Neuling Iran, der ihnen beim 1:1 seinen einzigen Punkt abtrotzte. Dass sie nicht per Zufall zur WM gelangt sind, bewiesen die Briten beim abschließenden 3:2 über Holland, das nur dank eines Tores im Rennen blieb.

Die Elf des Österreichers Ernst Happel spielte im Jahr eins nach Cruyff nicht gerade überzeugend in der Vorrunde, nur gegen den Iran (3:0) wurde gewonnen. Immerhin stellte Rob Rensenbrink in Argentinien einen WM-Rekord auf: vier Elfmeter-Tore schaffte sonst niemand. Zwei davon fielen gegen den Iran, der mit einiger Wut im Gepäck abreiste. „Wir glaubten, hier einiges lernen zu können. Was wir aber gesehen haben, ist wie man von Schiedsrichtern betrogen wird. Gegen uns wurden vier Strafstöße verhängt und keiner war berechtigt“, schimpfte Trainer Mohadjerani. Und doch fielen in der Vorrunde so wenig Tore (60) wie nie bei einer WM, seit es Gruppenspiele gibt (1950). Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf das Turnier, das sich aber einer guten Resonanz (Stadionauslastung: 81,81 %) erfreute.

Kaltz rettet mit der Hacke

Helmut Schön sagte bedauernd: „Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die Taktik, die von der Angst vor der Niederlage geprägt wird, die Schönheit des Fußballspiels zerstören kann.“ Allgemein wurde auch ein Mangel an Persönlichkeiten beklagt. In der Zwischenrunde sollten neue Helden geboren werden. In der Mannschaft von Schön, die in Buenos Aires gegen Italien ran musste, bewarb sich Manfred Kaltz zumindest um ein Sonderlob. Spektakulär verhinderte er in Buenos Aires mit der Hacke in der 34. Minute das erste deutsche Gegentor dieser WM, nachdem Bettega Sepp Maier schon überwunden hatte.

Die Akrobatiknummer war einer der wenigen Höhepunkte dieser immerhin sehr kampfbetonten neunzig Minuten, nach denen noch nichts verloren war. Aber in Deutschland war man allmählich der Verzweiflung nahe. Wieder saß die Nation neunzig Minuten vor dem Fernseher und wieder wartete sie vergeblich auf Tore – das dritte 0:0 im vierten Spiel setzte die Fans des Weltmeisters auf Diät und zehrte an den Nerven. Immerhin aber; die Abwehr stand. „Die Deutschen bauten eine Mauer aus Muskeln auf und da die Phantasie nicht gerade eine nationale Eigenschaft der Deutschen ist, wiederholten sie immer wieder die gleichen Spielzüge“, bediente die römische Zeitung Il Messagero das Klischee vom teutonischen Kraftfußball.

Auch nach diesem Unentschieden gab es Verlierer; die Kölner Herbert Zimmermann und Heinz Flohe schieden verletzt aus. Flohe konnte vor Schmerzen nicht mal mehr richtig sitzen und reiste vorzeitig ab. Klaus Fischers Lippe war nach einem Ellenbogencheck von Bellugi aufgeplatzt und seine Zähne wackelten. Italien war eben der erwartet harte Gegner, der immerhin erstmals nicht gewonnen hatte bei dieser WM.

Wie man Tore schießt, zeigten im Parallelspiel die Holländer, die von irgendeiner Fee wachgeküßt worden sein mussten. Vielleicht wollten sie auch nur ihrem Trainer Ernst Happel die Schmach ersparen, sich ausgerechnet gegen dessen Landsleute zu blamieren. Jedenfalls siegten die Holländer mit 5:1 und die Österreicher trösteten sich mit der Anwesenheit ihrer Liebsten. Ein Sponsor hatte zu dieser Partie alle Spielerfrauen einfliegen lassen – alle die wollten. Es waren 14. Natürlich fehlte es nicht an hämischen Kommentaren und so mancher sah einen Zusam-menhang zwischen dem plötzlichen Leistungseinbruch und dem Damenbesuch.

Unentschieden in der Revanche für München

Nun kam es in dieser Gruppe zur WM-Revanche von München. In Cordoba trafen Deutschland und Holland aufeinander und boten eines der besten Spiele dieser WM. Es war unterhaltsamer und aufregender als alle vorherigen Spiele mit deutscher Beteiligung, nur das

Ende kam einem bekannt vor – Unentschieden Nummer vier, diesmal immerhin ein 2:2 (1:1). Sechs Minuten fehlten Schöns Elf zum Sieg, der nach Toren von Abramczik und Dieter Müller und Arie Haans 30-Meter-Ausgleich bis zur 84. Minute greifbar nahe erschien. Dann versetzte Rene van de Kerkhof die halbe Abwehr und Rolf Rüssmanns Rettungsversuch mit der Hand schlug auch fehl. Schön wurde hart kritisiert, weil er wieder nicht auswechselte. Warum, das wollte sogar ein Anrufer aus Wiesbaden wissen, der sich nach Ascochinga zum Bundestrainer durchstellen ließ.

Auch Buchautor Klaus Fischer haderte später: „Der Bundestrainer hat einen ganz entscheidenden Fehler gemacht. Er hätte die Defensivspieler Schwarzenbeck und Cullmann auf alle Fälle einwechseln müssen. Es gab bei diesem Spielstand kurz vor Schluss nur noch eines: stur verteidigen.“ Mit diesem Resultat war der deutsche Traum vom Finale im Grunde nur noch etwas für Phantasten. Zwei Dinge hätten eintreffen müssen: Italien (1:0 über Österreich) und Holland mussten am 21. Juni Remis spielen und Deutschland Österreich mit mindestens 5:0 schlagen.

Das näherliegende Ziel war das Erreichen des Spiels um Platz drei, Schön träumte nun von einem Abschiedsspiel gegen Brasilien. Dann kam der Tag, an dem alle Träume platzten und der bis heute ein Makel in der DFB-Geschichte ist. Rückblickend und aus der Distanz von 32 Jahren betrachtet erscheint es etwas übertrieben, von einer „Schmach“ zu sprechen, immerhin hatten die Österreicher ihre beste Mannschaft nach dem Krieg beisammen. Sie hatten eine hervorragende WM gespielt und mit Hans Krankl Europas Torjäger des Jahres in ihren Reihen, dem für Rapid Wien 41 Tore gelungen waren. Nun warb der VfB Stuttgart um ihn.

Rummenigges Tor, Vogts' Eigentor

Aber für viele waren sie eben doch nur die kleinen Österreicher, deren beste Zeiten 45 Jahre zurücklagen. Und auf der anderen Seite stand immer noch der Weltmeister. Rummenigge, einer der wenigen WM-Gewinner im Kader, sorgte auch für die programmgemäße Führung, die in die Pause gerettet wurde. Schon da aber sah man, dass diese Elf nicht mehr zu einem Kantersieg in der Lage war, eher schon „in Gedanken auf der Heimreise“ (FAZ). Österreich aber konnte frei aufspielen und noch zulegen. Ein Eigentor von Berti Vogts führte zum 1:1, Unruhe kam auf. Das kleine Finale war nun auch in Gefahr und als sich Krankl in die Luft legte und ein Traumtor schoss, da war es weit entrückt. Aber Bernd Hölzenbein glich köpfend aus und rannte an die Linie: „Reicht das?“, fragte er. „Ja“, wurde ihm signalisiert, weil Italien gegen Holland 1:2 zurücklag.

Besser hätten sich wohl alle auf den Gegner konzentriert, denn in der 88. Minute schrieb Krankl Sportgeschichte. Er verlud Rüssmann und schoss flach unter Maier ein zum 3:2-Endstand, der ganz Österreich „narrisch“ machte. Es war der erste Sieg über die „Piefkes“ nach 47 Jahren. Auch wenn es der deutschen Seele weh tut, hier noch mal der Kommentar von ORF-Reporter Edi Finger: „Da kommt Krankl in den Strafraum – Schuss…Tooor, Toor, Tooor, Toor, Toor!. I wear narrisch! Krankl schießt ein – 3:2 für Österreich. Meine Damen und Herren, wir fallen uns um den Hals, der Kollege Rippel, der Diplom-Ingenieur Posch – wir busseln uns ab…“. Noch heute servieren sie in Wien auf Wunsch eine Cordoba-Platte, bestehend aus drei österreichischen Käsekrainern und zwei deutschen Bratwürsten. Wer den Schaden hat…

In die verständliche Freude der Österreicher mischte sich bei neutralen Beobachtern Bedauern über den Abschied für Helmut Schön, der bei dieser WM sicher nicht alles richtig gemacht hat. Aber einen besseren Abgang hätte nach 14 Jahren als Bundestrainer allemal verdient – als den durch den Hinterausgang des Frankfurter Flughafens, wo die Mannschaft von rund 1000 Anhängern mit nicht eindeutig erkennbaren Absichten empfangen worden war. „Ich hätte mir wahrhaftig einen besseren Abschluss meiner Tätigkeit gewünscht“, sagte Schön. Seine Analyse gab allen recht, die von einem schlechten Teamgeist sprachen. Schön bilanzierte: „Unsere Mannschaft erwies sich nicht als Persönlichkeit. Es gibt Einzelspieler, die eben Persönlich-keiten sind – oder nicht. Das gilt auch für Mannschaften. Nie kam bei uns gemeinsame Selbstsicher-heit auf. Das war mein großer Kummer und der Grund für unsere wechselhaften Leistungen.“

Es folgten die üblichen medialen Scharmützel, überall wurde „abgerechnet“. Bernd Hölzenbein etwa kritisierte Schöns Aufstellungen offen und musste damit leben, dass der vorläufig nicht mehr mit ihm sprach. Und Bernard Dietz beklagte öffentlich: „Die Einstellung fehlte. Wir waren keine geschlossene Einheit. Wir verdienen zwar sehr viel Geld, aber wir hätten auch an die Menschen daheim denken sollen.“ Im Kicker drehte Karl-Heinz Heimann den Scheinwerfer und beleuchtete eine unangenehme Wahrheit: „Wir müssen Abschied nehmen von der liebgewonnenen These, der deutsche Fußball sei der beste der Welt.“

Südamerikanischer Klassiker ohne Sieger

Das Leben ging weiter, das Turnier auch. Ohne Deutschland, das erstmals seit 1962 nicht unter die letzten Vier kam. In der anderen Gruppe waren die Rivalen Argentinien und Brasilien zusammengetroffen. Sie trennten sich in Rosario torlos und nun kam es darauf an, wer die Außenseiter Polen und Peru in der Addition höher abkanzelte. Dabei kam es am letzten Spieltag der Zwischen-runde zu einem Resultat mit fadem Beigeschmack. Argentinien wusste aufgrund des gerade abgepfiffenen Spiels der Brasilianer gegen Polen (3:1), das es mindestens 4:1 gegen Peru gewinnen musste.

Eigentlich hätten die Spiele, wie in der deutschen Gruppe, zeitgleich stattfinden müssen. Doch angeblich aus dem Grund, dass Brasilien nicht vor leerem Haus spielen solle, wenn ganz Argentinien vor dem TV-Gerät hängen würde, wurde das Spiel des Gastgebers um zwei Stunden nach hinten verlegt. Und es ging dann auch noch wunschgemäß aus – 6:0. Selbst argentinische Journalisten zweifelten daran, dass es mit rechten Dingen zugegangen war und Jahre nach dem Sturz des Militärregimes gab es Enthüllun-gen über Bestechungen, die von General Videla selbst befohlen worden seien. Peru hätte 35.000 Tonnen Getreide und einen 50- Millionen-Dollar Kredit bekommen. Das aber wurde nie bewiesen.

Im Finale war sicher niemand bestochen, Holland wollte im zweiten Anlauf die Chance nutzen Weltmeister zu werden. Doch gegen Menottis entfesselte Elf und 76. 609 Zuschauer fiel das schwer. Mario Kempes, der mit sechs Treffern Torschützenkönig wurde, schoss kurz vor der Pause das 1:0, das bis zur 81. Minute währe. Nun drängte Holland wie einst in München und Joker Dick Nanninga traf zum verdienten 1:1. Es gab Verlängerung in River Plate, das in Blau und Weiß getaucht war und nur einen Sieger sehen wollte. „Ar-gen-tina“ hallte es unaufhörlich von den Rängen. Volksheld Kempes erlöste die Massen und nutze einen Fehler von Torwart-Veteran Jan Jongbloed (105.), ehe Bertoni mit dem 3:1 alles klar machte (115.).

Ob die beste Mannschaft Weltmeister geworden war, darüber gingen die Meinungen auseinander. War nicht Brasilien, nach 2:1 über Italien Dritter, als einziges Team ungeschlagen blieben? Und hatten die Holländer nicht noch kurz vor Schluss der regulären Spielzeit einen Pfostentreffer gehabt? Aber sicher hatte Argentinien den klügsten Trainer. Luis-Cesar Menotti, der Philosoph auf dem Trainerstuhl, trickste alle aus und opponierte auf seine Weise gegen die Junta. In seiner vieldeutigen Analyse sagte er: „Meine talentierten klugen Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.“ General Videla überreichte ihm den Pokal, aber den im Gegenzug erwünschten Handschlag erhielt er von Menotti nicht. Der Volksheld konnte es sich leisten, Argentinien war erstmals Weltmeister geworden. Da störte es sie wenig, dass Experten aus aller Welt attestierten, die schlechteste WM nach Chile 1962 gesehen zu haben.