Die Schmach von Cordoba

Die Vorfreude auf die elfte Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien hielt sich in Grenzen. Fußball und Politik lassen sich nicht per Anordnung trennen, auch wenn FIFA-Präsident Joao Havelange das strikt einforderte. Aber seit im April 1976 in Argentinien eine Militär-Junta an die Macht gekommen war und diese mit brutalen Methoden sicherte, mehrten sich die kritischen Stimmen in der Welt. Ein Johan Cruyff etwa plädierte dafür, nicht nach Argentinien zu fahren, was er selbst auch nicht tat – er beendete lieber seine Karriere.

Selbst Sepp Maier unterzeichnete eine Petition von amnesty international, die sich für Menschenrechte in Argentinien einsetzte. Das änderte ebenso wenig etwas wie der Mord am WM-Organisationschef Actis, der im August 1976 einem Attentat zum Opfer gefallen war. Kurz zuvor hatte er sich gegen einen teuren Ausbau der WM-Stadien ausgesprochen, weil das Land in einer Krise sei – ob ein Zusammenhang mit dem Mord bestand, wurde nie geklärt.

Dennoch wollten 106 Länder nach Argentinien, wieder wurde in der Qualifikation ein Teilnehmer-Rekord aufgestellt. Letztmals wurden nur 16 Startplätze vergeben, denn Afrika und Asien wollten sich nicht länger mit einem Platz abspeisen lassen, während Europa wieder mit zehn Flagg-schiffen angesegelt kam. Und doch fehlten wieder die Engländer, die nach 1974 erneut nur zusahen, obwohl ihre Klubs Europas Fußball dominierten. 1978 verteidigte Liverpool den Landesmeister-Pokal, aber zur WM fuhren nur die Schotten. England scheiterte einigermaßen unglücklich, im Wettschießen mit den punktgleichen Italienern fehlten letztlich drei Tore.

Der Europameister bleibt auf der Strecke

Überraschend blieb auch Europameister CSSR auf der Strecke, er fiel einem britischen Komplott zum Opfer: ein 0:3 in Wales öffnete Schottland die Tore nach Argentinien. Die DDR konnte ihr letztlich einmaliges Kunststück von 1974 nicht wiederholen und wurde hinter Österreich Zweiter. Der WM-Dritte Polen bestätigte seinen Ruf und spazierte ungeschlagen durch eine Gruppe mit Portugal und Dänemark und auch Vize-Weltmeister Holland hatte keinerlei Probleme. Erstmals seit 1966 sprang Frankreich wieder auf den WM-Zug und die Schweden, die mit fünf Bundesliga-Legionären anreisten, schafften zum dritten Mal in Serie die Teilnahme.

Die alte Fußball-Macht Ungarn kam nach 16 Jahren zurück, allerdings erst nach zwei Entscheidungsspielen gegen den Dritten Südamerikas, Bolivien. Brasilien kam mit nur einem Gegentor durch die Qualifikation und wurde beinahe traditionell als großer Favorit gesehen, auch weil noch kein Europäer auf einem fremden Kontinent Weltmeister geworden war.

Von Peru erwartete niemand etwas, am wenigsten die Peruaner. Sie nahmen nur drei Trikotsätze mit – für die Vorrundenspiele. Erst ein Kredit der FIFA über 100.000 Schweizer Franken ermöglichte Peru die gar nicht so lange Reise ins Nachbarland. Die Exoten des Turniers waren die absoluten WM-Neulinge Tunesien, das in die deutsche Gruppe gelost worden war, und der Iran, der in Asien mit Abstand die meisten Quali-Spiele (12) bestreiten musste.

Wie gut hatte es dagegen doch die deutsche Mannschaft, die wie 1974 kampflos qualifiziert war. Das Privileg eines Titelverteidigers, das heute längst nicht mehr gilt. Erfolgserlebnisse hatte die Mannschaft von Helmut Schön, die 1976 erst im Elfmeterschießen ihren Europameistertitel einbüßte, im Vorfeld dennoch. Wie 1974 hatte sie eine Platte aufgenommen und gemeinsam mit Schlager-sänger Udo Jürgens einen echten Hit gelandet. „Buenos Dias Argentina“ ging über 750.000 Mal über den Ladentisch. Sie ist die erfolgreichste Platte, die singende Fußballer jemals aufgelegt haben und landete im Mai 1978 auf Platz 3 in den Charts.

Dämpfer in den letzten Testspielen

Mit dieser Platzierung wäre die Öffentlichkeit bei der WM natürlich nicht zufrieden gewesen, nicht bei einem Titelverteidiger. Doch für Euphorie bestand kein Anlass, die beiden letzten Testspiele vor dem Abflug wurden verloren – 0:1 gegen Brasilien und 1:3 in Schweden. Bundestrainer Helmut Schön wusste es am besten: das war nur noch auf dem Briefkopf der Weltmeister. Von der Sieger-Elf aus München waren nur fünf Spieler geblieben: Sepp Maier, Berti Vogts, Rainer Bonhof, Bernd Hölzenbein und Katsche Schwarzenbeck, den Schön kurz vor der WM zurückholte.

Doch die Strategen und Wortführer fehlten und wurden schmerzlich vermisst. Allen voran Franz Beckenbauer, der 1977 nach New York gewechselt war. Das verkomplizierte vieles. Das Niveau der noch jungen US-Liga war höchstens drittklassig und ein halbes Jahr lang waren gar keine Spiele. Zu Testspielen musste Cosmos New York den Kaiser nach den damaligen Bestim-mungen nicht freigeben. Helmut Schön hat dennoch versucht, ihn nach Argentinien mitzunehmen und sich mit seinem langjährigen Kapitän Ende 1977 in München getroffen. Beckenbauer empfahl, „einen freundlichen Brief an Cosmos New York zu schreiben.“ Das tat der DFB und erhielt zur Antwort, Beckenbauer würde nur für die WM in Argentinien die Freigabe erhalten. Er sei nach Pelés Abgang die Attraktion bei Cosmos, seinetwegen hätten die eigentlich fußballfremden New Yorker Dauerkarten gekauft.

Irgendwann gab Schön auf. Auch bei Jürgen Grabowski kämpfte er lange und doch vergeblich, den Frankfurter Kapitän wollte er vier Jahre nach dessen Rücktritt wiederholen. „Bei jeder günstigen Gelegenheit sprach ich ihn an, bestimmt ein halbes Dutzend Mal“, erzählt Schön in seiner Biographie von 1978. Er fragte ihn demnach: „Jürgen, wir haben noch ein Ticket frei. Fährst Du mit?’“ – Es kam nicht etwa wie aus der Pistole geschossenen: „Nein!“ Er wolle es sich überlegen…Am nächsten Tag rief er an und sagte, er bleibe nun doch bei seinem Rücktritt.“

Auch die Legionäre bei Real Madrid waren kein Thema mehr. Paul Breitner war 1976 mal wieder im Zorn zurückgetreten und Ulli Stielike nicht bereit, erst nach der WM nach Madrid zu wechseln, als ihn Schön und DFB-Präsident Hermann Neuberger 1977 darum baten. Auch hier ging es ihnen darum, sicher entstehende Freigabe-Probleme zu vermeiden. Kein Spieler sollte ungetestet nach monatelanger Abstinenz in der Nationalelf zur WM fahren. Stielike aber wählte die große Chance: „Ich gehe zu Real, ich verzichte auf die WM“, sagte er den Herren vom DFB.

Selbst Schön fehlte der Glauben

Und so reihten sich schon im Vorfeld seiner letzten WM als Bundestrainer die Niederlagen aneinander für Helmut Schön, der seinen Memoiren anvertraute, was er der Öffentlichkeit besser verschwieg: „Vor dem Abflug glaubte ich nicht, dass die deutsche Nationalmannschaft noch einmal Fußball-Weltmeister werden könnte. Aber ich wusste, wir würden kämpfen. Und wenn wir verlieren würden, müssten schon andere Mannschaften besser spielen als wir.“

Am Vorabend des Abflugs nach Argentinien klingelte um 22 Uhr noch das Telefon auf Schöns Zimmer im Forsthaus Gravenbruch bei Frankfurt. Der Teilnehmer meldete sich aus New York. Franz Beckenbauer. „Herr Schön, Sie reisen doch morgen. Ich möchte Ihnen unbedingt noch sagen, dass ich Ihnen und der ganzen Mannschaft beide Daumen drücke. Es wird schon werden!“

Wie genau, wusste niemand so recht. Vor den Gruppengegnern Polen, Kontrahent im WM-Eröffnungsspiel, Mexiko und Tunesien, fürchtete sich niemand. Aber zur Weltspitze schien diesem Kader, in dem fünf Spieler des Double-Siegers 1. FC Köln den Löwenanteil ausmachten, einiges zu fehlen. Kapitän war Berti Vogts, ein Vorbild an Disziplin und Kampfgeist und doch kein Anführer wie Kaiser Franz. Den Libero Beckenbauer vertrat der 24jährige Hamburger Manfred Kaltz, der vom Naturell viel zu zurückhaltend war, um eine Abwehr zu führen. Ähnliches galt im Mittelfeld, wo Heinz Flohe fußballerisch alle überragte und doch nie die Akzeptanz eines Wolfgang Overath erreicht hat. Und für den 1974 abgetretenen Gerd Müller hat sich nie mehr ein Äquivalent gefunden – nur ein Namensvetter. Torschützenkönig Dieter Müller aus Köln und der Schalker Klaus Fischer kämpften um das Erbe des Bombers, vor dem Abflug hatte Fischer die Nase vorne. Ihm zur Seite stand Klubkamerad Rüdiger Abramczik, von dessen Flanken Fischer lebte.

Eine Zentralfigur in Schöns Überlegungen war Rainer Bonhof, der den Abräumer vor der Abwehr geben sollte. Doch der Gladbacher war ab dem ersten Tag außer Form, stand aber immer auf dem Platz. Wäre es nach den Trainings-eindrücken gegangen, sagen viele, die dabei waren, hätte der WM-Tourist Gerd Zewe aus Düsseldorf so manches Spiel bestreiten müssen. Aber Schön hatte seine Elf im Kopf, als es am 23. Mai mit 46 Journalisten an Bord in den Flieger nach Cordoba ging.

Im Angesicht des "Toten Hundes"

Im Quartier mit dem beziehungsreichen Namen Ascochinga (Toter Hund), einer Offiziersschule der argentinischen Luftwaffe, verbrachte der Kader die ganze WM, denn der Haupt-Spielort Cordoba lag vor der Tür. Verteidiger Bernard Dietz hat später über das weitläufige Quartier gesagt: „Da waren wir eingesperrt, hatten keinerlei Abwechslung, wenig Ablenkung vom Fußball.“ Dabei gab es immerhin einen Golf- und einen Tennisplatz, aber auch nur ein Telefon. Pro Woche und Kopf waren drei Frei-Minuten für Gespräche in die Heimat erlaubt, darüber hinaus kostete es. Dietz will rund 500 Mark vertelefoniert haben.

Am 31. Mai ging es nach Buenos Aires, um die WM gegen Polen zu eröffnen. Diesmal verging die Wartezeit vor dem ersten Spiel ohne Prämienstreit, man hatte sich auf 65.000 D-Mark pro Kopf geeinigt. Die Sorgen der Spieler waren in diesen ersten Turnier-stunden ganz anderer Art. Das Hotel inmitten der 8,5 Millionen-Einwohner-Metropole raubte allen den Schlaf. Schön berichtete über die Nacht auf den 1. Juni: „Viele Spieler und auch ich taten kaum ein Auge zu, weil wir während der Nacht ein geheimnisvolles Ticken hörten, wahrscheinlich aus der Heizung. Ein oder zwei Minuten blieb es still und man wartete geradezu ängstlich darauf, dass es wieder losging. Ich alarmierte die Hotelleitung. Die gesamte Heizung des Riesenhotels wurde abgestellt. Aber es tickte und tickte. Entsprechend zerschlagen fühlten wir uns am Tag des Spiels.“

Bonhof berichtete, er habe die ganze Nacht im Geiste den Verkehr geregelt, weil er vor Schlaflosigkeit vom 20. Stock aus dem Fenster stierte. Zu allem Übel blieben die Duisburger Dietz und Ronny Worm sowie Dieter Müller und Teamarzt Professor Heß am Morgen im Aufzug auf Höhe des 18. Stocks stecken und wurden nach fünf bangen Minuten befreit. Diese WM fing nicht gut an.

Die Spiele wurden zwar feierlich eröffnet und erhielten den Segen der Kirche durch einen Erzbischof, aber das Eröffnungsspiel verdarb die Feststimmung gründlich. Nach 90 Minuten hieß es zum vierten Mal in Folge bereits 0:0. Schon früh begann das Publikum zu pfeifen und niemand gab ihm einen Grund, damit aufzuhören. Auch die TV-Zuschauer in aller Welt, rund eine Milliarde, waren enttäuscht. Es mangelte nicht an Ausreden, zur schaflosen Nacht kam ein unbespielbarer Rasen. Klaus Fischer sagte: „Das Spielfeld im River-Plate war eine einzige Katastrophe. Bei jeder Ballannahme rutsche mir das Herz in die Hosentasche aus Angst, der Ball könne verspringen.“