„No chance, today is our Wembley“

Vor dem Spiel gab es die üblichen Wortgeplänkel. „Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter“, lästerte der Kölner Wolfgang Overath. Noch im Kabinengang flachste Uwe Seeler mit Bobby Charlton. „No chance, today is our Wembley“, gab sich der deutsche Kapitän revanchistisch, doch Charlton, der an diesem Tag Englands Rekord-Nationalspieler wurde, blockte lachend ab: „No, no, Uwe.“

Und doch sollten am Ende eines unvergesslichen Spiels die Deutschen lachen. Wieder sah es nicht danach aus, zum dritten Mal bei dieser WM gerieten sie in Rückstand – durch Mullery. Einem Rückstand nachzulaufen gegen den Weltmeister ist schlimm genug, bei 55 Grad in der Sonne ist es eine Tortur. Als Peters nach 50 Minuten das 2:0 gelang, wobei Sepp Maier keine gute Figur machte, sah es nach einer Niederlage aus.

Gerd Müller und Mittelfeldstratege Franz Beckenbauer unterhielten sich schon über den Rückflug, während die englischen Schlachtenbummler ihr „You’ll never walk alone“ anstimmten. Helmut Schön traf in dieser Phase einer der besten Entscheidungen seiner Amtszeit und schickte den Frankfurter Jürgen Grabowski für den enttäuschenden Stan Libuda aufs Feld. Sekunden später zwang der Bonetti zu einer Glanzparade, und plötzlich war Schwung im deutschen Spiel.

In der 68. Minute, zog Beckenbauer zu einem kurzen Spurt an und überwand Bonetti mit einem haltbaren Aufsetzer. Trainer Alf Ramsey hielt das nicht davon ab, Bobby Charlton auszuwechseln, um seinen Regisseur fürs Halbfinale zu schonen. Ein sinnloser Schachzug, wie sich zeigen sollte. Dann kam die Szene, die Uwe Seeler unsterblich macht. Nach einem zu kurzen Befreiungsschlag hob Schnellinger den Ball wieder vor das Tor, nicht gerade präzise. Der Hamburger, schon 33 Jahre alt an diesem Tag, musste sich drehen, um den Ball noch zu erreichen. Mit dem Hinterkopf erwischte er ihn und köpft ihn über den perplexen Bonetti hinweg im hohen Bogen ins Tor. Das Publikum raste und die Heimat jubelte mit an diesem Sonntagabend, der länger wurde als gedacht: Verlängerung!

„Ich kann kaum noch etwas sehen, denn die Zuschauer sind aufgesprungen vor Erregung “, klagt ZDF-Reporter Werner Schneider. In der Verlängerung rafften sich die Engländer wieder auf und mit Reporter Schneider zitterten auch die deutschen Fernsehzuschauer „immer wenn Hurst hochsteigt - mir liegen noch die drei Tore von Wembley in den Knochen, meine Damen und Herren“.

Doch dann entschied ein anderer großer Torjäger das Spiel. Gerd Müller, der in dieser Partie viereinhalb Kilo abnahm. Der unermüdliche Grabowski hatte vor das Tor geflankt, wo Linksaußen Löhr den Ball erreichte und in die Mitte köpfte. Zu Müller, der unbewacht aus einem Meter volley mit rechts traf. Das reichte fürs Halbfinale gegen nun konsternierte Engländer. „Ein Sieg wie nie! Haben wir gezittert“, titelte der Kicker. Die WM hatte ihr bestes Spiel gesehen, eine Steigerung erschien kaum möglich. Nicht bei dieser Hitze! Man zählte 12:7 Ecken und 45:29 Torschüsse – für Deutschland.

„Es war eines der größten Spiele unserer Mannschaft überhaupt“, lobte Bundestrainer Schön, der berichtete, es habe schon in der Halbzeit „keinerlei Anzeichen von Defätismus gegeben“. Berti Vogts sprach vom „schönsten Tag meiner Laufbahn. In den Straßen Leons brachen spontane Freudenfeste aus, Mexikanerinnen sah man in nichts anders als in eine Deutschland-Flagge gehüllt und sogar deutsche Fans mussten Autogramme geben. Bis in die Morgenstunden dröhnte der Schlachtruf „Alemana, bum bum bum.“ Die Engländer verkrafteten das WM-Aus erstaunlich gut, schon am Abend sah man sie lachend und trinkend am Swimming Pool. Bobby Charlton erkannte die deutsche Leistung respektvoll an: „Wer uns geschlagen hat, kann alle schlagen.“

Wer aber war noch in diesem Turnier, das in der Vorrunde keinen Favoritensturz gesehen hatte? Mexiko musste sich am Tag des deutschen Triumphes von seiner Elf verabschieden. In Toluca schrien 32.000 ihre Idole vergeblich voran, eine 1:0-Führung reichte nicht. Die dem Catenaccio verfallenen Italiener konnten nämlich auch anders, wenn man sie reizte. Und nach dem ersten Gegentor bei diesem Turnier schlugen sie brutal zurück und siegten noch mit 4:1. Riva und Rivera waren nicht zu halten und erzielten nach der Pause drei Tore. Für Weltmeister Brasilien dagegen ging die Partie weiter: Peru wurde mit 4:2 geschlagen und es verwunderte nur, dass Pelé leer ausgegangen war.

Das vermeintlich unattraktivste Viertelfinale hatte die meisten Zuschauer, denn es fand im Azteken-Stadion statt, das einem Privatmann gehörte. Uruguay mogelte sich gegen die Sowjetunion vor 70.000 Zuschauern durch ein Tor in der 118. Minute ins Halbfinale. Es war dem eingewechselten Esparraga mit seinem ersten Ballkontakt geglückt und ersparte der WM die Peinlichkeit, einen Halbfinalisten per Los zu bestimmen. Diese Regel aus der Antike des Fußballs nämlich hatte noch bestand, während ansonsten die Spiele von Mexiko die ersten der Moderne waren: es durfte endlich ausgewechselt werden und für Sünder gab es Gelbe und Rote Karten. Doch wozu eigentlich? Es waren faire Spiele mit im Schnitt einer Verwarnung pro Spiel (32 total) – und die einzige Rote Karte erhielt DFB-Masseur Erich Deuser, weil er gegen Peru unerlaubt aufs Feld geeilt war. Eine Sperre erhielt er nicht…

Am Tag der Deutschen Einheit waren die Halbfinalspiele angesetzt. Kurzfristig wechselte die FIFA die Spielorte, aus logistischen Gründen fand Deutschland – Italien in Mexiko City statt.

Ernst Huberty kommentiert das Jahrhundertspiel

Sonst würde die Ehrentafel, die man wegen dieses Spiels anbrachte, jetzt wohl in Guadalajara hängen. Es ist viel geschrieben worden über das „Jahrhundert-Spiel“, das niemand je vergessen wird, der es gesehen hat. Ernst Huberty hat es gesehen.

Lauschen wir der Schilderung des ARD-Reporters ab der 65. Minute, als sich die Dramatik allmählich zuspitzt. Italien führt seit der neunten Minute durch Boninsegna mit 1:0, es ist kein gutes Spiel. Aber es wird immer spannender. Da wird Siggi Held gefoult, doch Schiedsrichter Yamasaki gibt keinen Elfmeter:

„Der Schiedsrichter ist immer dann energisch, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums begangen wurde. Innerhalb des Strafraums, da scheint ihn panische Angst zu überkommen. Inkonsequent. Wiedergutmachung, einen Fehler mit dem anderen gutmachen, das ist nicht die richtige Art.“

Deutschland drängt mit Mann und Maus. „Vogts – er läßt Riva Riva sein und stürmt. Schüsse, sie streichen vorbei, als seien an beiden Seiten des Tores Magneten eingebaut. Sie spielen mit einer unglaublichen Leidenschaft, unsere Spieler, unglaublich und leidenschaftlich, was sie tun.“

Alemania-Sprechchöre kommen auf: „Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück. Beckenbauer muss arge Schmerzen im Arm haben, er hält ihn ständig fest. Sie zerreißen sich alle.

Als ein Ball auf der Linie tanzt und doch nicht rein will, stöhnt er: „Na gut, es soll nicht sein.“ „Grabowski versucht es. Wird festgehalten. Catchergriff von De Sisti. Catchergriff. Es ist alles erlaubt in diesen letzten Minuten.“

Dann läuft die 91. Minute, Schön gibt dem SID bereits an der Bank ein Interview. Da flankt Jürgen Grabowski noch mal von links. Der Ball kommt zu…

„Schnellinger. Nein, nein, nein, nein. Schnellinger. 1:1 Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben.“

Es geht tatsächlich in die Verlängerung, nachdem der Mailand-Legionär sein erstes und einziges Länderspiel-Tor überhaupt erzielt hat. In der Heimat ist es 0.45 Uhr.

„Meine Damen und Herren, ich glaube hierzu braucht man nicht mehr viel zu sagen, es ist eine unglaubliche Leistungssteigerung, die die deutsche Mannschaft wieder ein mal vollbracht hat. – Natürlich auch ein schwerer, schwerer Schock für die Italiener. Das Spielfeld da unten gleicht einem kleinen Lazarett. Und dann wird der Ball wieder frei gegeben zu einem Spiel, das an Dramatik ja wohl kaum zu überbieten ist.“

Wenn er wüsste. Das 2:1 fällt durch einen kuriosen Abstauber.

„Müller, Müller, Müller, Tor. Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt. Da ist er, hat aufgepasst. Der Ball rollt kaum über die Linie. Albertosi greift nach. Er ist im Tor.“ „Gibt es eine Steigerung? Es kann keine mehr geben. Es ist einfach unglaublich.“

Wenn er wüsste…

Nun hat Huberty Nachsicht mit Grabowski, der so viel Kraft verbraucht hat, „dass man schon vom eigenen Schuss zu Boden fällt“. Das 2:2 fällt nach einem schweren Fehler von Held, den Huberty vornehm verschweigt. „Und jetzt die Möglichkeit für Italien. Burgnich 2:2. Burgnich 2:2. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kann man sagen.“ „Die italienischen Spieler winken ihren Kollegen, doch schnell zurückzukommen und eine Mauer zu bilden, doch so schnell geht das nicht mehr. Ganz langsam kommen sie zurück, Schritt für Schritt.“

Aber sie können doch noch:

Das 2:3 „Kein Foulspiel, weiter. Und jetzt die Möglichkeit für Riva. Tor. Riva Tor. - Die 104. Spielminute mit diesem Tor von Riva.“

„Seitenwechsel diesmal ohne Pause in einem Spiel, das alles übertrifft, was bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft gespielt wurde. Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben, die die Kraft hervorschöpfen können und immer aufs neue anrennen können, einem Torvorsprung hinterher. Albertosi, nicht mehr Herr seiner Nerven, nicht mehr Herr seiner Hände...Ist das ein Wunder?“

Nun kommt das Wunder.

„Zwei Mal Seeler, Müller, Tor, 3:3. Müller! Ich habe schon viele Spiele gesehen, aber Spiele von einer solchen Dramatik gibt es wohl im Fußballsport nur selten. Die gibt es nur selten.“

14 Sekunden nach dem Anstoß:

„Boninsegna, Boninsegna, Tor. Rivera, Rivera 4:3. Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, liebe Fußballfreunde, dass viele von Ihnen schon seit Jahrzehnten auf den Fußballplatz gehen, aber zurückerinnern an solch ein Spiel kann sich wohl kaum einer.Bertini wird sicherlich einige Zeit brauchen, um wieder aufzustehen. Aus: Da ist der Schlusspfiff...Ein Kampf, den Sie miterlebt haben, alle Höhen und Tiefen, der Freude und der Enttäuschung, die man nur durchleben kann, haben die Spieler hier auf dem Spielfeld durchlebt und auch Sie zuhause, meine Damen und Herren. Alles Gute den Italienern für das Endspiel und ich will unseren Männern sagen: ihr habt großartig gekämpft, phantastisch gespielt, herzlichen Dank dafür. Ihr seid in Mexiko ganz ganz groß gewesen.“

Uwe Seeler schreibt über die Empfindungen nach dem Abpfiff in seiner Biographie: „Mit dem erlösenden Schlusspfiff fielen wir uns um den Hals, und einige brachen vor Erschöpfung regelrecht zusammen. Plötzlich schien es keine Rolle mehr zu spielen, wer Sieger und wer Besiegter war. Die Zuschauer waren völlig überwältigt und konnten sicher sein, ein wahrhaft unvergessenes Spiel gesehen zu haben.“

Im ersten Moment war dieses Fazit kein Trost für die Deutschen, die sich betrogen fühlten und in der Kabine Tränen vergossen. Betrogen vom Mexikaner Yamasaki, der gleich zwei klare Elfmeter übersah. Wenn schon der sachliche Kicker am 18. Juni empört titelte: „Schiedsrichter verschaukelte unser Team!“, muss wohl etwas dran gewesen sein. Anhänger ertränkten vor Ort ihren Kummer mit Tequila und stellten allerlei Unfug an in ihrem Frust, so dass die Deutsche Botschaft gleich 400 Landsleute aus Arrestzellen befreien musste, rund 100 wurden zur Ausnüchterung in Hospitäler eingeliefert. Der Traum vom zweiten WM-Gewinn war wieder geplatzt und wie in Wembley fühlte es sich nach Betrug an.

Erst als alle wieder nüchtern waren, setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass der deutsche Fußball doch gewonnen hatte. Dass er an einer Sternstunde mitgewirkt hatte und dass man auch auf Verlierer mächtig stolz sein kann.

Weltpresse überschlägt sich

Das Echo der Weltpresse war gewaltig: „Der Fußball kann wieder erhobenen Hauptes gehen. Das Spiel kann vom Finale nicht übertroffen werden.“, lobte die englische Evening News. „Keine Unterhaltung kann so viel bieten. Kein Thriller kann stärkere Effekte haben, keine Tapferkeit kann besser geschildert werden“, schrieb der schwedische Expressen. Neben dem gefühlten Superlativ wurde auch ein objektiv messbarer aufgestellt an diesem 17. Juni 1970: nie wieder fielen in einer Verlängerung so viele Tore bei einer WM. Und so viele Worte des Lobes wohl auch nicht.

Schriftsteller nahmen sich des Dramas in Versform an, das sie mit einem „Kampf wie aus den Heldensagen“ gleichsetzten. Der mexikanische Verband überreichte den eingesetzten Spielern eine Plakette mit der Aufschrift „In ewiger Ehre dem Besiegten und den Siegern.“ Im Azteken-Stadion wurde wenig später sogar eine Gedenktafel angebracht, die bis heute an den gigantischen Kampf erinnert. Noch 30 Jahre später wählten 50 weltbekannte Fußballer diese 120 Minuten im Azteken-Stadion zum Spiel des Jahrhunderts.

Allein diese Vorkommnisse bezeugen, dass Mexiko 1970 eine außergewöhnliche WM war. Das sah auch die FIFA so. Sie schrieb in ihrem Abschlussbericht: „Aus finanzieller Sicht wie auch in manch anderer Hinsicht war die neunte Weltmeisterschaft ein Erfolg.“ Die Stadionauslastung betrug 81,8, in England waren es 78,7. Der Ticketverkauf erbrachte einen Reingewinn von 6, 454 Millionen US-Dollar (England: 4,344) und Tore fielen auch mehr (2,97 gegenüber 2,78), die meisten erzielte Gerd Müller (10.) bei dieser WM. Sie fand am 21. Juni in Brasilien einen würdigen und gleichsam außergewöhnlichen Weltmeister. Brasilien, das in dem zwangsläufig unspektakuläreren zweiten Halbfinale Uruguay nach Rückstand mit 3:1 schlug, wartete in Mexiko City auf ausgelaugte Italiener. Während die Deutschen am Vortag Uruguay im Spiel um Platz drei 1:0 (Tor: Overath) besiegten und mit einer Ehrenrunde Abschied nahmen, zollte die Squadra Azzurra dem ungeheuren Kraftakt Tribut.

Zwar konnte sie das 1:0 durch Pelés Kopfball dank Boninsegna ausgleichen und ein 1:1 in die Kabinen retten, aber nach Gersons 2:1 brachen sie ein. Jairzinho und Abwehrchef Carlos Alberto sorgten für den Endstand und den nächsten Ausnahmezustand in Rio. Als die Mannschaft nach Mexiko abgereist war, hatte eine Zeitung höhnisch gefragt: „Was fehlt der Selecao? Alles!“. Skepsis umgab den Favoriten der Welt in der Heimat, der nach einem Trainerwechsel trotz geglückter Qualifikation ein diffuses Bild abgab. Nun kehrte das Team von Mario Zagalo zum dritten Mal mit dem Jules Rimet-Pokal zurück – als Rekord-Weltmeister.

Den Deutschen wurde ein Empfang bereitet, als hätten sie gewonnen. 60.000 am Frankfurter Römer feierten die verhinderten Weltmeister und insgeheim schwang bei vielen die Hoffnung mit, dass es vier Jahre später klappen werde. Qualifiziert waren sie ja schon, als Gastgeber der WM 1974 in Deutschland.