Jahrhundertspiel in der Höhe Mexikos

Obwohl sie bereits 40 Jahre zurückliegt, ist die Weltmeisterschaft 1970 nicht nur in Deutschland noch in bester Erinnerung. Mexiko sah die vielleicht besten und spannendsten Spiele der WM-Historie, von denen einige das Prädikat unvergesslich verdienen. Große Fußball-Schlachten unter sengender Sonne vor farbenprächtigen Kulissen besserten den Ruf der WM gewaltig auf. Eine WM, an der erstmals auch die ganze Welt vertreten sein durfte, jeder Kontinent hatte seinen Startplatz erhalten.

Deutschlands Halbfinale gegen Italien gilt gemeinhin als das Spiel des Jahrhunderts, was man drei Tage zuvor schon vom Viertelfinale gegen England gesagt hatte. Und das Finale zwischen Brasilien und Italien war keineswegs so einseitig, wie es das Ergebnis von 4:1 aussagt. Es gilt als eines der spielerisch besten der bisher 18 Endrunden und war ein würdiger Abschluss des Turniers, das zum letzten Mal im Zeichen des großen Pelé stand.

Um die Reise nach Mexiko bewarben sich 75 Länder, erneut eine Rekordzahl, und nicht jeder Traum platzte so schnell wie der der Kubaner, die sich nur per Telegramm statt brieflich anmeldeten und deshalb unvollständige Angaben machten. Schließlich zahlten sie auch die geforderten 1000 Schweizer Franken an Meldegebühr nicht und schieden schon vor dem ersten Anpfiff aus. Albanien verpasste die Anmeldefrist, was den Deutschen gewiss am wenigsten Leid tat. Waren sie doch auf dem Weg zur EM 1968 noch am Fußballzwerg aus dem Land der Skipetaren gescheitert. Der Zwerg, der ihnen nun den Weg nach Mexiko verstellen wollte, war von anderem Kaliber und zumindest im Rückspiel etwa auf Landesliga-Niveau: Zypern. So kam es im Mai 1969 in Essen zum bis heute höchsten deutschen WM-Qualifikationssieg von 12:0.

Weit schwerer fiel es, sich gegen die Österreicher und die Schotten zu behaupten. Im Nachbarland rettete ein typisches Gerd-Müller-Tor in letzter Sekunde den 1:0-Sieg und am 22. Oktober 1969 löste erst ein Traumtor von Stan Libuda gegen die Briten das Mexiko-Ticket (3:2).

Spannungen zwischen El Salvador und Honduras

Auf den anderen Kontinenten gab es wieder einige Turbulenzen, teils höchst unerfreulicher Natur. Allen voran der sogenannte „Fußball-Krieg“ zwischen den ohnehin verfeindeten Staaten El Salvador und Honduras. Nach dem Entscheidungsspiel (3:2 für El Salvador) auf neutralem Boden in Mexico City brach der Krieg aus, in dem es eigentlich um 300.000 Wirtschaftsflüchtlinge aus El Salvador ging, die Honduras nicht mehr im Land dulden wollte. Das Thema gärte schon länger, ein Fußballspiel sorgte schließlich für den Ausbruch der Spannungen. Der Sieger auf dem Platz marschierte schließlich mit 12.000 Mann im Nachbarland ein. Der Krieg kostete rund 2100 Menschen das Leben und wurde nach vier Wochen auf internationalen Druck hin beendet – nun gab es nur Verlierer.Und bei der WM sollte El Salvador rein sportlich zum Kanonenfutter werden.

Drei Spiele zwischen Tunesien und Marokko brachten keinen Sieger hervor, so dass ein Münzwurf nötig wurde. Er entschied pro Marokko – und so kam Deutschland überhaupt zu seinem ersten Gegner bei der Endrunde. Das wiederum entschied letztlich die zehnjährige Tochter des mexikanischen Verbandspräsidenten bei der Auslosung am 10. Januar 1970 in Mexico City. Auch Bulgarien und Peru fanden sich noch in der deutschen Gruppe und Bundestrainer Helmut Schön sagte erfreut: „Selbstverständlich beklage ich mich nicht über die Gruppeneinteilung.“

Es hätte in der Tat schlimmer kommen können. In Gruppe 3 trafen mit Titelverteidiger England und dem wieder erstarkten Brasilien, das mit 12:0 Punkten durch die Qualifikation marschiert war, die beiden Sieger der Turniere seit 1958 aufeinander.

Überhaupt war der Fußball-Hochadel nahezu komplett vertreten: Alle bisherigen Weltmeister spielten mit, so dass die Wahrscheinlichkeit vor Turnierbeginn am 31. Mai recht hoch war, dass der Sieger den Jules-Rimet-Pokal gleich für immer behalten würde. Denn Brasilien, Uruguay und Italien hatten jeweils die Chance, schon zum dritten Mal Weltmeister zu werden. Und dann, so beschloss es die Fifa, würde es einen neuen Pokal geben.

Aufgrund der endlich gelockerten Zulassungsbestimmungen reisten nach Mexiko aber auch mehr Teams denn je an, die einfach nur dabei sein wollten. El Salvador, Marokko und Israel, das diesmal Asien vertrat, nachdem es sich zuvor öfters mit Europäern hatte messen müssen, waren als WM-Neulinge krasse Außenseiter.

Höhe bereitet Kopfzerbrechen

Aber auch wer schon einen Namen hatte in der Fußball-Welt, fuhr durchaus mit flauen Gefühlen nach Mexiko. Die ungewohnte Höhenlage von teils über 2200 Metern und das drückende Klima rief Heerscharen von Bedenkenträgern auf den Plan, es schlug die Stunde der Wissenschaftler. Russen und Bulgaren fingen schon ein halbes Jahr vor Turnierbeginn mit Höhentraining an und noch bei der WM mussten die Spieler im Hotel täglich an die Sauerstoffflaschen. In Bulgarien wurde sogar die Meisterschaft für drei Monate unterbrochen, damit die Nationalspieler Ende 1969 auf Südamerikatournee gehen konnten.

Der Kicker beschwichtigte in seinem WM-Sonderheft die deutschen Schlachtenbummler: „Wenn Sie nicht gerade herz- oder lungenkrank sind, dann ist das mittelamerikanische Klima nicht schädlicher für Sie als etwa das von Spanien oder Portugal.“

Aber die Mexiko-Touristen zuverlässig ereilende Darmerkrankung „Montezumas Rache“ fürchteten dennoch alle. Hier empfahl der Kicker unter anderem: „Schenken Sie den Angestellten in Ihrem Hotel keinen Glauben, wenn man Ihnen versichert, nur destilliertes Wasser aufs Zimmer zu bringen. Es könnte Leitungswasser sein!“ Und allen, die Montezumas Rache dennoch treffen sollte, wurde geraten: „Geraten Sie nicht in Panik. Suchen Sie einen Arzt auf, der Sie in der Regel binnen kurzer Zeit wieder auf die Beine stellt.“

Helmut Schön wiederum empfahl seinen Spielern, was sonst kein Trainer empfiehlt: Alkohol. Zum Frühstück und zum Abendessen ein Glas Whiskey! Da die Deutschen alle gesund blieben, hat das Rezept wohl etwas für sich. Auch die DFB-Delegation traf aufgrund der klimatischen Verhältnisse besondere Vorsorge, Kiloweise waren Salz- und Vitamintabletten an Bord. Nur das 10.000 D-Mark teure Gefrierfleisch, dass Mannschaftskoch Hans Damker importieren wollte, passierte den Flughafen-Zoll nicht.

Einer der wenigen Misstöne bei der besonders akribischen Planung. Die Bundesliga-Saison wurde am 3. Mai so früh wie nie beendet und schon vierzehn Tage vor dem Auftaktspiel wurde Quartier in Balneario de Comanjilla bezogen, einer herrlichen Villenanlage in 30 Kilometer Nähe zum Spielort León. Der Besitzer war ein Deutscher, den Tipp gab Schön ein ausgewanderter Ex-Profi des 1. FC Saarbrücken. Man war Herrn Foitzik zu Dank verpflichtet.

Gerd Müller jedenfalls bewertete den Aufenthalt später so: „Es war ein Paradies. Wir hatten allen nur erdenklichen Komfort. Ich muss dem DFB ein dickes Lob aussprechen. Dieses Quartier war optimal. Wir hatten einen Fußballplatz in der Nähe und ein Schwimmbassin, was bei der Hitze besonders wichtig war. Zu Beginn haben wir ja gedacht, dass wir keine Luft bekämen. Solche Schwierigkeiten haben einige gehabt. Aber dann haben wir uns glänzend eingelebt und zum Schluss waren wir halbe Mexikaner.“

Dabei hatte der DFB-Tross mit gemischten Gefühlen, nach dem üblichen Malente-Aufenthalt, am 19. Mai in Frankfurt die Lufthansa-Maschine gen Mexiko-City bestiegen. In Hochform befand sich der Vize-Weltmeister nicht gerade an Pfingsten 1970, das bewiesen die beiden letzten Testspiele gegen Irland (2:1) und Jugoslawien (1:0). „Die Weltmeisterschaft rückt näher, die Sorgen wachsen!“, eröffnete der Kicker seine kritische Analyse nach dem Irland-Spiel. Eine Sorge galt dem Sturm, wo sich mit Uwe Seeler und Gerd Müller zwei quasi baugleiche Typen gegenseitig auf die Füße traten. Keiner eignete sich als Flügelspieler, doch für beide war der Strafraum zu klein. Schön aber wollte es so und hatte den längst zurückgetretenen Hamburger Seeler im Herbst 1969 reaktiviert, einen „Generationenkonflikt“ mit dem Münchner Himmelsstürmer in Kauf nehmend. Nach der Testpleite in Spanien (0:2) hatte Müller zwar im Februar ultimativ gefordert „Uwe oder ich!“, sich dafür aber nur einen Rüffel eingehandelt.