Nur vier Europäer im Viertelfinale

Im Viertelfinale dieser verrückten WM standen nur noch vier Europäer. Italien, Frankreich und Portugal schauten zu, wie Länder wie Senegal Südkorea und die Türkei um den Weltpokal spielten. Die Säulen der Fußballwelt gerieten so ins Wanken. Doch Deutschland war immer noch dabei. Nach dem nächsten WM-Spiel kamen wieder die Fragen nach dem Warum auf, denn es war das schlechteste der DFB-Auswahl anno 2002. Gewonnen wurde es trotzdem. Michael Ballack köpfte in Ulsan nach 39 Minuten das Tor des Tages gegen die Amerikaner, und Oliver Kahn verhinderte etwa ein halbes Dutzend amerikanischer Tore in Weltklassemanier.

Diesmal wackelte die erst einmal bezwungene Abwehr, in der mit Sebastian Kehl und Christoph Metzelder zwei junge Spieler von Meister Borussia Dortmund standen, wie eine Birke im Orkan. Einmal schien sie geschlagen, da rettete Torsten Frings mit der Hand auf der Linie, was nicht geahndet wurde. Und im Tor stand der Unbezwingbare, der seit diesem Tag mit dem Beinamen „Titan“ leben muss - eine Kreation der Bild-Zeitung. Der Kicker kleidete sein Kompliment in eine Frage mit kritischem Unterton: „Kann ein Mann Weltmeister werden?“ TV-Kommentator Marcel Reif kritisierte gar: „Das Spielerische bei der deutschen Mannschaft fällt unters Armenrecht.“

Aber sie waren schon wieder dort, wo alle hinwollen, aber nur die wenigsten hinkommen: im Halbfinale. „Die ganze Welt fragt sich, wie wir da hingekommen sind - und staunt über unseren Fußball (leider in negativer Hinsicht)“, schrieb die Bild-Zeitung. Ihr Kolumnist Franz Beckenbauer sagte es bayerisch-derb im Fernsehstudio: „Bis auf Oliver Kahn kannst du alle in einen Sack stecken und draufhauen - du triffst immer den Richtigen.“ Tony Sanneh von den unterlegenen US-Boys variierte Gary Linekers Credo: „Das war ein typisch deutsches Spiel. Die können noch so schlecht spielen, sie gewinnen immer.“ Es war paradox, denn es fand sich wirklich niemand im deutschen Lager, der zufrieden war nach dem Erfolg.

Rudi Völler war erfrischend ehrlich: „Das Halbfinale ist allerdings unsere Endstation, wenn wir uns nicht erheblich steigern.“ Zumal das vielleicht auch nichts helfen würde, denn der nächste Gegner schien mit den Schiedsrichtern im Bunde. Wieder gab es Proteste nach dem Sieg der Gastgeber, die diesmal Spanien ausschalteten. Ein Tor hatten sie zwar nicht erzielt, aber da die beiden spanischen Tore vom ägyptischen Schiedsrichter aberkannt worden waren (wegen Abseits und einer Flanke im Aus), rettete sich Korea ins Elfmeterschießen, das prompt gewonnen wurde. „Spanien fiel dem Raub des Jahrhunderts zum Opfer. Diese WM ekelt uns an“, schrieb Marca, und die Bild-Zeitung fragte besorgt: „Werden wir jetzt auch verpfiffen?“

Ronaldinho überlistet Seaman

Spaniens lange Reihe an WM-Tragödien setzte sich also fort, und auch England sollte wieder nicht Weltmeister werden. Im vorweggenommenen Endspiel unterlag es Brasilien mit 1:2, Ronaldinho überlistete dabei den 38-jährigen Torwart David Seaman mit einem ins Tor geflankten Freistoß, den nur ein Brasilianer genauso beabsichtigt haben kann. „Ich habe eine Hereingabe erwartet, aber Ronaldinho ist der Schuss abgerutscht“, bettelte Seaman um Verständnis für seinen Fehler, der England die Heimreise einbrachte. Ronaldinhos Freude wurde getrübt, er flog noch vom Platz und fehlte im Halbfinale gegen die Türkei.

Ja, die Türkei. Sie setzte sich im Außenseiterduell gegen Senegal durch. Ilhan Mansiz, gebürtig aus Kempten im Allgäu, schoss in der 94. Minute das bislang letzte Golden Goal der WM-Historie, die Regel wurde danach wieder abgeschafft. Erstmals war die Türkei unter den letzten Vier der Welt, ein Land verfiel in Hysterie. Aber auch in Dakar wurde gefeiert, Senegal hatte Großes für Afrika Fußball geleistet.

Drei Kontinente im Halbfinale vertreten - ein Novum

Im Halbfinale waren noch drei Kontinente vertreten, das hatte es noch nie gegeben. Und noch nie war ein Vertreter Asiens so weit gekommen wie jetzt Südkorea. Der Gegner hieß Deutschland. Erst der Halbfinaleinzug machte dieses Turnier finanziell zu einem Gewinn für den DFB, jeder Teilnehmer erhielt allein dafür 2,75 Millionen Euro.

Aber ums Geld ging es den Spielern nicht, da sie so kurz davor standen, Weltmeister zu werden. In Seoul spielte die Völler-Mannschaft gegen ein ganzes Stadion, und diese Atmosphäre pushte sie zu einer starken Leistung. Die allseits geforderte Steigerung, das war schon in den ersten Minuten erkennbar, trat wirklich ein. Was umso erstaunlicher ist, als die Leverkusener Spieler um Ballack bereits bis zu 70 Pflichtspielen seit Saisonstart in den Knochen hatten.

Aber sie gingen voran an diesem Tag. Carsten Ramelow war nach seiner Rotsperre ins Zentrum zurückgekehrt und hielt die Abwehr zusammen, Bernd Schneider war auch an diesem Tag der Kreativste und Oliver Neuville bereitete das Tor des Tages vor, das Michael Ballack schießen sollte. Dieses Tor war die Geschichte dieses Spieles. Eine mit einem tragischen Vorspiel. In der 71. Minute des hin- und herwogenden Kampfes beging Ballack am eigenen Strafraum in höchster Not ein Foul. Von hinten in die Beine - Schiedsrichter Urs Meyer blieb keine andere Wahl, als ihn zu verwarnen. Es war seine zweite Gelbe Karte im Turnier, und damit war Ballack gesperrt - für das Finale, sofern man es erreichen würde.

Ballack: Erst Finalsperre kassiert, dann Siegtor markiert

Während für andere nun eine Welt zusammenbrechen würde, zeigte Ballack eine fantastische Reaktion. Er tat alles dafür, dass wenigstens seine Kameraden am 30. Juni in Yokohama auf dem Feld stehen durften. Ganze drei Minuten nach dem tragischen Moment schoss er im zweiten Anlauf eine Flanke Neuvilles zum 1:0 ein. Es ist das Tor des Tages, der Treffer ins siebte deutsche WM-Finale.

„Was kein vernünftiger Mensch für möglich gehalten hat, ist geschehen“, schrie ARD-Kommentator Heribert Fassbender in sein Mikrofon. Das hörten schon nicht mehr alle der 22,58 Millionen TV-Zuschauer (Marktanteil: 85,2 Prozent), spontane Jubelfeiern brachen an einem hellichten Dienstagnachmittag in ganz Deutschland aus. Autokorsos auf der Reeperbahn, am Kurfürstendamm, auf der Leopoldstraße, im ganzen Land. Nur einer jubelte nicht.

In der Kabine, erst nach getaner Arbeit, haderte Ballack mit seinem Schicksal. Von einem Weinkrampf war in großen Lettern die Rede, doch Oliver Kahn hatte auch etwas anderes zu berichten: „Ballack hat schon geflachst und gesagt: Gott sei Dank bin ich nicht dabei, sonst würden wir wieder nur Zweiter.“ Denn im Frühjahr war er mit Leverkusen in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League stets Zweiter geworden.

Kahn, der wieder nicht zu bezwungen war, sah Ballacks Einsatz als Symbol für den Teamgeist. „Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, dass er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft.“

Ronaldo schießt Brasilien ins Finale

Die Koreaner trugen den Ausgang mit Fassung. Für beide Teams gab es Beifall. Dennoch stand das Land still für ein paar Minuten der Trauer, einer Trauer ohne Exzesse, wie sie es etwa in China nach dem Vorrunden-Aus gegeben hatte. Trainer Guus Hiddink fand als Erster Worte: „Wir hatten zuviel Respekt.“ Die Auslandspresse nahm die Gelegenheit wahr, die Erfolge der Südkoreaner, die vier Monate vor WM-Beginn mit der Vorbereitung begonnen hatten, zu relativieren: „Eine saubere Schiedsrichterleistung und schon scheidet Südkorea aus“, meinte die spanische AS.

Am nächsten Tag trafen in Saitama Brasilien und die Türkei erneut aufeinander. Im Gruppenspiel hatte es viel böses Blut, jeweils einen Elfmeter und einen Platzverweis gegen die Türken gegeben. Doch die befürchtete Treterei fand nicht statt. Die 61.058 Zuschauer sahen eine spielerisch ansprechende Partie, die wie am Vortag durch einen einzigen Moment entschieden wurde. In der 49. Minute umkurvte Torjäger Ronaldo drei Türken und spitzelte den Ball mit einem Aufsetzer ins lange Eck.

Es blieb bei diesem 1:0, und diesmal mäkelte niemand am Sieger herum. „Der Bauchtanz verliert gegen die Samba“, dichtete ein türkischer Reporter. Türken-Trainer Senol Günes fand lobende Worte für sein Team: „Brasilien hatte zwei schwere Spiele - beide gegen uns.“

Traumfinale perfekt

Nun also war das Traumfinale perfekt. Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauerbrenner Deutschland und Brasilien bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler, der Bundespräsident und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Plötzlich war die deutsche Mannschaft ihren Anhängern, von denen bis dahin nur 2000 nach Asien gekommen waren, viel Geld wert. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Finalticket gezahlt, und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro.

Wer es schaffte, sah noch am Vorabend das kleine Finale, das der Türkei den größten Erfolg ihrer Fußballgeschichte brachte. Gastgeber Südkorea wurde mit 3:2 bezwungen, und Hakan Sükur schoss das schnellste WM-Tor aller Zeiten, elf Sekunden nach Anpfiff. Arm in Arm verließen beide Mannschaften das Feld, ehe sie ihre Trainer durch die Luft schleuderten. Versöhnliche Gesten.

Das Finale zog die Welt in ihren Bann. „Die Weltmeisterschaft der Überraschungen bekommt doch noch ein logisches Endspiel“, schrieb eine holländische Zeitung. Zwei große Fußball-Nationen kämpften um den Pokal, damit war nach dem Turnierverlauf kaum noch zu rechnen gewesen. Im DFB-Quartier ging es am Vortag in Yokohama zu wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer im „Sheraton Bay and Tower“-Hotel vor der Pressekonferenz. Rudi Völler forderte schlicht von allen Akteuren in seiner Elf, „das Spiel des Lebens“ zu machen.

Neuville an den Pfosten, Deutschland ohne Glück

Mit 14:1 Toren war diese Mannschaft ins Finale gekommen, mit drei guten und drei schlechteren Spielen und mit ihren Tugenden, die die ganze Welt fürchtete. Wieso eigentlich sollte sie chancenloser Außenseiter sein? Als das ZDF seine Finalsendung begann, tippten oder besser wünschten sich 82 Prozent der Teilnehmer an einer Umfrage den WM-Titel.

Aber Ballack fehlte, Bayerns Jens Jeremies ersetzte ihn. Die ersten 20 Minuten gehörten der deutschen Elf, die couragiert nach vorne spielte. Dennoch musste sie froh sein, mit einem 0:0 in die Kabinen zu gehen, weil Kleberson die Latte und Ronaldo Oliver Kahn traf - beides in der 45. Minute. Vorboten brasilianischer Torgefahr, während die deutsche Mannschaft keine Chance herausgespielt hatte.

Miroslav Klose war seit der Vorrunde leer ausgegangen und nahm sich sein Tief leider zum schlechtesten Zeitpunkt. Als es wieder losging, kamen auch die Chancen. Zunächst köpfte Jeremies vorbei, dann wagte Neuville einen Freistoß aus rund 30 Metern. Der Ball prallte an den Pfosten (49.) und mit ihm auch das Glück von den Deutschen ab.

Kahn ganz menschlich

Dann kam auch noch Pech dazu. Der Fußballgott hatte sich die denkbar tragischste Konstellation, diese Finale zu entscheiden, bis zur 67. Minute aufbewahrt. Da passierte es: Einen Schuss von Rivaldo konnte Oliver Kahn, schon vor dem Finale zum besten WM-Torwart gewählt, nicht festhalten. Der Unfehlbare beging nur diesen einen Fehler in Asien und wurde so hart bestraft. Ronaldo holte sich den Abpraller und schoss das 1:0.

Nun bekamen die Zauberer vom Zuckerhut Oberwasser und nutzten gleich ihre nächste Chance: Wieder traf Ronaldo, diesmal unhaltbar, von der Strafraumgrenze. Es war der Schlussakt eines sehenswerten Finales, das einen würdigen Sieger bekam. Dass sich die deutsche Mannschaft nicht wirklich als Verlierer fühlen sollte nach einer solchen Turnierleistung, mag zwar stimmen, doch für Oliver Kahn war es kein Trost. Minutenlang stand, lehnte und kauerte er apathisch am Torpfosten.

Der Titan war wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zuflogen wie nie zuvor in seiner von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Karriere. Eine japanische Studentin schrieb in ihr Internet-Tagebuch: „Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer - das war pure japanische Samurai-Ästhetik.“

Selbst die Entschuldigung, dass er ab der 52.Minuten nach einem Tritt Ronaldos mit Bänderriss im Finger gespielt hatte, wollte er nicht gelten lassen. „So extrem schlimm ist es nicht“, sagte er. „Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Da gibt es keinen Trost.“

Ehrungen trotz Finalniederlage

Dabei hagelte es Ehrungen für ihn. Kahn wurde von den Journalisten aller Welt ins All Star Team gewählt, dann zum besten Torwart und schließlich zum besten Spieler des Turniers. Er erhielt 147 Stimmen, rund 25 Prozent. Das hatte noch kein Torwart geschafft, seit die Wahl 1982 eingeführt worden ist. Er hätte aber vermutlich alles gegen den WM-Pokal eingetauscht.

Aber der Empfang am nächsten Tag am Frankfurter Römer hätte auch nicht anders ausfallen können. „Was wäre eigentlich hier los gewesen, wenn wir Weltmeister geworden wären?“ fragte ein gerührter Rudi Völler. Es war das aus deutscher Sicht unerwartet schöne Ende einer WM, die in vielerlei Hinsicht einmalig war. Dass der Torschnitt leicht zurückging (2,52), entsprach dem Niveau des internationalen Fußballs jener Tage, der schlechte Zuschauerschnitt (42.268) den Erwartungen an eine WM in zwei Länder ohne Fußballtradition.

Das würde 2006 sicher nicht passieren, denn dann würde Deutschland die Welt begrüßen.