Golden Goal durch Laurent Blanc

Im Achtelfinale bewiesen die Favoriten, warum sie welche sind. Cleverness triumphierte fast immer über heiße Herzen. Brasilien putzte Chile mit 4:1, der von Zico heftig kritisierte Ronaldo schoss zwei Tore. Italien reichte gegen Norwegen wie so oft ein einziges Tor von Vieiri, danach übte es sich 70 Minuten in der Bewahrung des Vorsprungs. Gastgeber Frankreich hatte weit mehr Mühe und quälte die Nation über zwei Stunden lang, ehe Laurent Blanc in der 114. Minute gegen Paraguay das erste Golden Goal der WM-Historie erzielte.

Ausgerechnet Blanc, der sich zuvor gegen diese Regel ausgesprochen hatte. „Das Tor hat uns weitergebracht, ich werde es nie mehr kritisieren“, beteuerter er nun, und Zinedine Zidane, wegen Rot nach einer Tätlichkeit gesperrt, war sehr erleichtert. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt“, sagte er, weil er ansonsten der Unglücklichste gewesen wäre - hatte er durch sein Foul doch die Mannschaft geschwächt. Auch sein Staatspräsident Jacques Chirac nahm an diesem Abend für sich in Anspruch, der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Fakt ist: Ganz Frankreich war glücklich, beim eigenen Turnier nicht zusehen zu müssen.

Dänemark schickte Afrikas letzte Hoffnung nach Hause und führte schon nach zwölf Minuten 2:0 gegen Nigeria, das letztlich 1:4 unterging. „Nur die Götter können uns stoppen“, hatten die Nigerianer zuvor getönt. Für die Entscheidung sorgte jedoch der spätere Schalker Ebbe Sand 21 Sekunden nach seiner Einwechslung mit dem 3:0. 100.000 feierten in Kopenhagen die Wiederentzündung von „Danish Dynamite“.

Taribo West, Abwehrchef Nigerias, bilanzierte dagegen: „Wir haben schon die spielerischen Mittel, um bei einer WM ganz vorne abzuschneiden, sind aber nicht genug Arbeiter gewesen.“ Das alte Übel der Fußball-Künstler.

Straßenfeger WM: 24 Millionen sehen Achtelfinalsieg gegen Mexiko

Auch am nächsten Tag, einem Montag, triumphierten Fußball-Arbeiter. In Montpellier traf Deutschland auf Mexiko und hatte wieder seine liebe Mühe und Not. Bei 33 Grad warteten 33.500 Zuschauer lange auf Höhepunkte, Bierhoff traf immerhin die Latte.

Nach der Pause der Schreck: Luis Hernandez, der blonde Mexikaner, versetzte drei Verteidiger und Köpke zum 0:1. Genau 43 Minuten blieben noch, das war das Gute daran. Aber hätte der Mexikaner Arellano eine Viertelstunde später nicht nur den Pfosten getroffen, es hätte böse enden können für den Europameister. In der Heimat bangen 24,08 Millionen vor den Fernsehgeräten - Straßenfeger WM.

Mit einem Kraftakt rissen wie gegen den Iran die beiden Stürmer Klinsmann (75.) und Bierhoff (87.) das Ruder herum, und in der Auslandspresse wurden wieder alte Klischees bemüht. „Am Ende schaffen es die Deutschen - wie immer“, stellte die Gazetta dello Sport fest, und Argentiniens Fußball-Weiser Luis Cesar Menotti kleidete sein Kompliment in herbere Worte: „Die Deutschen kommen alle aus einer Fabrik, und zwar aus einem Stahlwerk.“ Berti Vogts jedenfalls war erstmals zufrieden: „Das war mit Abstand die beste Leistung, und wir steigern uns weiter“, versprach er.

"Deutsche Fans gegen Gewalt"

Noch erfreulicher als die Tatsache, dass die Deutschen wieder am Mythos der Turniermannschaft strickten, war ein symbolischer Akt nach den Krawallen von Lens: Der DFB hatte vor dem Stadion 20.000 T-Shirts verteilt mit dem Aufdruck „Deutsche Fans gegen Gewalt“.

Am Abend des 29. Juni zogen auch die Nachbarn aus den Niederlanden nach. Gegen Jugoslawien entschied Edgar Davids in letzter Minute die Partie mit seinem Tor zum 2:1. Guus Hiddink gratulierte sich selbst dazu, mit der Auswechslung des von Wadenkrämpfen geplagten Davids noch einen Moment gezögert zu haben. So kam das Glück an diesem Abend in Toulouse zu dem Trainer, der warten konnte.

Das großartigste Achtelfinale stieg am 30. Juni in St. Etienne, wo England endlich Gelegenheit zur Revanche an Argentinien erhielt. Maradonas Hand-Tor von 1986 war unvergessen. Doch hinterher war die argentinische Wunde im englischen Fleisch noch tiefer. Das hochklassige Spiel ging nach 2:2 in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen, was für England mehr Fluch als Segen ist. Es kam wie befürchtet: Zwei Engländer versagten, Paul Ince und David Batty.

Der wahre Sündenbock aber hieß David Beckham, der nach einem Revanchetritt kurz nach der Pause vom Platz flog und in den englischen Medien angeprangert wurde mit Wortschöpfungen wie „Beck home“. Dahinter verblasste die Glanztat eines Michael Owen, der 18-Jährige erzielte nach einem Solo eins der schönsten WM-Tore.

Weit glanzloser verlief das letzte Achtelfinale, in dem der deutsche Gegner ermittelt wurde. Davor Suker verwandelte einen Elfmeter, und Kroatien schickte Geheimfavorit Rumänien nach hause.

Italiens WM-Traum platzt am Kreidepunkt

Im Viertelfinale traf Frankreich auf die unbequemen Italiener, und 80.000 Zuschauer sahen in Paris das befürchtete Spiel. Nach zwei torlosen Stunden half nur noch eins: Elfmeterschießen. In dieser Disziplin haben auch die Italiener ihre Schwächen, und zum dritten Mal in Folge platzte ihr Titeltraum am Kreidepunkt. Albertini und Di Biagio verschossen, auf der Gegenseite nur Bixente Lizarazu.

Während Luigi di Biagio nach seinem Lattenschuss weinend zusammenbrach, erhielt Frankreichs Torwart Fabien Barthez nicht nur für seine Parade gegen Albertini einen Kuss von Laurent Blanc auf die leuchtende Glatze - ein Ritual nach jedem Sieg der Franzosen. Ihr Trainer Aime Jacquet philosophierte: „Im Elfmeterschießen kommt es auf die Nerven an, und die haben meine Spieler bewiesen.“ FIFA-Chef Blatter hatte so viel Mitleid mit den Italienern, dass er spontan für eine Abschaffung des Elfmeterschießens plädierte.

Beim Spiel zwischen Brasilien und Dänemark ließ sich alles in 90 Minuten regeln, dramatisch war es dennoch. Von 0:1 über 2:2 zum 3:2 führte Brasiliens Weg ins Halbfinale, Rivaldo war mit zwei Toren der Mann des Tages. Dänemarks Marc Rieper traf in letzter Minute nur die Latte, sonst hätten die 39.500 in Nantes noch mehr bekommen von diesem wunderbaren Spiel, das beste der WM bis dahin.

Weltuntergangsstimmung in Lyon

Am 4. Juli sah die WM zwei weitere packende Spiele, doch in Deutschland möchte man diesen Tag liebend gern vergessen. In Lyon endete auch der zweite Versuch von Berti Vogts, Weltmeister zu werden, im Viertelfinale. Kurioserweise nach der über weite Strecken besten Leistung stand Deutschland am Ende mit leeren Händen da - ein heftiges 0:3 gegen Kroatien sorgte für Weltuntergangsstimmung. Es war ausgerechnet in seinem 100. Länderspiel die höchste Niederlage des Bundestrainers Vogts.

Wer war schuld? In seinem Zorn machte Vogts den Schiedsrichter und sogar die FIFA verantwortlich. „Vielleicht will man uns nicht bei dieser WM. Wir fahren nach Hause, warum auch immer, das haben andere Leute zu verantworten.“ Er regte sich über den Spiel entscheidenden Platzverweis für Christian Wörns nach einer Notbremse an Davor Suker auf. Eine bei genauer Betrachtung nachvollziehbare Entscheidung, die Gift für das bis dahin starke deutsche Spiel war. Denn Sekunden vor der Pause gingen die Kroaten in Führung, und in Unterzahl fiel die Aufholjagd doppelt schwer.

Die DFB-Auswahl versuchte es dennoch und hatten einige Chancen, aber als Goran Vlaovic in der 80. Minute einen Konter abschloss zum kroatischen 2:0, war alles entschieden, Suker setzte noch einen drauf gegen resignierende Deutsche. „Das war das Spiel unseres Lebens, das wir alle nie vergessen werden“, jubelte Zvonomir Boban. Kroatiens Fußball stand auf dem Gipfel, Deutschland fiel aus allen Wolken.

Das Ausland verspürte wenig Mitleid. „Noch mehr gute Nachrichten: Deutschland ist auch raus“, spottete News of the World, und die Gazetta dello Sport freute sich: „Kroatien schickt Deutschland in Rente. Die Deutschen praktizierten einen veralteten Fußball und wurden beerdigt.“ Deren Trainer blieb (vorerst) Berti Vogts. Es bedurfte vor allem einer neuen, jüngeren Mannschaft - das war die Erkenntnis von Frankreich.

Am selben Tag feierten die Niederlande den Einzug unter die letzten Vier. In Marseille schoss Denis Bergkamp in der 90. Minute das 2:1 über Argentinien, das kurz zuvor einen Platzverweis erdulden musste. Aber auch die Holländer hatten schon Rot gesehen in dieser hart umkämpften Partie.

"Ein Denkmal für Thuram - sofort!"

Wie gegen Jugoslawien wollte der Torschütze die Auswechslung, aber Hiddink vertraute seinem Näschen: „Einen Bergkamp muss man immer drin lassen.“ Im Habfinale trafen unglücklicherweise die beiden spielerisch besten Mannschaften in Marseille aufeinander. Holland und Brasilien lieferten sich ein hochklassiges Duell, in dem Ronaldo seiner Bestimmung nachkam und Brasilien nur 19 Sekunden nach der Pause in Führung schoss. Patrick Kluivert, der Rotsünder in der Auftaktpartie, machte alles wieder gut mit seinem späten Ausgleich. Nach torloser Verlängerung mussten wieder Elfmeter geschossen werden, und diesmal zeigten die Holländer Nerven. Cocu und Ronald de Boer scheiterten an Claudio Taffarel und öffneten Brasilien das Tor zum Finale.

Dort wartete Frankreich. Denn der Gastgeber fand als erster ein Rezept gegen die Kroaten, die bis zur Pause ein 0:0 hielten. Held des Tages war ein absoluter Anti-Held: Abwehrspieler Lilian Thuram, der noch nie ein Tor für Frankreich erzielt hatte, ergriff nach dem schnellen Rückstand durch Suker (23 Sekunden nach Wiederanpfiff) die Initiative. Schon im Gegenzug glich er aus, und nach 70 Minuten traf der Mann aus Guadeloupe erneut. Dabei blieb es, und die Zeitung Le Parisien forderte „ein Denkmal für Thuram - sofort!“

Frankreichs Sieg wurde nur durch den Platzverweis für Laurent Blanc wegen Tätlichkeit getrübt. Er fehlte nun gegen Brasilien, das noch nie ein WM-Finale verloren hatte. Den Kroaten blieb nur das Spiel um Platz drei und die Erkenntnis, Opfer der eigenen Müdigkeit geworden zu sein. Stolz waren sie trotzdem, und Trainer Blazevic sagte: „Wir könnten genauso gut im Finale stehen.“

Im Gegensatz zu den Bulgaren 1994 schenkten sie das kleine Finale nicht ab und schlugen Holland mit 2:1. Suker sicherte sich mit seinem Siegtor die Torschützenkrone dieser WM, bei der er sechsmal traf. Kroatien war der beste WM-Neuling seit 1966, als auch Portugal auf Platz drei gestürmt war.

Entscheidende Schwächung von Ronaldo

Der König der Fußball-Welt sollte am 12. Juli 1998 in Paris gekrönt werden. Die Ausgangslage war völlig offen, für die Franzosen sprach der Heimvorteil, für Brasilien die Erfahrung und individuelle Klasse. Alles konnte man erwarten, nur kein 3:0 der Gastgeber. Aber so kam es. Die Brasilianer gingen wie paralysiert in das Spiel. Warum, erfuhr man erst später.

Ronaldo hatte in der Nacht vor dem Spiel einen epileptischen Anfall, kam ins Krankenhaus, und Zagalo wollte ihn nicht aufstellen. Noch eine Stunde vor Anpfiff wurde der Starstürmer als Ersatzspieler gemeldet. Von Mannschaft und Sponsoren wurde angeblich jedoch Druck ausgeübt, und Zagalo soll nachgegeben haben.

Ein Fehler, Ronaldo war ein Ausfall und überließ einem anderen die Showbühne. Zinedine Zidane, bei dieser WM bis zu diesem Tag nicht so auffällig wie erwartet, erlebte einer Sternstunde. Zweimal ließ man ihn nach Ecken zum Kopfball hochsteigen, zweimal traf er. Brasilien war an diesem Abend nicht in der Lage zurückzuschlagen. Selbst als sich Frankreich durch Desaillys Platzverweis selbst schwächte, kam der Gegner nicht heran. Dagegen erhöhte Emanuel Petit in letzter Minute auf 3:0. Es war die letzte Minute dieser WM und ihr letztes Tor.

Danach feierte ein ganzes Land seine erste Weltmeisterschaft. Nicht immer kontrolliert, auf der Champs Elysees gab es 80 Verletzte, aber Frankreich empfand an diesem Tag keinen Schmerz. Eine für den Veranstalter großartige WM fand ein krönendes Ende, und auch der Gegner zollte Beifall. „Der Cup ist in guten Händen“, sagte Brasiliens Trainer Mario Zagalo gönnerhaft. Als hätte er geahnt, dass der WM-Pokal schon bald wieder nach Brasilien gehen sollte.