Fritz Walter als Minigolf-Ass

Dennoch war das Quartier ein kleines Idyll und bot Gelegenheit zu Aktivitäten wie Tischtennis und Minigolf. Auch hier zeigte sich auf verblüffende Weise, wer das meiste Ballgefühl hat. „Ehrenspielführer Fritz Walter hat alle Turniere im Miniaturgolf gewonnen, die Herberger als Zeitvertreib für die Abendstunden ansetzte“, vermeldete die BZ am 11. Juni nüchtern. Weil sich einige aber als allzu schlechte Verlierer erwiesen, verbot der Chef schließlich dieses Vergnügen.

Der Tagesablauf war gründlich durchorganisiert. Frühstück um neun, Abfahrt zum Trainingsplatz in Lomma um zehn, Mittagessen um zwei, Ruhezeit bis sieben, dann Abendessen, ab 23 Uhr Bettruhe. Zuweilen wurde ein Busausflug nach Malmö oder eine Angelpartie unternommen, auch der Besuch einer schwäbischen Trachten-gruppe mit Tanzaufführung war eine angenehme Abwechslung. Die von ihr dem Team verehrten fünf Weinflaschen kassierte Herberger aber vorsichtshalber ein. Höchste Zeit, dass Fußball gespielt wurde.

Der Modus des seltsamen Turniers war wieder durchschaubarer geworden, in den vier Vierer-Gruppen spielte im Gegensatz zu 1954 nun auch jeder gegen jeden. Der Auslosung im Februar waren jedoch Grenzen gesetzt worden, da jede Gruppe ihren Südamerikaner, ihren Briten und zwei Kontinental-Europäer haben musste.

Für die Deutschen bedeutete das: Argentinien, Tschechoslowakei und Nordirland. Eröffnet wurde die WM aber von Gastgeber Schweden, der in Anwesenheit der Königsfamilie in Stockholm Mexiko mit 3:0 besiegte. Die Parte wurde als eine von nur elf live übertragen, auch Deutschlands Auftakt gegen Argentinien konnte die Heimat verfolgen. Selbstverständlich war das nicht, insgesamt übertrug Eurovision nur drei, also gerade die Hälfte der deutschen Spiele. Der Rest wurde dem Radio überlassen.

In allen Vorrundenspielen im Rückstand

In Malmö war wie 1954 in Bern gleich der erste gegnerische Schuss ein Tor, Corbatta traf in der 3. Minute. Daran sollten sich die Anhänger gewöhnen, in allen Vorrundenspielen geriet die Herberger-Elf in Rückstand, verloren hat sie keines.

Gegen Argentinien reichte es gar zu einem 3:1-Sieg, der überragende Rahn dankte Herberger seine WM-Nominierung gleich mit zwei Toren, darunter ein 30-Meter-Schuss. Das 2:1 erzielte der junge Hamburger Uwe Seeler in seinem ersten WM-Spiel.

Herberger hatte ihn schon im Herbst 1954 einmal ausprobiert und dann lange warten lassen. In seinem Notizbuch nannte er Seeler nur „Das Wunder“. Herberger baute auf den Torjäger auch aufgrund dessen Mannschaftsdienlichkeit. So bot Seeler Fritz Walter im Bus an, er werde für ihn mitrennen, „wenn du nicht mehr kannst.“ Walter war in Schweden schon 37 und voller Selbstzweifel und doch fast wieder in Hochform.

An ihm richtete sich die Elf nach dem Rückstand auf. Dazu brauchte er keine Spielführerbinde, die nach seinem Rücktritt an Schäfer gegangen war. Der Auftaktsieg lockerte die Stimmung. Helmut Rahn gewann eine 50- Mark-Wette gegen Erich Juskowiak, weil er sich beim Friseur einen kuriosen Kurzhaarschnitt nach Vorbild eines Dorfjungen von Bjärred verpassen ließ. Und unter dem Zimmerfenster des Wuppertalers Horst Szymaniak fanden sich Schnapsfläschchen, was Herberger nicht begeisterte. Aber er brauchte auch Szymaniaks genialen Pässe, um die schwere Vorrunde zu überstehen. Danach sah es in Helsingborg nicht aus, als die Tschechen zur Pause schon mit 2:0 führten.

Ein Piccolo pro Kopf erlaubt

Wieder belebte Fritz Walter den Weltmeister. „Er trickste und täuschte, dass den Tschechen das Feuer vor den Augen flimmerte.“, lobte das Sport Magazin nach dem Spiel, das dank Toren von Schäfer und Rahn 2:2 endete. Nach einem erneut hart umkämpften 2:2 gegen Nordirland (Tore: Rahn und Seeler) war der Gruppensieg und damit das Viertelfinale erreicht. Herberger erlaubte einen Piccolo pro Kopf und das Sport Magazin bilanzierte die Vorrunde so: „Selten hat sich ein Fußball-Weltmeister so tapfer geschlagen wie diesmal das besonders vom Ausland zu Unrecht so viel geschmähte deutsche Team.“

Denn in der internationalen Presse wurde die rustikale Spielweise der Elf kritisiert, Argentiniens Trainer Guilermo Stabile sagte: „Wir sind an keinen so gewalttätigen Fußball gewöhnt.“ Stabile musste mit seiner Mannschaft ebenso abreisen und bei der Ankunft vor 20.000 wütenden Landsleuten in Sicherheit begeben wie die Mexikaner und Paraguayer, so dass nach der Vorrunde nur Brasilien den Rest der Welt vertrat. Sonst war Europa unter sich.

Die Südamerikaner aber hatten das Publikum begeistert und die Fachleute eindruckt, blieben sie doch ohne Gegentor bis zum Halbfinale. Ihr 4-2-4-System revolutionierte den Fußball. Nur England war in der Lage, ihnen einen Punkt abzuknöpfen. Doch da die Briten und die Russen punktgleich einliefen, gab es ein Entscheidungsspiel in Göteborg (0:1), wo der englische Traum schon am 17. Juni platzte.

Wieder war das Mutterland des Fußballs frühzeitig gescheitert. Dass auch die Schotten heimfuhren, war ihnen nur ein schwacher Trost. Nordirland und Wales hingegen kamen über Entscheidungsspiele, die bei Punktgleichheit angesetzt wurden, ins Viertelfinale. Dabei offenbarte sich das Desinteresse der Schweden an dieser WM, die mit 24.900 Zuschauern pro Spiel deutlich schlechter besucht war als Schweiz 1954 (36.300). Den Schicksalskampf der ehemals großen Ungarn gegen Wales (1:2) wollten in Stockholm nur 2832 Menschen sehen und zu Nordirland - Tschechoslowakei (2:1 n.V.) kamen nur 6196 Zuschauer.

Just Fontaine der überragende Torjäger

Dabei wurde durchaus Spektakel geboten, bei den Franzosen war es sogar garantiert. Sie hatten nach der Vorrunde ein Torverhältnis von 11:7 und in Just Fontaine den überragenden Mittelstürmer des Turniers, der beim 7:3 über Paraguay allein vier Mal zuschlug. Am Ende sollte der Mann von Stade Reims mit 13 Toren einen ewigen WM-Rekord aufstellen.

Die Viertelfinalspiele wurden alle am 19. Juni ausgetragen, was für massive Kritik sorgte, da die drei Entscheidungsspiele zuvor am 17. Juni gewesen waren. Nun trafen also drei ausgeruhte auf drei strapazierte Mannschaften, nur Deutschland und Jugoslawien hatten beide gleich viele Ruhetage gehabt.Würde es in Malmö eine Revanche für Genf geben? Die Jugoslawen hofften das, doch Helmut Rahn war wie 1954 ihr Verhängnis.

Diesmal war er der einzige Torschütze, schon nach zwölf Minuten und aus ganz unmöglichem Winkel zog er ab. Typisch Rahn! Wieder war es eine Abnutzungsschlacht, die Nerven kostete. Herberger wehrte all jene ab, die ihn nach Abpfiff auf Schultern tragen wollten und verwies auf die Spieler.

Eine lange Nacht nach dem Halbfinal-Einzug

Dankbar genehmigte der stolze Bundestrainer nach dem Einzug unter die letzten Vier eine lange Nacht und das ließen sich die Helden nicht zwei Mal sagen: Auf Zimmer 26 in Bjärred lud Fritz Walter das Team auf ein Glas Sekt, auch um sein 60. Länderspiel zu feiern. Zimmerpartner Rahn, der schon im Bus wieder seine Essener Marktfrau imitiert hatte, gab den Büttenredner. „Im Quartier der deutschen Mannschaft ging es so ausgelassen zu wie an den närrischen drei Karnevalstagen im Rheinland“, schrieb das Sport Magazin. „Aber als der Gesang gar zu laut wird, steckt Herberger den Kopf zur Tür herein. ‚Noch immer nicht Feierabend, meine Herren?‘“, schildert Fritz Walter in seinem WM-Buch das jähe Ende der Sommernachts-Party.

Feiern durften auch die Schweden (2:0 über die UdSSR), Franzosen (4:0 gegen Nordirland) und Brasilien, das der 17jährige Wunderknabe Pelé gegen Wales ins Halbfinale schoss (1:0). Die Modus-Kritiker aber sahen sich bestätigt: alle Sieger der Entscheidungsspiele waren ausgeschieden und das ohne ein einziges Tor. Die Folge: Ab 1962 zählte auch das Torverhältnis.

Die Halbfinalbegegnungen sollten dafür umso mehr Tore bringen. Torheiten auch. Die Emotionen schlugen hoch vor dem Spiel der Deutschen gegen die Schweden. In der Presse des Gastgebers wurde plötzlich an den Krieg erinnert, die deutschen Spieler als „Knochenbrecher“ und Herberger als „Sklavenhalter“ bezeichnet. Als wäre das nicht genug, heizten Anpeitscher das Publikum in Göteborg auf. Im WM-Buch, das der Burda-Verlag 1958 herausgab, heißt es: „Vor Beginn des Spiels wurden die Massenchöre regelrecht einstudiert, mit Hilfe von Schalltrichtern brachten fahnenschwenkende Einpeitscher den Besuchern bei, wie sie den alten Sportschlachtruf der Schweden, das ‚Heja! Heja! – Sverige!’ einsetzen müssten. Der Unterricht trug seine Früchte; für die deutsche Elf wurde das Ullevi-Stadion zum Hexenkessel.“

In dieser völlig ungewohnten Atmosphäre büßte Deutschland seine Titelchance ein und verlor mit 1:3. Aber erst als die Elf eine Neun war, kamen die Schweden, die Fritz Walter zu einem humpelnden Statisten degradiert und Erich Juskowiak zu einem Revanchefoul provoziert hatten, zu den entscheidenden Toren in den letzten neun Minuten.

Zur Pause hatte es noch 1:1 gestanden, Hans Schäfer war sogar die Führung geglückt. Vor dem Ausgleich gab es ein schwedisches Handspiel und Uwe Seeler wurde nach der Pause elfmeterreif gefoult, doch der ungarische Schiedsrichter Zsolt verspürte kein Verlangen, die Menge gegen sich aufzubringen. „Das Glück und der Schiedsrichter waren gegen unsere Elf“, titelte das Sport Magazin.

Der schwarze Tag des Erich Juskowiak

Es gab aber noch einen Sündenbock und der trug ein weißes DFB-Trikot: Juskowiak. Sein Revanchefoul, er trat Kurre Hamrin nach einer Stunde von hinten in die Beine, wurde zu Recht geahndet. Juskowiak schlich weinend vom Platz und ahnte die Folgen: „Wir haben den Titel durch meine Schuld verloren.“

Das Schlimmste war, dass alle schwiegen. Am Abend wurde ausgerechnet er geehrt, für sein 25. Länderspiel erhielt er eine silberne Nadel. In eisiger Stimmung, wie sich Juskowiak erinnerte: „Es war wie ein Begräbnis, als ließen sie meinen Sarg runter, langsam, Stück für Stück.“ Herberger schwieg zwei Tage, dann kam Juskowiak zu ihm und entschuldigte sich. Der Chef war gnädig: „Wir ziehen einen Strich unter die Sache und wir sprechen nie mehr darüber bis an unser Lebensende.“

Ähnlich konsequent reagierte DFB-Präsident Peco Bauwens auf die Vorfälle im Ullevi-Stadion. „Nie mehr werden wir dieses Land betreten, nie mehr werden wir gegen Schweden spielen“, sagte er im ersten Zorn und veranlasste die vorzeitige Abreise. Beim abschließenden FIFA-Bankett für die letzten Vier fehlte Deutschland. Das Spiel hatte Auswirkungen auf das Verhältnis beider Länder im Sommer 1958: Schweden wurden an Tankstellen nicht bedient, beim Aachener Reitturnier wurde die Flagge gestohlen, die zu Ehren der schwedischen Delegation am Teamhotel geweht hatte. Auf der Reeperbahn hingen plötzlich Schilder wie „Schweden unerwünscht“ und in vielen Gaststätten wurde die „Schwedenplatte“ von der Karte gestrichen.

Das Sport Magazin klagte: „Was haben wir den Schweden getan? In beiden Weltkriegen hat kein deutscher Soldat schwedischen Boden betreten.“ Das unsportliche Verhalten der Zuschauer mag dazu beigetragen haben, dass die deutsche Mannschaft trotz eines lustlosen 3:6 mit einer B-Elf gegen Frankreich auch als Vierter wie ein Weltmeister empfangen wurde.

Als der Zug am 29. Juni um 22.37 Uhr in Hamburg hielt, hatten sich über 30.000 Anhänger eingefunden. Und für die verbliebenen Helden von 1954 wiederholte sich in ihren Heimatstädten die Prozedur, wenngleich alles eine Nummer kleiner. 10.000 Kölner feierten Schäfer und ganz Kaiserslautern war zum Bahnhof gekommen, um Walter und Eckel zu sehen. Die Heimat war ebenso zufrieden wie Sepp Herberger, der einmal sagte: „Die Elf von 1958 war sicher nicht so ausgeglichen besetzt wie 1954, vielleicht war der Geist auch nicht so gut, aber es war trotzdem eine große Mannschaft.“

Die größte Mannschaft des Turniers aber waren ohne Zweifel die Brasilianer, die souverän wie zuvor keine andere den Welt-Pokal gewannen. Sowohl im Halbfinale gegen Frankreich als auch im Endspiel gegen die Schweden siegten sie jeweils mit 5:2 und verdienten sich Attribute wie Zauberer und Hexenmeister. In diesen Spielen ging der Stern von Pelé endgültig auf.

Gegen Frankreich schaffte er als 17-Jähriger einen Hattrick, das hat es nie wieder bei einer WM gegeben. Auch im Finale erzielte er zwei Tore, das letzte beendete die WM 1958. Der neue König des Fußballs beendete sein erstes Fest, auf dem er tanzen durfte, höchst persönlich. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an und das musste er auch nicht. „Besser kann man nicht Fußball spielen“, schwärmten die Experten aus aller Welt.