Dremmler ab.

Volles Haus bei allen Spielen

In dieser Stimmung also flog der Titelverteidiger nach Frankreich. Immerhin hätte es bei der Auslosung am 10. Januar 1984 schlimmer kommen können: Portugal, Rumänien und Spanien waren nicht mal Geheimfavoriten des Turniers. Bei den internationalen Wettbüros stand Gastgeber Frankreich ganz oben und dann kam – Deutschland. Der Mythos von der Turniermannschaft eilte dem Gepäck schon voraus, die Fachwelt wollte nicht glauben dass Deutschlands Fußball seine Kraft verloren hätte.

Immerhin war die DFB-Elf dank früherer Verdienste Gruppenkopf, also bei der Auslosung gesetzt worden. In der anderen Gruppe traf der Gastgeber auf Außenseiter Dänemark, Jugoslawien und Vize-Europameister Belgien, das sich in der Qualifikation unter anderem gegen die DDR durchsetzte, die wiederum erst mit dem Gewinnen begann (3:0 gegen Schweiz, 2:1 gegen Schottland) als es zu spät war.

Frankreich hatte sich hübsch gemacht, sechs von sieben Stadien waren renoviert worden. Nur der Pariser Prinzenpark war schön und groß genug für das EM-Turnier, das zur Freude der Veranstalter nur volle Stadien erleben sollte. Das Gros der 760.000 Tickets war schon vor der Eröffnungspartie am 12. Juni weg, endlich grassierte in Europa EM-Fieber.

Müder Auftakt mit Platini-Tor

Das erste Spiel trug dazu nicht allzu viel bei, doch das Ergebnis stimmte. Michel Platini schoss Frankreich in der 78. Minute mit einem abgefälschten Schuss zum Sieg gegen Dänemark. Schlimmer als die Niederlage traf die Dänen der Schienbeinbruch von Allan Simonsen nach einem Foul von Le Roux. Das Krachen hörte man bis auf die obersten Tribünenränge des Prinzen-Parks, nur der davon benommene Simonsen realisierte sein Schicksal noch nicht: "Nicht auswechseln, nicht auswechseln", rief er den Betreuern zu, ehe sie ihn vom Platz trugen.

Für ihn war die EM schon zu Ende, in Kopenhagen wurde er operiert. Kurz vor Schluss flog Manuel Amoros nach einem Kopfstoß gegen Jesper Olsen vom Platz. Er wurde für drei Spiele gesperrt. Nur ein Tor und schon zwei böse Fouls – war das ein böses Omen für das Turnier? Aufgrund der regelmäßig 1:0 endenden Europacup-Finals jener Jahre befürchteten Experten für die EM die Fortsetzung des "Schachbrettfußballs". Aber sie sollten sich irren, vor allem in Bezug auf die Gruppe 1.

Im Parallelspiel ging bereits der erste EM-Stern auf. Der 18-jährige Enzo Scifo vom RSC Anderlecht, dem in vier Jahren in der Jugend rund 300 Tore gelungen waren, führte Belgien zum 2:0 über ein schwaches Jugoslawien. Belgiens Erfolg überraschte: Wegen eines Bestechungsskandal waren nur drei EM-Helden von 1980 übrig geblieben, Guy Thys musste eine neue Mannschaft herbeizaubern. Scifo etwa, ein Mann mit sizilianischen Wurzeln, erhielt erst sechs Tage vor dem Turnier einen belgischen Pass. Ihn kannten nicht mal seine Mitspieler.

Dänemark überrascht die Konkurrenz

Drei Tage später jedoch gerieten die Belgier gegen Frankreich fürchterlich unter die Räder, in Nantes verloren sie 0:5. Platini erwischte einen Gala-Tag, erzielte drei Tore und plötzlich war Frankreich nicht nur wegen seiner Gastgeber-Rolle Favorit. "Wir sind stärker als bei der WM 82", drohte der Kapitän der "Equipe tricolore" bereits Großtaten an. "Ein Hauch von Brasilien lag in der Luft", schwärmte Ex-Nationalspieler Raymond Copa und fand viele Befürworter.

Kurios: auch das zweite Spiel des Abends endete 5:0. Die Dänen überrannten die desolaten Jugoslawen, der heutige HSV-Sportdirektor Frank Arnesen schoss zwei Tore. 15.000 "Rooligans", wie sich die sympathischen Dänen-Fans selbstironisch nannten, feierten "Danish Dynamite". Trainer Piontek staunte: "Dass wir so stark sind, hatte ich nicht im Tram erwartet." Sein Rezept, das die Fußball-Welt damals nicht kannte: "Unsere Legionäre bieten eine Mischung aus allen europäischen Stilen, mannschaftliche Disziplin schließt individuelle Freiheit nicht aus."

Nur sechs seiner Spieler waren Profis in Dänemark, der Rest verteilte sich auf Europas Top-Ligen. Kollege Veselinovic wiederum dachte nicht, dass Jugoslawien so schwach sein würde und bereits ausgeschieden war. So ging er wegen plötzlicher Krankheit gar nicht mehr zur Pressekonferenz, sein Assistent Mladinic nutzte die Gelegenheit, mit seinem Chef abzurechen. Auch im Wissen darum, dass dieser ohnehin fliegen würde, attestierte er ihm, noch wie "nach dem Krieg zu trainieren, doch der ist schon fast 40 Jahre aus". Loyalität nach Balkan-Art...

Trotzdem rafften sich die Jugoslawen noch einmal zu einer besseren Leistung auf und schockten 48.000 Zuschauer in St. Etienne, denn zur Pause führten sie gegen Frankreich. Doch in der Stunde der Not war bei diesem Turnier Verlass auf den Kapitän: wieder schoss Platini drei Tore, diesmal war es sogar ein klassischer Hattrick binnen 18 Minuten. So führte ein Mittelfeldspieler die Torjägerliste der EM 1984 an, Stürmertore erzielte Frankreich in der Vorrunde nicht. Stojkovic verkürzte noch per Elfmeter, dann war der Gruppensieg der Franzosen unter Dach und Fach. Wieder beklagten sie Platzverweise an diesem Tag, aber sie zogen diesmal keine Sperren nach sich. Nur Gelächter.

Platzverweise für Maskottchen

Der rumänische Schiedsrichter Daina erwies sich nämlich als Gegner von Maskottchen und ließ drei gallische Hähne aus dem Innenraum vertreiben. Das Lachen erstarb schon bald nach dem tragischsten Vorkommnis des Turniers: Jugoslawiens Teamarzt erlitt auf der Bank einen Herzinfarkt und starb im Krankenhaus.

Nichts für Herzkranke war das Parallelspiel, in dem es zwischen Belgien und Dänemark um den zweiten Platz ging. Die Belgier führten schon 2:0, aber Dänemark gewann noch 3:2. Der Ex-Kölner Preben Elkjaer-Larsen schoss den von den "Rooligans" gefeierten Siegtreffer in der 84. Minute. Das Tor kostete einen Unbeteiligten Geld: Bayern-Manager Uli Hoeneß hatte mit Sören Lerby, damals Profi in München, um 500 D-Mark gewettet, dass Dänemark die Vorrunde nicht überstehen würde. Lerby hielt dagegen und kassierte.

Bezeichnend für das noch geringe Standing der Dänen ist auch diese Lerby-Anekdote nach dem Spiel. Da wollte ein österreichischer Reporter von "Herrn Qvist", das war der Torwart der Dänen, was das Geheimnis seiner Paraden sei. Lerby verulkte ihn: "Ich spiele immer so, ich behalte immer die Ruhe". Dann wurde der Reporter von Kollegen auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht und brach das Interview peinlich berührt ab. Die Welt musste sie eben erst noch kennen lernen, diese Dänen.

"Wir wissen halt nicht, wo wir stehen"

Das Problem hatten die Deutschen nicht. Sie kannten sich nur selbst nicht so recht. "Wir wissen halt nicht, wo wir stehen", sagte Libero Ulli Stielike vor dem Auftakt gegen Portugal. Auch die von Ausrüster Adidas zur Verfügung gestellten leichtesten Schuhe aller Zeiten (220 Gramm) konnten eine gewisse Leichtfüßigkeit nicht so einfach herbeizaubern. Im Gegenteil. Die Hitzeschlacht von Straßburg war ganz schwere Kost. Tore fielen nicht, Pfiffe und "Aufhören"-Rufe gab es umso mehr.

"Das Mittelfeld der Handwerker war überfordert", schrieb die Deutsche Presseagentur (dpa). Es hatte vor allem noch nie zusammengespielt. Die Defensiven Guido Buchwald, in seinem zweiten Länderspiel, Andreas Brehme, in seinem sechsten, und Wolfgang Rolff (elfter Einsatz) waren zudem noch ausgesprochen unerfahren. Weltklassestürmer Karl-Heinz Rummenigge in seiner neuen Rolle ebenfalls. "Wenn es nach mir geht, ist meine Mittelfeld-Karriere beendet", sagte der Kapitän frustriert. Jupp Derwall schob einiges auf die Umstände: "Wir haben die Nervosität, Unruhe und Verkrampftheit gezeigt wie sie im ersten Spiel üblich ist."

Das Turnier lief, die Mannschaft war noch nicht gefunden. Das war nichts Neues und schlechte Eröffnungsspiele hatten Tradition. Aber diesmal schwang die Angst im eigenen Lager mit. Derwall: "Wir müssen uns alle von der Vorstellung befreien, dass die Deutschen wie früher auf den Platz gehen und alles wegfegen können." Immerhin verbreiteten die kommenden Gegner weder Angst noch Schrecken. Rumänien und Spanien trennten sich in einem ähnlich ideenarmen Spiel 1:1, die DFB-Beobachter Berti Vogts und Gero Bisanz schickten ihre mit Schreibmaschine getippte Berichte stets mit Kurier ins deutsche Quartier "La Forrestiere" in Paris.