Schwere Anfangsjahre

Schon bevor die erste Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde, kam die Idee auf, eine Europameisterschaft ins Leben zu rufen. Wie beim führenden Radrennen der Welt, der Tour de France, und bei der WM saß ihr Initiator in Frankreich. Henri Delaunay, Generalsekretär des französischen Fußballverbands, reichte seinen Plan bereits 1927 bei der FIFA ein. Eine UEFA gab es schließlich noch nicht, sie wurde erst 1954 gegründet. Aber erst vier Jahre nach ihrer Gründung und nachdem bereits sechs WM-Endrunden ausgetragen worden waren, wurde die Idee einer kontinentalen Meisterschaft auch in Europa umgesetzt. Nicht zuletzt die politische Zerrissenheit Europas durch den Krieg hatte sich als Hindernis herausgestellt.

Bis dahin hatte es nur kleinere Turniere gegeben, in denen sich Nachbarländer maßen. Die Briten kickten bereits seit 1883 um ihre British Champions Chip, die Skandinavier spielten seit 1924 einen Nordic Cup aus die vom Österreicher Hugo Meisl 1927 ins Leben gerufene Zentraleuropäische Meisterschaft mit Österreich, den Tschechen, Ungarn, Italien und der Schweiz kam der EM-Idee noch am nächsten. Hier spielten die Länder unter sich, die das Profitum schon etabliert hatten. Der sogenannte Dr. Gerö-Cup, nach dem österreichischen Verbandspräsidenten Dr. Josef Gerö (lebte von 1896-1954), wurde zwischen 1927 und 1960 fünfmal ausgetragen. Rekordsieger war Italien (1930, 1935), auch Österreich (1932), Ungarn (1953) und die Tschechoslowakei (1960) duften sich als Europameister fühlen.

1960: Die Europameisterschaft hat Premiere

Als am 6. Januar 1960 das letzte Spiel dieses EM-Vorläufers stattfand, waren die Qualifikationsspiele für eine "richtige" Europameisterschaft schon in vollem Gange. Henri Delaunays Sohn Pierre hatte die Idee seines 1954 verstorbenen Vaters keine Ruhe gelassen. Und nach Gründung der UEFA war es leichter geworden, eine EM-Idee durchzusetzen. So leicht nun auch wieder nicht, es gab drei Kongresse. In Lissabon (1956) gab es noch keine Einigung unter den Delegierten, in Köln (März 1957) schon Fortschritte und in Kopenhagen (Juni 1957) den Durchbruch. Man einigt sich mit 14:7 Stimmen bei fünf Enthaltungen auf ein Modell mit 16 Teilnehmern, die in Hin- und Rückspielen nach Pokal-Modus vier Halbfinalisten ermitteln sollten, die dann in einem Land die Endrunde um den "Europapokal der Nationen" austragen sollten. Keine großen Turniere nach heutiger Art also, keine Gruppenspiele. Es mussten sich dafür allerdings mindestens 16 Länder melden. Die Initiatoren hatten Glück, es waren 17, so dass eine Vorausscheidung nötig wurde. Das Los führte am 5. April 1959 in Dublin somit Irland und die Tschechoslowakei zum allerersten Europameisterschafts-Spiel zusammen.

Der Ire Liam Tuoly schoss das erste EM-Tor beim 2:0-Sieg seiner Elf, doch es sollte nicht reichen. Die Tschechen wendeten im Rückspiel zu Bratislava das Blatt (4:0), auch weil ihr Torhüter Stacko Elfmeter schießen konnte. Er läutete damit die Aufholjagd ein. Das Teilnehmerfeld stand nun fest, aber Europas Fußball-Adel abseits. Ex-Weltmeister Bundesrepublik Deutschland nahm nicht teil, Großbritannien mit all seinen Verbänden nicht, Italien und der WM-Zweite Schweden auch nicht. Es war eine Abwägung der Interessen, zuweilen auch eine Frage der Finanzen.

Der gerade eingeführte Europapokal der Landesmeister (1955) und die vielen Meisterschaftsspiele in den Top-Ligen – in Englands First Divison spielten 22 Mannschaften – kosteten neben den WM-Qualifikationsspielen viel Kraft, fanden die Etablierten, auch war nicht zu erwarten dass der Wettbewerb allzu lukrativ sein würde. Bundestrainer Sepp Herberger verfolgte seine eigenen Interessen, indem er sagte: "Zwischen den Weltmeisterschaften ist der Neuaufbau einer starken Nationalelf die erste Aufgabe. Da stört ein Europaturnier nur." So kam es, dass die Bundesrepublik Deutschland an den ersten beiden Europameisterschaften nicht teilnahm. Entsprechend ist es um das Wissen über diese Veranstaltungen bestellt.

Michel: "Wer ist eigentlich Europameister 1960 geworden?"

Als der mittlerweile verstorbene Fernsehkommentator Rudi Michel 2007 für ein EM-Buch als Zeitzeuge der Endrunde 1960 herhalten soll, schrieb er offen in seinem Beitrag: "Wer ist eigentlich Europameister 1960 geworden? Sie erwischen mich total auf dem falschen Fuß. Ich habe keine Erinnerung an dieses Turnier." In der Bundesrepublik blieb der Bildschirm jedenfalls dunkel. Und wer regelmäßiger Leser des Sport Magazins war, erfuhr auch nicht wer 1960 Europameister wurde. Das Finale war nach Redaktionsschluss und in der folgenden Ausgabe fehlte ein Bericht davon. Zum Glück ist trotzdem nicht alles verschollen. Festzuhalten gilt, dass im allerersten Achtelfinalspiel der EM-Historie ein Zuschauerrekord aufgestellt wurde, der ungebrochen ist. Zum Treffen UdSSR – Ungarn kamen in Moskau 100.500 Menschen und bejubelten einen 3:1-Sieg des späteren Europameisters gegen das sterbende Wunderteam vom Balkan.

Ost-Europa war stark vertreten, die Länder hinter dem Eisernen Vorhang zeigten auch in dieser Hinsicht Geschlossenheit. Weshalb es auch nicht richtig ist davon zu sprechen, die EM-Premiere sei ohne deutsche Beteiligung verlaufen. Die DDR schickte ihre seit 1952 bestehende Nationalelf sehr wohl ins Rennen, scheiterte aber schon im Achtelfinale an Portugal (0:2 und 2:3). Im Viertelfinale standen vier Ost-Europäer, wobei die Rumänen im Duell mit den Tschechen auf der Strecke blieben.

Jugoslawien eliminierte in einem furiosen Rückspiel die Portugiesen (5:1 in Belgrad) und Frankreich zerstörte Österreichs Träume mit brachialer Torgewalt (5:2 und 4:2). Die hohe Politik bestimmte den vierten Halbfinalisten: Spanien durfte nicht gegen die Sowjetunion spielen, Diktator Franco verbot seinen Kickern noch auf dem Weg zum Flughafen wegen Ressentiments aus dem Bürgerkrieg 25 Jahre zuvor die Reise nach Moskau in "die Hauptstadt des Weltkommunismus". Pierre Delaunay kämpfte um seinen Wettbewerb und schlug ein Spiel auf neutralem Boden vor, was die Russen aber ablehnten. Spanien als Verursacher der Absage musste somit ausscheiden. Auf diese Weise klärte sich auch die Frage nach dem ersten Gastgeber einer EM-Endrunde: Frankreich und Spanien waren vorbestimmt worden, nun blieb nur noch das Land der Gründerväter übrig. Der Pokal, der im Juli 1960 ausgespielt wurde, wurde mittlerweile offiziell "Henry Delaunay"-Pokal genannt. Natürlich wäre es dem Initiator recht gewesen, wäre Frankreich auch erster Europameister geworden.