Der Fast-Food Europameister

Keine Europameisterschaft wurde stärker von der großen Politik beeinflusst als die EM 1992. Keineswegs nur zum Nachteil, wie man gewöhnlich behaupten kann. Doch wer in Europa wollte sich nicht mit den Deutschen freuen, als sie in Folge des Mauerfalls im Herbst 1989 wieder vereint waren. Da war es nur eine Marginalie, dass das brisante Qualifikations-Duell zwischen Bundesrepublik und DDR oder "Wir gegen uns" (Kicker) ersatzlos gestrichen wurde.

So war die deutsche Gruppe die einzige mit vier Mannschaften und der Weg nach Schweden etwas kürzer. Leichter nicht, wie noch darzulegen sein wird. Die politische Wende in Osteuropa, unter dem Stichworten "Glasnost" und "Perestroika" bekannt geworden, führte zum Zerfall des Sowjetreichs. Was als Sowjetunion in die Qualifikation gestartet war, kam als GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten) wieder heraus. Der lockere Verband von elf größtenteils neuen Staaten mit Russland als Zentrum war eine Fußnote der Weltgeschichte.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen"

Auch hier legte niemand Einspruch gegen den Kompromiss ein, schließlich hatte es ja noch keinen Staat Lettland oder Litauen gegeben, als die Qualifikation 1990 begonnen hatte. Nur in einem Fall gab es kein Erbarmen: Im gleichsam auseinanderdriftenden Jugoslawien tobte ein fürchterlicher Bürgerkrieg, Bilder von Tod und Vertreibung gingen um die Welt. Der UN-Sicherheitsrat verhängte wegen der Menschenrechtsverletzungen Sanktionen gegen Jugoslawien, darunter auch einen Sportboykott. Daraufhin schloss die UEFA Jugoslawien zehn Tage vor der Endrunde von der EM aus, obwohl die Mannschaft bereits in Schweden angekommen war.

"Wir können nicht länger so tun, als wäre nichts geschehen. Immerhin repräsentiert diese Mannschaft Restjugoslawien, und wir müssen der politischen Wahrheit ins Auge sehen", sagte UEFA-Präsident Lennart Johansson. Dieser äußerst ernste Hintergrund bereitete einer der größten Sensationen im Sport überhaupt den Weg. Denn ganz ohne Vorbereitung rückte der Gruppenzweite für Jugoslawien nach – Dänemark. Der spätere Europameister kam durch die Hintertür, Buchmacher boten vor Turnierbeginn Quoten von 40:1 für die Wette auf den Europameister Dänemark.

Favoriten waren andere. Manch einer rechnete wieder mit dem Champion von 1984, Frankreich. 1988 und bei der WM waren die Franzosen noch Zuseher, dann übernahm ihr Garant des 84er-Titels das Zepter. Michael Platini wurde Trainer der Equipe Tricolore, die in ihrer Gruppe alle acht Spiele gewann. Auf der Strecke blieben die Geheimtipps CSSR – auch sie erhielt übrigens aus politischen Gründen einen neuen Namen (CSFR) – und Spanien, das erstmals seit 1964 eine Endrunde verpasste. Natürlich stand auch Titelverteidiger Niederlande hoch im Kurs. Er startete zwar mit einer Niederlage in Portugal (0:1). Doch dann brachte der zurückgeholte Trainer der Europameister von 1988, Rinus Michels, mittlerweile 64 Jahre alt, "Oranje" auf EM-Kurs.

Natürlich zählten auch die Engländer zu den Favoriten, doch mehr wegen der Tradition als der Gegenwart. Mit lächerlichen sieben Toren schaffte das Team von Coach Graham Taylor den Gruppensieg, knapp vor Irland, das sich wie 1988 nicht vom Nachbarn bezwingen ließ (zweimal 1:1). Die Engländer waren nicht der einzige britische Qualifikant, in Gruppe 2 setzte sich überraschend Schottland durch. Es war die EM-Premiere der "Bravehearts", die vor dem Fernseher das Ticket lösten, weil Rumänien im letzten Spiel in Bulgarien (1:1) patzte. Nur ein Zähler fehlte in dieser engen Gruppe den vom Deutschen Uli Stielike trainierten Schweizer.

Deutschland nicht ohne Probleme in der Qualifikation

Das große Italien wechselte während der Qualifikation seinen Trainer, für Azeglio Vicini kam Arrigo Sacchi, aber doch kein Erfolg. Mit drei Punkten hinter der GUS lief die Squadra Azzura ins Ziel ein und verpasste die Fähre nach Schweden. Dort fand übrigens auch ein Qualifikationsspiel statt, obwohl der Gastgeber diese Mühsal natürlich erspart blieb.

Doch die erstmals teilnehmenden Färöer, eine Insel-Gruppe im Nordatlantik, verfügten nur über Kunstrasenplätze. So mussten sie für ihr Heimspiel am 12. September 1990 gegen Österreich ins schwedische Landskrona ausweichen, wo sich die größte Sensation in einem EM-Qualifikationsspiel überhaupt ereignete. Die Färinger gewannen mit 1:0 und der Torwart mit der Pudelmütze, Jens Martin Knudsen, wurde zum Sinnbild des Zwergenaufstands, der Österreichs Trainer Josef Hickersberger den Job kostete. Danach holten die Männer von den Schafsinseln keine Punkte mehr, unsterblich waren sie ja schon. Was den Deutschen ihr Cordoba, ist seit diesem Tag den Österreichern ihr Landskrona.

Die Weste von Weltmeister Deutschland blieb auch nicht weiß. Als die Elf von Berti Vogts am 18. Dezember 1991 zum letzten Spiel in Leverkusen gegen Luxemburg antrat, hieß der Tabellenführer noch Wales. Gegen die Briten hatte die DFB-Auswahl im Juni 1991 (0:1) Punkte und Nerven verloren – Thomas Berthold sah Rot – und obwohl alle anderen Spiele gewonnen wurde, wurde der Marsch nach Schweden kein Spaziergang. Gegen Belgien gab es zwei glanzlose 1:0-Siege und selbst zum Auftakt in Luxemburg (3:2 nach 3:0) musste der Weltmeister zittern. Im Rückspiel nicht: Lothar Matthäus, Guido Buchwald, Karl-Heinz Riedle und Thomas Häßler schossen den Pflichtsieg (4:0) heraus.

Obwohl das erhoffte Schützenfest gegen den Fußballzwerg ausblieb, lobte der Kicker: "Die deutsche Mannschaft verfügt über eine Vielzahl von Persönlichkeiten, denen selbst gegen einen nominellen Fußballzwerg die Bedeutung der Aufgabe bewusst ist." Der Kern der Weltmeister-Elf existierte noch, bis auf Abwehrchef Klaus Augenthaler und Dribbelkönig Pierre Littbarski waren anfangs alle noch für Deutschland am Ball. Der Neu-Münchner Berthold disqualifizierte sich durch seinen Platzverweis, der ihm eine lange Sperre einbrachte, selbst. Doch hatten die Helden eine weitere Anreise zu Heimspielen, denn der halbe Kader spielte in Italien.

Beckenbauer: "Auf Jahre hinaus unbesiegbar"

Gegen Luxemburg liefen sieben "Italiener" auf, mit Joker Häßler waren es dann acht. Fußballer "made in Germany" waren nach dem WM-Triumph äußerst angesagte Importschlager. Verstärkt wurde der Kader durch Spieler der zusammengebrochenen DDR, auch wenn es im ersten Jahr der gesamtdeutschen Elf keiner zu einer festen Größe schaffte. Nur der Ex-Dresdener Matthias Sammer von Meister Stuttgart und die früheren Berliner Dynamos Thomas Doll (Lazio Rom) und Andreas Thom (Leverkusen) ergatterten sich einen Platz im EM-Aufgebot, aber keinen Stammplatz auf dem Feld.

Franz Beckenbauers letztlich fatale Prophezeiung in der Euphorie nach der Krönung in Rom, diese Elf sei wegen der DDR-Spieler "auf Jahre hinaus nicht mehr zu besiegen", weckte Erwartungen, unter der diese Mannschaft litt. Und sie stimmten nicht, wie sich in Wrexham zeigte – und auch im ersten Testspiel des Kalenderjahres 1992 setzte es in Turin ein 0:1 gegen EM-Verpasser Italien. All das war noch kein Grund zur Panik, rief aber warnende Stimmen auf den Plan. "Die Abwehr stand nicht sicher, vom Sturm war so gut wie nichts zu sehen", schrieb der Kicker und titelte, was fast jedem Bundestrainer vor einem Turnier attestiert wurde: "Vogts bleibt noch viel Arbeit".

Noch immer war er auf der Suche nach einem Abwehrchef, Manfred Binz von Herbstmeister Eintracht Frankfurt hieß sein Favorit. Doch es mangelte ihm ebenso an Turniererfahrung wie Innenverteidiger Thomas Helmer von Borussia Dortmund, der als Alternative zum angeschlagenen Wahl-Turiner Jürgen Kohler aufgebaut wurde. An Karfreitag, den 17. April 1992, wurden die Sorgen des Berti Vogts dann ein erhebliches Stück größer. Sein Kapitän Lothar Matthäus, zunächst angeblich nur leicht verletzt, erhielt seine Diagnose: Kreuzbandriss. Das Aus für die EM. "Die endgültige Diagnose war natürlich niederschmetternd. Ich weiß, was das in meinem Alter bedeutet", sagte Matthäus. Der Weltmeister von 1974, Paul Breitner, erklärte es der Öffentlichkeit: "Wir müssen damit rechnen, dass dies das Ende der ganz großen Karriere von Lothar Matthäus bedeutet."

Berti Vogts beschwichtigte: "Lothars internationale Karriere ist auf keinen Fall beendet." Aber natürlich fehlte der Name des Weltfußballers 1991 auf der Kader-Liste, die der DFB am 20. Mai 1992 veröffentlichte. Auch Weltmeister Uwe Bein war nicht unter den 20 Schweden-Fahrern, der Frankfurter verzichtete wegen Verletzungsbeschwerden. In der Endphase der längsten Bundesligasaison aller Zeiten (38 Spieltage) hatte der Spielmacher nur noch mit Spritzen gespielt. Umso wichtiger war es, dass Stefan Effenberg fit wurde. Der 23-jährige Hitzkopf genoss zwar kaum Sympathien bei den Fans, die ihn im phantastischen Heimspiel gegen Wales (4:1) bei der Einwechslung ausgepfiffen hatten. Doch gemeinsam mit Sammer sollte er das Erbe von Matthäus antreten. Von Thomas Häßler sprach keiner. Dabei war der kleine Freistoßkünstler trotzdem, als einer von vier "Römern" im Kader, in dem insgesamt acht Legionäre (alles Italiener) standen – ein Novum in der Turnier-Historie des DFB.