Schweden 1992: Ein Turnier der kurzen Wege

Neu war auch die Rolle, die der FC Bayern in der Nationalelf spielte. Der Rekordmeister wäre 1992 beinahe abgestiegen, entsprechend fand sich in Effenberg nur ein Münchner im Kader wieder. Auch das hatte es nach dem Krieg noch nie gegeben. Aber auch "Effe" hatte den Reisepass schon in der Tasche, sein Wechsel nach Florenz stand fest – während bei gleich drei Spielern (Brehme, Möller, Helmer) die Zukunft ungeklärt war. Sehr zum Verdruss von Vogts, der kein Vertragspoker im Trainingslager dulden wollte – nur bei Brehme, "der uns zum Weltmeister geschossen hat", wollte er deshalb ein Auge zudrücken. Nach unbefriedigenden Abschlusstests (1:0 gegen die Türkei, 1:1 vs. Nordirland) flog der Weltmeister bei Dauerregen mit gemischten Gefühlen von Frankfurt zur EM nach Schweden. Als die 51köpfige Delegation am Pfingstmontag 1992 in Norrköpping landete, lachte die Sonne. Ein gutes Omen?

Das Turnier: Schweden sollte eine EM der kurzen Wege werden. In nur vier Stadien, allesamt im Süden des Landes, sollten die Spiele ausgetragen werden. Der Zuschauerrekord von 1988 (863.000) war schon vor Anpfiff verpasst, die Kapazitäten der Arenen in Malmö (29.700), Göteborg (43.000), Norrköpping (22.000) und Stockholm (30.500) machten ihn unmöglich. Andererseits blieben den TV-Zuschauern Bildern von halbleeren Schüssel wie noch 1980 in Italien oder 1976 in Jugoslawien erspart. Die durchschnittliche Stadionauslastung betrug 1992 86,25 Prozent, pro Spiel kamen laut UEFA-Statistik 28.616 Zuschauer.

Doch was bekamen sie zu sehen? Über das Niveau wurde in Schweden viel geklagt. Der Toreschnitt ging auf 2,13 zurück, drei Partien endeten 0:0. Die Gruppe 1 mit Gastgeber Schweden, Frankreich, England und den Dänen startete mit drei Unentschieden, was man zumindest von Eröffnungspartien (Schweden – Frankreich 1:1) gewohnt war. Zwischen England und Nachrücker Dänemark sowie Frankreich und England fielen gar keine Tore, Stürmer-Star Jean-Pierre Papin kam nur auf acht Ballkontakte und Trainer Michel Platini entschuldigte sich nach dem zweiten Remis der Franzosen "für meine Spieler", ehe er sich selbst entlarvte: "Zuerst einmal zählt, keine Tore zu erzielen." Sein Kollege Graham Taylor stand ihm bei: "Die Zuschauer mögen enttäuscht sein, für mich aber hat sich gezeigt dass England auf hohem taktischen Niveau spielen kann."

Die Angst vor dem frühen Aus dominierte die Vorrundenspiele besonders in dieser Gruppe. Erst Gastgeber Schweden brach den Unentschieden-Bann und feierte dank eines Treffers von Italien-Legionär Tomas Brolin in Stockholm einen 1:0-Erfolg über die Dänen, die nach zwei Partien noch torlos waren. Man bewunderte sie für ihren Kampfgeist, aber den kommenden Europameister sah noch niemand in der Mannschaft von Richard Möller-Nielsen. Vor dem letzten Spieltag in dieser Gruppe hatten alle Teams noch eine Halbfinal-Chance. Schweden reichte ein Punkt gegen England, das besser gewinnen sollte. Dänemark musste Frankreich schlagen. Der Fakt, dass bloßes Taktieren nicht allen weiterhalf, öffnete plötzlich die Tore. Nach zuvor nur drei Treffern in vier Partien fielen nun sechs in zweien.

Schweden siegt überraschend gegen England

Und zweimal staunte die Fußballwelt: Schweden schickte England sieglos nach hause. David Platt schoss die Engländer zwar schon nach vier Minuten in Front, doch nach der Pause trieben 29.000 im Rasunda-Stadion "Sverige" zum 2:1-Sieg. Wieder schoss Brolin das Siegtor, die EM hatte ihren ersten Star. England aber fuhr wie schon 1988 nach der Vorrunde heim und der Daily Mirror ätzte in Richtung des Trainers: "Wen willst du als nächsten blamieren, Taylor?"

Blamabel auch das Verhalten der englischen Hooligans, die ihren Frust in gewohnter Manier am Mobiliar und Ordnungskräften ausließen. Polizeibilanz: Zehn Verletzte, 64 Haftungen. Die Abreise der englischen Fans wurde von daher kaum bedauert.

Dass auch die Franzosen die Koffer packen mussten, wurde mit ungläubigem Staunen registriert. Bedeutete es doch, dass die "Urlauber" aus Dänemark das Halbfinale erreichten. Die Dänen stellten eine sportwissenschaftlichen Theorien in Frage und brüskierten die Vertreter der herrschenden Trainingslehre. Am Tag vor dem Spiel gingen sie zum Minigolf und zuweilen sah man sie in Kompaniestärke bei McDonalds. Dennoch hatten sie genug Erfolgs- und Torhunger, um Frankreich 2:1 zu besiegen.

Henrik Larsen gelang nach sieben Minuten das frühe 1:0, das "Les Bleues" erst in der 61. Minute durch Papin ausglich. Doch dann zündete wieder "Danish Dynmite", Joker Lars Elstrup schoss das vom Gros der Zuschauer umjubelte 2:1. Dass er in Dänemarks 2. Liga spielte, passte zum anarchischen Spiel der "Wikinger". Platini trat nach der Schmach von Malmö zurück, reichte die Schuld aber weiter: "Wir Franzosen träumen immer von der ganz großen Show und vielen Toren. Doch das war mit der Mannschaft, die mir hier zur Verfügung stand, nicht realistisch." L’Equipe klagte: "Ab nach Hause! Die Blauen sind tief gefallen". Während die etablierten Mächte des Kontinents die Koffer packen mussten, blieben die beiden Skandinavier im Turner. Ein schlicht unglaublicher Ausgang der Gruppe 1.

"Icke" Hässler rettet das Unentschieden

Die deutsche Mannschaft stritt sich in der Parallelgruppe mit dem alten Rivalen Niederlande, der zum dritten Mal in Folge bei einem Turnier Gegner war, um die Favoritenrolle. Auf die GUS und Schottland setzten die Wenigsten. Hier sollten die Experten recht bekommen, aber nur wenn man schlicht auf das Endergebnis sieht. Die Schotten waren in der Tat schon nach dem zweiten Spiel ausgeschieden – zum achten Mal beim achten Turnier war die Vorrunde auch Endstation für die Bravehearts. Dabei wehrten sie sich gegen den Titelverteidiger Niederlande tapfer, erst ein spätes Tor von Dennis Bergkamp (73.) brachte die Entscheidung. Rinus Michels schnaufte durch: "Unsere harte Vorbereitung hat sich ausgezahlt."

Auch die Deutschen waren am Ende froh darüber, dass sie Luft für 90 Minuten hatten. Denn nach 89 lagen sie gegen die GUS in Norrköpping nach einem Dobrowolski-Elfmeter keineswegs unverdient zurück. Spielerisch lief wenig, hinzu kam der Schock in Rudi Völler nach Matthäus den zweiten Kapitän verloren zu haben – er brach sich nach 25 Minuten den linken Unterarm und reiste noch in der Nacht ab. Ein anderer Weltmeister wurde in diesen Momenten umso wertvoller. Dem deutschen Dauerdruck entsprang in besagter letzter Minute ein Freistoß, den der Spezialist für Kunstschüsse, Thomas Häßler, zum 1:1 verwandelte. Der Weltmeister kam mit einem blauen Auge davon und konnte sich nur mit dem Neid der Auslandspresse trösten. "Sie verlieren nie", seufzte Frankreichs L’Equipe und Dänemarks Politiken attestierte: "Typisch deutsch".

Doch es erforderte eine Steigerung und gegen die Schotten stellte sie sich ein. In Norrköpping siegte die DFB-Elf 2:0, Karl-Heinz Riedle (30.) und Stefan Effenberg (47.) mit einer abgefälschten Flanke schossen die Tore für die auf drei Positionen veränderte Elf. Für Stefan Reuter, Rudi Völler und Thomas Doll brachte Vogts Andreas Möller, Matthias Sammer und Jürgen Klinsmann. In Erinnerung bleibt vom besten deutschen Vorrundenspiel vor allem der Dauereinsatz der medizinischen Abteilung, die für Reuter und Buchwald Turbane wickeln musste. Riedle schied mit Nasenbeinbruch aus, sein Nachfolger Reuter sechs Minuten später mit blutender Platzwunde ebenfalls.

Es war ein wahrlich hart erkämpfter Sieg, die tapferen Schotten wehrten sich mit allen Mitteln gegen das vorzeitige EM-Aus. Eine Schlüsselrolle sollten sie dennoch spielen bei dieser Endrunde. Denn nachdem sich GUS und Niederländer 0:0 trennten, hatten noch drei Teams Chancen. Vor dem Gigantenduell zwischen Deutschen und Niederländern war die Ausgangslage so: Deutschland reichte als Tabellenführer ein Punkt, aber bei einer Niederlage durfte die Auswahl des zerfallenden Russenreichs nicht gewinnen, am besten sollte sie verlieren. Aber würden die chancenlosen Schotten sich noch mal reinhängen? Trainer Andy Roxburgh versprach zwar, man wolle "erhobenen Hauptes" abreißen, doch wer wollte sich darauf verlassen. Nun, an diesem 18. Juni 1992 gewannen die Schotten dem Fair-Play-Gedanken eine Schlacht.