Bierhoffs Golden Goal

Die Landkarte Europas veränderte sich in den Neunzigern in nie gesehener Geschwindigkeit. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan ließen permanent neue Staaten aus dem Boden sprießen. Und alle wollten sie Fußball spielen. Fast alle. Von mittlerweile 50 Nationalverbänden meldeten sich 48 zur Qualifikation für die EM 1996 an - ein Rekord. Die Uefa trug dem Rechnung und beschloss am 30. November 1992 die Erweiterung der EM-Endrunde. Die Teilnehmerzahl wurde von acht auf 16 verdoppelt.

England richtet erste EM mit 16 Teilnehmern aus

Jedes dritte Land durfte also teilnehmen, rein quantitativ hatte die EM nun das Format der frühen WM-Turniere. So eine Herkules-Aufgabe konnte man nicht irgendeinem Gastgeber aufhalsen, hier musste und wollte das Mutterland des Fußballs auf den Plan treten. England war aufgrund zahlreicher blutiger Tragödien in seinen Stadien sowie letztlich beim Europacupfinale 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion, als Randale von Liverpool-Anhängern 39 Todesopfer gefordert hatten, für fünf Jahre vom Europapokal ausgeschlossen worden.

Die Integration in die Fußball-Familie verlief schleichend, Liverpools Sperre etwa dauerte weitere zwei Jahre. Die EM war nun ein sichtbares Fanal für die Wiederaufnahme Englands, das dafür wiederum viel getan hatte. Als erstes Land der Welt gab es in englischen Stadien der ersten beiden Ligen nur noch Sitzplätze, was als Allheilmittel gegen Randale galt und vorläufig mit Erfolg ausprobiert worden war. Englische Stadien waren dank einer Milliardeninvestition nicht nur sicher, sondern auch modern. So behauptete sich England, dessen Funktionäre ihre Bewerbungsunterlagen mit dem Spruch "Football is coming home" betitelten, gegen vier Mitbewerber und hatte einen der 16 Teilnehmer-Plätze sicher. Um die 15 anderen kämpften in Sechser-Gruppen 47 Auswahlteams in unerreichten 231 Qualifikationsspielen.

Alle Titelträger dabei

Die Resultate versprachen ein attraktives Turnier: alle bisherigen Europameister hatten sich qualifiziert, auch wenn die Niederländer ein Entscheidungsspiel gegen Irland (2:0) brauchten. Dazu Portugal, Geheimtipp Rumänien, der WM-Vierte Bulgarien, Schottland und die EM-Debütanten Schweiz und Türkei. In Erinnerung bleibt ein Resultat aus Gruppe 5, in der Fußballzwerg Luxemburg die Tschechen 1:0 schlug. Der Sieg gewann exponential an Bedeutung, als sich die Tschechen bis ins EM-Finale vorkämpften.

Nicht zu erwarten war auch die Aktion der Schweizer Mannschaft, die vor dem Spiel gegen Schweden gegen die damals durchgeführten Atomtests der Franzosen im Pazifik protestierten. Das "Stop Chrirac"-Transparent löste das Verbot politischer Botschaften beim Fußball aus. Auch das brachte diese größte bisher dagewesene EM.

Neue Erfahrungen machte auch die deutsche Mannschaft, der gleich zwei Länder aus dem zerfallenen Sowjetreich zufielen: Erstmals spielte sie gegen Moldawien und Georgien. Außerdem bot sich die Gelegenheit zur Revanche am Bulgarien, das die Vogts-Elf 1994 in New York aus dem WM-Turnier geworfen hatte. Doch auch in Sofia setzte es im Juni 1995 eine Niederlage (2:3), die einzige in der Qualifikation. Und irgendwie fühlte sie sich gar nicht so an, Berti Vogts kam schier ins Schwelgen nach dem verschenkten Sieg (von 2:0 zu 2:3). Es sei "eine der schönsten Stunden als Nationaltrainer", fand Vogts, der von der spielerischen Leistung angetan war. Zitat: "Das könnte der Wendepunkt gewesen sein. Wir sind auf dem Weg, eine starke Mannschaft zu werden."

Klinsmann und Sammer führen DFB-Team an

Den Weg durften einige nicht zu Ende gehen. Die Weltmeister Lothar Matthäus und Thomas Berthold schieden verletzungsbedingt aus, atmosphärische Störungen mit Mitspielern kamen bei Matthäus hinzu und trieben den im Frühjahr 1996 zum Rücktritt. Vogts konnte es verkraften, seine neuen Leitwölfe waren die Anführer der damals wie heute führenden Klubs Borussia Dortmund (Meister 1996) und Bayern München (UEFA-Cup-Sieger 1996). Matthias Sammer war Wortführer der fünfköpfigen Dortmunder Fraktion, Jürgen Klinsmann der der sieben Bayern. Sie waren die Häuptlinge des Kaders, der gen England aufbrach. Erst recht, als sich der Dortmunder Jürgen Kohler, der vor dem ersten Spiel noch eine flammende Rede gehalten hatte, verletzte und nach nur 14 Turnierminuten ausschied.

Das Turnier: Nachdem der Augsburger Helmut Haller den Final-Ball von 1966, mit dem England in Wembley Weltmeister geworden war, auf Druck englischer Medien feierlich zurückbrachte, konnte das Turnier beginnen. "Football is coming home" war nicht nur das Motto, sondern auch ein Ohrwurm der englischen Gruppe "Three lions". Selten war ein Fußball-Song erfolgreicher und deutsche Fans brauchen nur die erste Strophe zu hören um ihn mit unvergesslichen Stunden und einem großen Triumph zu assoziieren.

Alan Shearer trifft nach 22 Monaten Ladehemmung

Gewinnen wollten den Pokal und die Prämie von umgerechnet 7,5 Millionen Euro, die die UEFA dem Europameister auszahlte, viele.

Allen voran Gastgeber England, der das in 194 Länder übertragene Turnier am 8. Juni 1996 eröffnen durfte. Wie so oft wurde der Auftakt eine Enttäuschung, 76.567 Zuschauer sahen in Wembley nur ein 1:1 gegen Außenseiter Schweiz. Immerhin schoss Alan Shearer das erste Tor dieser EM und sein erstes nach 22monatiger Ladehemmung, aber ein Handelfmeter bescherte den Schweizern sieben Minuten vor Schluss einen verdienten Punkt.

"Die Engländer stolperten zum enttäuschenden Unentschieden", kritisierte die Sunday Post. Auch das zweite Spiel der Gruppe hatte keinen Sieger, die Niederlande und Schottland quälten sich zu einem 0:0, was zumindest bei den Briten Anklang fand: "Schottland hat stilvolle Akzente gesetzt" (Independent). Und das ohne eine Torchance. Zu den zählbaren Erfolgen der Bravehearts gehörte auch das für die EM aufgehobene Dudelsackverbot in englischen Stadien.

Traumtor von Paul Gascoigne

Mit dem zweiten Spieltag war auch auf dem Platz mehr Musik in der England-Gruppe. Zunächst schlugen die Holländer die Schweizer (2:0), der Sohn von Johan Cruyff, Jordi, schoss das erste Tor. Das zweite durch Dennis Bergkamp fiel nach einem Abschlag von Torwart Ed van der Sar gegen die weit aufgerückten Schweizer, die sehenden Auges in ihr Verderben rannten. "Die anderen Trainer erklären mich für verrückt, wenn ich mit drei Spitzen angreifen lasse", sagte Trainer Artur Jorge, ein Portugiese - und tat es doch.

Die Gastgeber zogen zwei Tage später nach und gewannen die prestigeträchtige "Battle of Britain" gegen Schottland ebenfalls 2:0. Dass es eine niveauarme Partie war, war den Engländern herzlich egal. Shearer und Paul Gascoigne mit einem sehenswerten Volleyschuss trafen für England. Trainer Terry Venable verlieh dem Tor seines "Enfant terrible" das Prädikat "Weltklasse". Die Schotten schlüpften dagegen wieder in die gewohnte tragische Rolle. Eine Minute vor dem 2:0 scheiterte McAllister mit seinem Elfmeter an David Seaman. So drohte das neunte Vorrundenaus im neunten Turnier.

Die Niederlande erreicht schmeichelhaft das Viertelfinale

Vor dem letzten Spiel gegen die Schweiz brauchten und bekamen sie englische Hilfe. Aber nicht genug. Ihr 1:0-Sieg reichte nicht, weil die an jenem 18. Juni desolaten Niederländer nach 0:4-Rückstand gegen die Gastgeber noch zu einem Ehrentor von Joker Patrick Kluivert kamen, das den Ausschlag pro "Oranje" gab. Punktgleich mit den unglücklichen Schotten zählten 3:4 Tore mehr als 1:2 - und wieder verstummten die Dudelsäcke nach der Vorrunde. Den Niederländern war das Weiterkommen beinahe peinlich. Trainer Guus Hiddink sprach von "einer wahren Lektion" und war "froh dass wir noch am Leben sind." Es war die höchste Niederlage der Holländer seit 21 Jahren.

Nach dieser auch von internen Streitigkeiten zwischen dunkelhäutigen und weißen Spielern geprägten Vorrunde war die Elftal zwar noch im Turnier, aber aus dem Favoritenkreis ausgeschieden. England dagegen glaubte an mehr. "Eine Kanonade von Treffern. Nun ist nichts mehr unmöglich", schrieb The Guardian.

In Gruppe B sah man den kommenden Europameister nicht spielen. Das Niveau der Spiele war gemessen an den Erwartungen - man sprach vom Zauberquartett - niedrig. "Ein trauriges Auftaktspiel ohne Saft und Kraft" attestierte Diario 16 der spanischen Seleccion beim 1:1 gegen Bulgarien. Jede Mannschaft beklagte einen Platzverweis, zudem gab es sieben Verwarnungen. Das Spiel zwischen Frankreich und Rumänien (1:0) wurde durch einem Torwartfehler entschieden. "Der Fehlgriff eines Fliegengängers hat Frankreich endgültig zum Favoriten gemacht", lästerte Englands Weltmeister on 1966, Jacky Charlton. Bogdan Stelea patzte beim Herauslaufen und Dugarry schoss das Tor des Tages. Die Elf von Aime Jacquet brachte den Vorsprung über die folgenden 65 Minuten, begeisterte niemanden, beeindruckte aber umso mehr.