Außenseiter Belgien überrascht die Konkurrenz

Im Finale von Rom wartete überraschend Außenseiter Belgien. Wie das? Waren die Spiele in Gruppe 1 schon nicht sonderlich erbauend, so regierte in Gruppe 2 der Minimalismus. Eigentlich eine Spezialität der Italiener, die wie 1970 in Mexiko die Gruppe mit dem Torverhältnis von 1:0 (einziger Sieg gegen England) überstanden. Was damals reichte, war nun zu wenig. Denn die Belgier konnten auch auf Kommando 0:0 spielen, was sie dank ihrer alle verblüffenden Abseitsfalle im entscheidenden Spiel gegen die Italiener schafften.

Da sie zuvor gegen England (1:1) und Spanien (2:1) auch ins Tor trafen, kamen sie dank der höheren Toranzahl (3:2) nicht sonderlich ruhmreich ins Finale. Italiens Trainer Enzo Bearzot verweigerte Kollege Guy Thys die Gratulation. Und schalt Belgien "eine schmutzige Mannschaft". Damit stand er freilich allein, die Belgier hatten noch die meiste Farbe in diese Gruppe gebracht. Nicht umsonst wurde Stürmer Jan Ceulemans zum zweitbesten Spieler des Turniers gewählt – hinter Bernd Schuster.

Ärger bereiteten sie höchstens ihrem Verband, als sie kurz vor dem Italien-Spiel in Streik traten. Sie forderten und bekamen höhere Prämien für den Turniersieg. Italien dagegen bekam nichts außer Spott und Pfiffen. Die Zerrissenheit des italienischen Fußballs spiegelte die Tatsache wider, dass kein einziges EM-Spiel der Gastgeber ausverkauft war und dass Spieler wie Francesco Graziani bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen wurden.

Der vierte Platz, der ihnen nach einer 9:10-Niederlage im Elfmeterschießen gegen die Tschechen zuteil wurde, war gewiss kein Balsam auf die Seele. Dass hier der kommende Weltmeister spielen würde, ahnte niemand. Die Spanier, Gastgeber der kommenden WM, bereuten es, die EM quasi ohne Spieler von Meister Real Madrid bestritten zu haben. Trainer Kubala und sein Verbandspräsident traten nach drei Spielen ohne Sieg und mit nur einem Punkt zurück.

Und England? Wollte "zumindest unter die letzten Vier" (Greenwood), wurde aber nur Randale-Europameister. Das erste Spiel gegen Belgien (1:1) musste unterbrochen werden, weil das gegen englische Hooligans eingesetzte Tränengas auf dem Platz waberte und Torwart Ray Clemence nichts mehr sehen konnte. Nach 36 Verhaftungen am Vortag nach Schlägereien in der Innenstadt von Turin eskalierte die Lage im Stadion, es gab weitere Verhaftungen. Neun Italiener kamen teils nach Messerattacken ins Krankenhaus. "Ich schäme mich, ein Engländer zu sein", sagte Kevin Keegan und Bobby Charlton fragte erschüttert: "Sind das die Kinder, die wir großgezogen haben?"

Die UEFA belegte den daran unschuldigen englischen Verband mit einer Strafe von 30.000 Schweizer Franken. Auch eine Methode, die Kassen zu füllen. Denn die Stadien waren unerwartet leer geblieben, im Schnitt sahen nur 25.045 Zuschauer in Stadien mit der dreifachen Kapazität die Spiele. Damit das beim Finale am 22. Juni in Rom nicht auch so werde, appellierte Jupp Derwall am Vortag: "Kommt zu uns, Tifosi!".

Hrubesch löst das Papst-Versprechen ein

Es waren dann immerhin 47.860 Zuschauer, die sich um 20.30 Uhr eingefunden hatten. Sie sollten ihr Kommen nicht bereuen, denn das Finale, da waren sich die Beobachter einig, war das beste Spiel des Turniers. Wie es ja auch sein sollte. Deutschland spielte wieder mit der Elf, die die Niederländer geschlagen hatte, obwohl Derwall noch überlegte, Horst Hrubesch draußen zu lassen. Wieder traf er die richtige Entscheidung und ließ den langen Hamburger im Team. Es sollte sein größter Tag als Fußballer werden.

Schon nach zehn Minuten lohnte sich Derwalls Geduld mit dem Hünen, der von sich selbst sagte: "Ich weiß, dass ich neben den anderen oft wie ein Stolperbruder wirke." Seine Stärke war das Kopfballspiel, aber wenn es sein musste, ging es auch mit dem Fuß. Nach zehn Minuten nahm er einen Schuster-Pass mit der Brust an und drosch ihn aus 17 Metern ein – 1:0.

Jean-Marie Pfaff, später Bayern-Torwart, war machtlos. Chancen auf beiden Seiten folgen, die Torhüter haben viel zu tun. Dass es nur mit 1:0 in die Kabinen geht, ist im Grunde unverständlich. Toni Schumacher rannte allen vorweg: "Schnell noch eine - ich gehe kaputt vor Schmerzen." Die Wirkung der Spritze für seine Hand hatte nachgelassen, Professor Heß musste noch mal nachladen. Gleich nach Wiederanpfiff foulte Rene Vandereycken den Pfälzer Hans-Peter Briegel, der alsbald ausgetauscht werden musste gegen Cullmann. Ein Bruch im deutschen Spiel, die Belgier kamen allein zwischen der 58. und 72. Minute zu sechs Chancen. Dann half ihnen der Schiedsrichter: nach Stielikes Foul an Franky van der Elst, eindeutig im Halbkreis am Strafraum, zeigte der Rumäne Reinea auf den Punkt. Schon der zweite unberechtigte Elfmeter gegen die Deutschen – und wieder war Schumacher chancenlos. Vandereycken traf zum 1:1.

Sollte es wie 1976 wieder eine Verlängerung geben? Beide Teams wollten das bei der drückenden Hitze verhindern. Dann die 89. Minute. Ecke für Deutschland. Rummenigge holte sich den Ball und rief den Fotografen noch zu: "Stellt scharf, jetzt knallt’s!". Wie wahr. Horst Hrubesch rannte dem Ball ein Stück entgegen, stieg am höchsten und köpfte das umjubelte Siegtor. Um 22.20 Uhr stemmte der Duisburger Bernard Dietz als Kapitän dieser Elf den Pokal in die Höhe. Es war der jüngste Europameister aller Zeiten und ein würdiger dazu.

UEFA-Generalsekretär Bangerter sagte: "Die Deutschen haben diese EM gerettet!" Oder war es doch ein Pole? Horst Hrubesch erzählt noch immer gern die Geschichte seines Vatikan-Besuchs vor dem Griechenland-Spiel. Mit den Kollegen Magath und Memering war er auf einer öffentlichen Audienz von Johannes Paul II. Um die Gläubigen zu segnen, spreizte der Papst wie gewöhnlich zwei Finger. "Horst, dass heißt: du machst zwei Dinger!", witzelte ein Hamburger Journalist.

Dann kam das 0:0 gegen die Griechen. "Es kann doch nicht sein, dass der Papst auch noch lügt", unkte Hrubesch. Aber nach dem Finale war alles klar. Der Journalist eilte von der Tribüne herunter und rief Hrubesch zu: "Siehste Horst, der Papst lügt doch nicht, er hat das Finale gemeint."