Italien nach Wettskandal geschwächt

Der automatische Reflex, auf den Gastgeber zu setzen, blieb 1980 jedenfalls weitgehend aus. Denn Italien war in den Strudel eines Wettskandals geraten, betroffen waren etliche Nationalspieler – darunter Paolo Rossi, der für drei Jahre gesperrt und kurz vor der WM 1982 begnadigt wurde. Im März 1980 aber kannte der Verband keine Gnade, schließlich wurden sechs Nationalspieler von der Polizei verhaftet. Trainer Enzo Bearzot war gezwungen, in Windeseile einen neuen Kader zusammen zu stellen. Da die Härte des Gesetzes vor allem Mailänder Spieler traf und die ebenfalls teilweise in den Skandal verstrickten Kicker von Meister Juventus Turin davon kamen, öffnete das die Gräben zwischen Nord und Süd noch ein Stück weiter. Auf ungeteilte Liebe würde die Squadra Azzurra nicht in allen Stadien treffeh. Das war klar und so sollte es auch kommen.

Noch eine Sorge trieb die Gastgeber vor dem Eröffnungsspiel am 11. Juni: englische Hooligans hatten ihr Kommen angekündigt. Wozu sie imstande waren, hatten sie zur Genüge im Europapokal bewiesen. Die Sorgen der Deutschen waren da kleiner und ganz anderer Art. Als der Tross am 9. Juni mit der Lufthansa-Maschine 292 von Frankfurt gen Rom aufbrach, gab es bereits einen ersten Ausfall: Weltmeister Rainer Bonhof musste wegen seiner Achillessehnenverletzung absagen. Und als der Kölner Herbert Zimmermann am Morgen des Eröffnungsspiels gegen die Tschechen aufstand, musste er sich gleich wieder hinlegen – der Ischiasnerv meldete sich. Auch er fiel für die EM aus, Derwall blieben nur noch 20 Spieler.

Aber von Frust keine Spur im Hotel Holiday Inn zu Rom. Auch hier starteten Reporter eine Umfrage: alle Spieler erwarteten die Final-Teilnahme und immerhin zehn den Titel. DFB-Präsident Hermann Neuberger sprach nicht von Titeln, sondern vom Image. "Nach der blamablen WM ist es unsere verdammte Pflicht, in der EM unseren Ruf wieder aufzupolieren."

Müder Kick im Eröffnungsspiel

Das Eröffnungsspiel war dazu freilich nicht geeignet. Gleich zum Auftakt der Gruppe 1, in der sich auch Erzrivale Niederlande und die Griechen befanden, kam es zur Revanche von Belgrad. Das Finale von 1976 war die Eröffnung von 1980 und diesmal boten Deutschen und Tschechen kein Drama, sondern "ein Trauerspiel vor dürftiger Kulisse" (Süddeutsche Zeitung). Die Angst, das erste Spiel lähmte wie so oft die Beine der Akteure. Zum Glück war der Stuttgarter Hansi Müller in der 55. Minute dennoch zu einem exakten Pass auf Karl-Heinz Rummenigge von Meister Bayern München in der Lage. Vor dem zögerlichen Torwart Netolicka kam der "Kalle", der gerade erstmals Torschützenkönig der Bundesliga geworden war, mit dem Kopf an den Ball. Tor, 1:0 – Sieg.

Und doch waren diese 90 Minuten ein einziges Plädoyer für die Abschaffung von Eröffnungsspielen, zumal wenn sie keiner sehen will. Im Olympia-Stadion zu Rom fanden 96.000 Menschen Platz, aber nur 10.500 kamen – ein Vorbote für das erneute Zuschauerdesaster. Frankreichs Sportblatt L’Equipe mäkelte: "Dieses Eröffnungsspiel war eines der unerträglichsten und zähesten aller Spiele dieser Art, von denen man seit fast zwanzig Jahren weiß, dass sie todlangweilig sind."

Nicht besser machten es Niederländer und Griechen am Abend in Neapel. Erst ein geschenkter Elfmeter ließ die Niederländer jubeln (1:0), es sollte nicht der einzige bleiben. Italia 1980 sollte auch als Turnier der falschen Elfmeter in die Annalen eingehen. Als der tschechische Schiedsrichter Prokop abpfiff, war niemand zufrieden. Die Griechen sprachen offen von Betrug und die Niederländer spürten, dass sie keine große Mannschaft hatten. Der Kicker richtete: "Wenn die deutsche Nationalelf am Samstag nach Neapel kommt und auf Holland trifft, dann braucht sie keine Angst vor dieser Mannschaft zu haben."

Doch eine Steigerung tat Not. Das forderte zumindest die Heimat. Jupp Derwall musste nach eigenen Angaben jeden Tag rund 50 Fans am Telefon besänftigen, die die Rezeption auf sein Zimmer durchstellte. Eine TV-Zeitschrift hatte die Telefonnummer veröffentlicht und der joviale Derwall stellte sich den vielen heimlichen Bundestrainern. "Man muss doch reden mit den Leuten". Andere Zeiten.

Die Sternstunde des Klaus Allofs

Zeitlos dagegen die oft schonungslose Kritik in den Boulevardblättern. "Drei müssen fliegen, damit wir siegen!", forderte die Bild-Zeitung. Derwall war nicht ganz dieser Meinung. Zwar nahm er Bernd Cullmann und Bernd Förster tatsächlich aus der Sieger-Elf, um sie gegen Bernd Schuster und Horst Hrubesch einzutauschen. Den Düsseldorfer Klaus Allofs aber ließ er im Team. Es war eine seiner besten Entscheidungen, denn Allofs erlebte am 14. Juni 1980 seine größte Sternstunde im DFB-Dress.

Belebt vom 20-jährigen Kölner Schuster, war das deutsche Mittelfeld weit kreativer als in Rom. "Endlich mal Offensivfußball, wie er den Zuschauern in Neapel und vor allem daheim an den Fernsehern Spaß machte", lobte der Kicker nun. Nach 20 Minuten wurde die deutsche Überlegenheit belohnt: nach Schusters Pfostenschuss staubte Allofs ab zum 1:0. Zehn starke Minuten der Niederländer, bei denen ein gewisser Huub Stevens zu den Besten gehörte, galt es zu überstehen. Mit 1:0 ging es in die Pause.

Dann suchte die Derwall-Elf die Entscheidung: Hansi Müller bediente mit einem Rückpass Allofs – 2:0 (60.). Der eingewechselte Felix Magath prüfte mit seiner ersten Aktion Piit Schrijvers im Tor der Niederländer, wo es nach 66 Minuten schon wieder einschlug: wieder war Schuster der Vorbereiter, wieder traf Allofs – 3:0. Im Gefühl des sicheren Sieges verhalf Derwall dem 19-jährigen Lothar Matthäus zu seinem Länderspiel-Debüt. Der ehrgeizige Mönchengladbacher sorgte noch mal für Spannung. Sein Foul an Johnny Rep war zwar deutlich außerhalb des Strafraums, aber der Franzose Robert Wurtz zeigte zur Mitte. Rep schoss selbst – 3:1 (80.).

Nervosität machte sich breit in der unerfahrenen Elf, in der sieben Spieler ihr erstes Turnier spielten. Willy van de Kerkhof gelang noch das 3:2 (86.), doch dabei blieb es. Das war schon die halbe Miete für das Finale, nur eine Niederlage gegen die Griechen konnte das noch abwenden – aber auch nur wenn das Parallelspiel einen Sieger hatte. In den Katakomben scharten sich die Reporter um Allofs, der erleichtert zugab: "Das war meine letzte Chance! Hätte ich dieses Mal auch wieder nichts gebracht, wäre ich wohl weggewesen vom Fenster."

Derwall lobte: "Endlich hat der Klaus das begriffen. Endlich hat er den Unterschied zwischen Klub und Nationalelf gepackt und sich richtig verhalten." Sich selbst lobte er nicht, dabei hatte er nun die Elf gefunden, die Europameister werden sollte: mit Ulli Stielike als Abwehrchef, daneben Manfred Kaltz, Karl-Heinz Förster und Bernard Dietz in der Viererkette, mit Schuster und Rummenigge (!) neben Müller und Hans-Peter Briegel im Mittelfeld, mit Allofs und Hrubesch im Sturm.

0:0 gegen Griechenland reicht

Dass die Elf am 17. Juni gegen die Griechen trotzdem wieder ganz anders aussah, hatte gute Gründe. Denn das Finale war eine Stunde vor Anpfiff in Turin bereits erreicht. Die Tschechen, gegen Griechenland noch 3:1-Sieger, und die Niederländer beraubten sich gegenseitig ihrer letzten Chance (1:1). Da die Spiele trotz schlechter Erfahrungen z.B. bei der WM in Argentinien noch immer nicht zeitgleich stattfanden, standen nun also 90 bedeutungslose Minuten bevor.

Derwall reagierte sofort und nachvollziehbar: er nahm die drei von einer Gelb-Sperre bedrohten Spieler – Bernard Dietz, Bernd Schuster und Klaus Allofs – heraus und gab den Reservisten Cullmann, Bernd Förster und Caspar Memering eine Chance. Als Einwechselspieler kamen auch Mirko Votava und Calle Del’Haye zu ihrer EM-Premiere. Für sie ein besonderer Moment, für alle anderen Beobachter ein Spiel zum Vergessen.

14.000 Zuschauer bereuten ihr Kommen. Tore fielen nicht, die Griechen trafen in der 70. Minute sogar den Pfosten – sonst wären die Deutschen nach einer Blamage ins Finale eingezogen. Beifall bekamen sie auch so nicht, die in Berlin erscheinende Fußball-Woche ließ die Fläche für den Spielbericht frei. Begründung: "Auch wir haben uns die Einstellung der Nationalmannschaft zu eigen gemacht und uns für die Endspiel-Ausgabe geschont."

Jupp Derwall hatte für derlei Spott und Kritik nicht viel Verständnis. Auf der Pressekonferenz wurde er ungewohnt fuchtig: "Menschenskinder, ich glaub' ich bin hier auf einer Beerdigung. Meine Herren, wir stehen im Europameisterschaftsendspiel. Wer hätte uns das vor einem Jahr nach unseren 0:0-Spielen gegen Malta und die Türkei schon zugetraut?"