Der erste Triumph von Rom

Am 21. Juni 1977 traf das Exekutivkomitee der UEFA eine folgenschwere Entscheidung, der der Fußball viel zu verdanken hat. Die Europameisterschaft wurde attraktiver, denn die Endrunde sollte nicht länger nur von vier Mannschaften im K.o.-System ausgetragen werden. Konkret wurde beschlossen, dass an der Endrunde im Juni 1980 acht Mannschaften teilnehmen sollten, die in zwei Vierer-Gruppen die Finalisten ermitteln sollten. Dafür gab es keine Halbfinals mehr, womit die bisherigen Endrunden gleich angefangen hatten. Weil es also mehr zu organisieren gab, erschien es sinnvoll, den Gastgeber schon weit früher als bisher festzulegen und ihm auch die Qualifikation zu ersparen.

Sechs Länder bewarben sich darum, drei kamen in die engere Auswahl: Italien, die Schweiz und Deutschland. UEFA-Präsident Franchi sagte, für eine solche Veranstaltung käme nur "eine große Fußballnation" in Frage, womit die Schweiz klammheimlich abserviert worden war. Und gegen Deutschland sprach, dass es vor nicht allzu langer Zeit eine WM (1974) bekommen hatte. Und so ging die Europameisterschaft in das Land, aus dem der UEFA-Präsident stammte. Das hatte zwar einen kleinen Beigeschmack, doch mehr sprach vorläufig nicht gegen Italien – was sich ändern sollte, als es schon zu spät war. Auch dass die Italiener bereits zum zweiten Mal (nach 1968) Gastgeber waren, war kein Hindernis.

Das Turnier versprach ja attraktiv zu werden, denn als am 16. Januar 1980 in Rom die Lose gezogen wurden, waren alle großen Namen in der Trommel. Alle bisherigen Weltmeister des Kontinents (Italien, Deutschland, England), der zweimalige Vize-Weltmeister Niederlande, Ex-Europameister Spanien und Titelverteidiger Tschechoslowakei, der nicht automatisch qualifiziert war, hatten es geschafft. Als Exoten ohne besondere Ambitionen wurden Belgien und Griechenland, ein absoluter Neuling bei internationalen Turnieren, zur Kenntnis genommen. Teilweise mit Spott, weshalb die Griechen mit Philosophie zurückschlugen. Trainer Aketas Panagoulias: "Jeder Mensch bekommt in seinem Leben eine bestimmte Anzahl Gelegenheiten, es kommt nur darauf an, sie zu nutzen."

England nach zehn Jahren wieder dabei

Die Engländer mussten zehn Jahre auf die Gelegenheit warten, wieder zu einem Turnier zu fahren. So glorreich ihre Klubs in den Siebzigern international agierten, so schlecht war die Nationalmannschaft. Doch unter Trainer Ron Greenwood war sie auferstanden, hatte sieben von acht Qualifikations-Spielen gewonnen und natürliche große Ziele. Von 1977 bis 1980 war der Europacup der Landesmeister stets auf die britische Insel gegangen, nun sollte auch der Silberpokal, der nach Henry Delaunay benannt wurde, in eine englische Vitrine. Greenwood versprach zumindest Spektakel: "So lange ich Teamchef bin, wird unsere Nationalelf offensiven Fußball auf breiter Front spielen."

Das hatte man den Holländern seit Anfang der Siebziger nachsagen dürfen und auch ohne den in die Jahre gekommenen Johan Cruyff, dessen Comeback-Angebot Trainer Zwartkruis dankend ablehnte, marschierte "Oranje" nach Italien. Aber im letzten Moment wären die Holländer fast gescheitert – an der DDR. Die erlebte am 21. November 1979 im Leipziger Zentral-Stadion eine kleine Tragödie im entscheidenden Spiel. Beide Teams lagen punktgleich vorne, das Torverhältnis sprach für die Gäste. Die DDR musste also gewinnen und wusste 100.000 Anhänger auf den Rängen hinter sich. Nach 33 Minuten hieß es nach Treffern von Rüdiger Schnuphase und Joachim Streich 2:0, die Sensation lag in der Luft.

Dann gerieten Konrad Weise und La Ling aneinander und beide flogen vom Platz. Mit dem Pausenpfiff verkürzten die Gäste und die DDR-Spieler bekamen Angst vor der eigenen Courage. "Leute, besinnt euch. Noch führt ihr. Die Niederländer wanken schon", flehte Trainer Georg Buschner in der Kabine, das Unheil wohl schon ahnend. Es kam mit tödlicher Präzision. Die Holländer wirbelten nun wie man es von ihnen kannte und aus der Vielzahl von Chancen entsprangen noch zwei Tore von Kist und René van de Kerkhof. Nie war die DDR näher an einer EM-Teilnahme dran als an jenem November-Tag anno 1979. Somit war Ost-Europa, bis dato sehr erfolgreich bei den EM-Turnieren, nur mit einer Mannschaft vertreten – den Tschechen.

DFB-Team mit blauen Augen nach Italien

Sechs Europameister von 1976 standen noch im Team und einige von ihnen waren besonders motiviert. Wer die 30 überschritten hatte, durfte in ein westliches Land wechseln, sofern die Tschechen unter die ersten Vier kämen, verhieß der Verband. Sonderprämien in Zeiten des Kalten Krieges, als es in Europa noch einen Eisernen Vorhang gab. So marschierten die Tschechen, die die WM in Argentinien verpasst hatten, durch ihre Qualifikations-Gruppe und gewannen fünf von sechs Spielen.

Nicht ganz so souverän lösten die Spanier ihr Ticket, nach dem 1:0-Heimsieg gegen Rumänien hagelte es in Valencia sogar Orangen auf die Sieger. Letztlich rettete sich der Europameister von 1964 nach einem 3:1 auf Zypern mit einem Punkt vor den Jugoslawen ins Ziel. Neben England blieben noch zwei Teams ungeschlagen. Deutschland und – Belgien. Die Belgier kamen in ihrer Gruppe mit Österreich, Portugal und Schottland für alles in Frage, nur nicht für den Sieg. Doch nachdem sie zunächst vier Unentschieden aneinandergereiht hatten, schalteten sie einen Gang höher und kamen noch zu vier Siegen. Europa staunte.

Weniger über Deutschland, das zwar auch ungeschlagen durch die Mühen der Vorausscheidung ging. Aber nicht ohne blaue Augen. Bundestrainer Jupp Derwall war nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, zum Umbruch gezwungen. Der forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 enttäuschte die Elf die Nation mit Nullnummern auf Malta und in der Türkei.

Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der Letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der "Erfahrung" von drei Länderspielen flog er als neue Nummer eins nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Top-Kandidat Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. Bis zuletzt hielt Derwall deshalb am Kölner Bernd Cullmann fest, neben Rainer Bonhof der letzte Verbliebene aus dem Weltmeister-Kader von 1974.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Rund lief es immer noch nicht und nach dem vorentscheidenden Spiel gegen die Türkei (2:0 in Gelsenkirchen) gab es wieder Pfiffe. Der Kicker analysierte: "Weder bei Eckbällen, noch bei Freistößen oder Einwürfen war auch nur einmal eine überraschende Idee zu spüren." Derwall stellte ernüchtert fest: "Wir sind die Favoritenrolle für die EM losgeworden." Doch im Frühjahr 1980 änderte sich einiges zum Guten. Aus der Not, die durch den Beinbruch von Schalkes Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall eine Tugend.

Die Bundesliga produzierte 1979/80 Talente am Fließband. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeldrackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike.

Selten soll die Kameradschaft in der Nationalelf besser gewesen sein als in jenen Monaten vor und bei der EM 1980 und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 im letzten EM-Test über die Polen im Mai attestierte der Kicker auf Seite 1: "Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet." In einer Umfrage unter den acht EM-Trainern tippten immerhin zwei auf den Europameister Deutschland. Einen Top-Favoriten gab es nicht.