Uli Stielike nach Kritik entlassen

Der DFB entließ daraufhin den Europameister von 1980 am 7. Mai 2000 aus seiner Mitverantwortung und beförderte einen anderen an seine Stelle: Horst Hrubesch, Trainer der damals eingeführten A2-Elf. Und noch ein Sieger-Typ verstärkte die Reisegruppe, die über ein Vorbereitungslager in Mallorca Anfang Juni in Vaalsbrook/Niederlande eintraf. Aus der Galerie der Weltmeister rekrutierte Ribbeck seinen letzten Trumpf: Er holte Thomas Häßler, damals 34 und bei 1860 München noch immer das Schwungrad, zurück. Mit dem mittlerweile in New York spielenden Matthäus, nun 39, war ein zweiter Sieger von Rom an Bord.

Euphorie schürte das auch nicht. Bezeichnend die Aktion eines Pfarrers aus Sylt: Er beschloss, vor jedem Spiel unter dem Motto "Erichs Buben in Gottes Stuben" eine Andacht abzuhalten. Bei Deutschland, damit schien der Pfarrer nicht alleine zu sein, schien im Sommer 2000 nur noch Beten zu helfen. Was das Turnier an sich anging, waren die Experten zuversichtlicher: "Diese Europameisterschaft wird großartig", sagte etwa Günter Netzer. Er sollte Recht bekommen.

Schon das Eröffnungsspiel am 10. Juni in Brüssel erhielt viel Beifall. Belgien bezwang Schweden 2:1 und die belgische Zeitung Les Sports schrieb: "Es ist selten, dass Eröffnungsspiele von großen Turnieren ihre Versprechungen halten. Dieser Eröffnungskampf hat uns begeistert." Auch wenn Schalkes Emile Mpenza vor dem 2:0 für Belgien die Hand zur Hilfe nahm und Markus Merk Schwedens Bayern-Profi Patrik Anderssson vom Feld stellen musste.

Den Drei-Tore-Schnitt festigte auch das zweite Spiel der Gruppe B – Italien schlug die Türkei 2:1 und festigte seinen Ruf als, positiv formuliert, clevere Mannschaft. Der Flug von Filippo Inzaghi in den türkischen Strafraum wurde gemeinhin ins Tierreich verortet, Inzaghi selbst verwandelte den Elfmeter. Die Heimat war dennoch zufrieden. "Italien, so gefällst Du uns", titelte die Gazetta dello Sport. Schon nach dem zweiten Spiel stand Italien gar als Viertelfinalist fest, gegen Gastgeber Belgien gab es einen überzeigenden 2:0-Erfolg für die von Torwart-Legende Dino Zoff trainierte "Squadra Azzurra". Die Belgier waren ernüchtert und doch stolz. Schalke-Profi Marc Wilmots behauptete: "Es gibt nicht viele Mannschaften, die Italien so an die Wand spielen können." Aber auf die Tore von Totti und Fiore hatte Belgien keine Antwort.

Die Türken und die Schweden trübten die Fußball-Party als erste, aber nach dem trostlosen 0:0 hatten beide noch Chancen aufs Weiterkommen. "Es geht vorwärts, aber im Tempo einer Schildkröte", freute sich die türkische Presse eher gedämpft über den ersten türkischen EM-Punkt überhaupt. Nach dem dritten Spieltag am 19. Juni hatten die Türken dann mehr zu feiern. Ihr Superstar Hakan Sükür schoss sie mit seinem Doppelschlag ins Viertelfinale und Mit-Gastgeber Belgien aus dem Turnier.

"Ultimativer Kater" für Belgien nach Gruppen-Aus

Die in Brüssel erscheinende Het Laatste Nieuws verkündete nach dem 0:2 den "ultimativen Kater". Sündenbock war Torwart Filip de Wilde, der vor Sükürs Kopfball zum 0:1 ins Leere faustete. "Wenn später jemand an diese EM denkt, denkt er nur an dieses Tor", jammerte de Wilde, der zu allem Übel auch noch vom Platz flog. Die Türken setzten sich nach dem Triumph größere Ziele. Sükür: "Jetzt wollen wir ins Halbfinale und dann ins Finale." Das trauten die Experten eher noch den Italienern zu, die auch ihr drittes Spiel gewannen. Zwei Minuten vor Schluss traf der bisherige Joker Alessandro del Piero Schweden mitten ins Herz (Endstand 2:1). 20 Monate mussten die "Tifosi" darauf warten, del Piero sagte beinahe schuldbewusst: "Dieses Tor hätte ich schon eher schießen sollen." Mit umgerechnet zwölf Millionen D-Mark Netto-Gehalt war der Juve-Stürmer anno 2000 der bestbezahlte Fußballer der Welt. In Eindhoven bewarb er sich darum, wieder zu den besten elf Italienern zu gehören. Schweden packte die Koffer, ohne Selbstvorwürfe. Patrick Andersson: "Wir haben alles versucht und sind zuletzt auf dem Zahnfleisch gekrochen. Es hat eben nicht gereicht."

Für die deutsche Mannschaft, Kopf der Gruppe A und doch kein Favorit, ließ sich nur ein Teil dieser Aussage übertragen. Sie gab nicht alles – und deshalb reichte es nicht. Schon nach dem einzigen Spiel, das sie nicht verlor, hagelte es Kritik. Bereits in der fünften Minute schlug es bei Oliver Kahn ein, sein Münchner Teamkollege Mehmet Scholl egalisierte Moldovans 0:1 mit einem sehenswerten Linksschuss (26.). Es sollte das einzige Tor bei diesem Turnier bleiben. Den einzigen Punkt retteten die DFB-Mannen mit einigem Glück über die Zeit, den Rumänen wurde ein klarer Elfmeter nach einem Nowotny-Foul verweigert. Scholl forderte nach Abpfiff eine Krisensitzung: "Über dieses Spiel muss geredet werden. Wenn wir gegen England und Portugal diese krassen Fehler nicht abstellen, dann sehe ich schwarz."

Portugal träumt vom Titel

Ribbeck erkannte, die Abwehr wackelte gewaltig: "Die Chancen des Gegners haben wir selber eingeleitet." Die alten Weltmeister konnten das Ruder nicht herum reißen. Matthäus und Häßler mussten ausgewechselt werden, sehr zur Freude der englischen Presse. "Der schlimme alte Feind. Deutschlands Mittdreißiger sahen aus, als wären sie in der Midlifecrisis", spottete The Sun, ehe sie sich der eigenen Mannschaft zuwenden musste. Am Abend unterlag das Team von HSV-Legende Kevin Keegan trotz früher 2:0-Führung gegen Portugal 2:3. David Beckham verabschiedete sich von den pöbelnden Fans mit Stinkefinger. Die Portugiesen, als "Brasilianer Europas" schon vor der EM gefeiert, bekamen zum Lohn einen trainingsfreien Tag. Superstar Luis Figo schwelgte: "Ein Team, das England so geschlagen hat wie wir, darf vom Titel träumen."

Erst recht, als sie im zweiten Spiel durch ein Tor in der Nachspielzeit Rumänien 1:0 besiegten und schon das Viertelfinale erreichten. Der Klassiker zwischen Deutschland und England bekam somit zusätzliche Brisanz. Eigentlich waren die beiden ersten Plätze doch für sie reserviert – nun musste einer ausscheiden. England durfte nicht verlieren, Deutschland besser auch nicht. Zumal der direkte Vergleich bei Punktgleichheit zählte. Die Bild-Zeitung druckte am 17. Juni drei Kleeblätter pro Ausgabe in den Nationalfarben, zum Ausschneiden und an den Fernseher kleben. Motto: "Ihr müsst kämpfen, wir sorgen für das Glück." Ein rührender und doch untauglicher Versuch.

Das Städtchen Charleroi sah schon vor der Partie eine Schlacht – die schlimmste des Turniers. Beinahe erwartungsgemäß randalierten englische Hooligans in der Innenstadt. Auch in Brüssel hatten sie zuvor ihr Unwesen getrieben, Passanten belästigt und Gaststätten demoliert. Die Polizeibilanz: 850 Festnahmen in Brüssel und in Charleroi, 56 Verletzte – und 3000 Beamte im Einsatz. Eine lange Kolonne von Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen erweckte am Spieltag in Charleroi Gedanken an kriegsähnliche Zustände.

0:1-Niederlage gegen England

Die Sorgen der deutschen Mannschaft waren da viel banaler. Kapitän Oliver Kahn, nach Oliver Bierhoffs Ausfall (Muskelfaserriss im Training) befördert, sah sich gezwungen, einige Kollegen zu maßregeln, die sich über fehlende Badewannen im Quartier beklagt hatten. Kahn: "Unwichtig, es geht nur um das Spiel."

Das gestaltete die Ribbeck-Elf, auf vier Positionen verändert, erfreulich offen. Wie bei der EM 1984 gegen Spanien führte nun ausgerechnet das beste Spiel zu einer 0:1-Niederlage – damals war es das definitive Aus, 2000 das gefühlte. Alan Shearer köpfte nach einem Fehler von Markus Babbel, der schlicht nicht bei ihm war, das goldene Tor (53.). Die verbesserte DFB-Elf, in der Sebastian Deisler seine Chance als Häßler-Vertreter nutzte und sechs aktuelle und drei ehemalige Spieler von Meister Bayern München standen, konnte ihre Chancen nicht nutzen. Die Größte vergab Carsten Jancker aus acht Metern nach einem Abpraller, als Torwart David Seaman schon am Boden lag. Nun kam also auch noch Pech dazu. Ribbeck klagte: "Das war eine unverdiente Niederlage, die weh tut. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind wir jetzt draußen." Für diesen Fall hatte Ribbeck seinen Rücktritt angekündigt, ohnehin endete sein Vertrag am 31. Juli 2000. In den Medien hatte die Nachfolge-Diskussion schon längst begonnen, nun entbrannte sie voll.

Am Tag vor dem Spiel der letzten Hoffnung gegen die Portugiesen sah man plötzlich Leverkusens Trainer Christoph Daum ins DFB-Quartier spazieren, er hatte ein Gespräch mit Vize-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder. Das Thema konnte man sich denken, schnell sickerte ein "Geheimplan" durch: "Er soll ein Jahr lang Leverkusen und die Nationalmannschaft trainieren", enthüllte die BZ. Für Franz Beckenbauer, wie er in seiner BZ-Kolumne schrieb, war Daum "der Richtige". Er sollte frischen Wind in diese Mannschaft bringen, in der noch zu viel Gestern lebte. "Wenn Lothar Libero spielen muss wie Worldcup Willi Schulz anno 1966, sehen wir uralt aus", analysierte Paul Breitner in der Bild am Sonntag. Für ihn war der deutsche EM-Traum schon vorbei: "Vergessen Sie die Möglichkeit, dass die Engländer gegen die Rumänen verlieren und Deutschland am Dienstag gegen Portugal gewinnt. Die Engländer werden die Rumänen niederwalzen."

Nun, in dem Punkt sollte Breitner irren. Dabei war die Lage vor dem 20. Juni noch verzwickter. Wegen der Ausschreitungen drohte die UEFA den Engländern unverhohlen mit Ausschluss. Generalsekretär Gerhard Aigner: "Wir überlegen, ob die englische Mannschaft noch dabei sein kann, wenn es Wiederholungen der Szenen wie in Charleroi und Brüssel gibt." An die englische Regierung erging ein offizieller Aufruf, "alle englischen Hooligans an der Ausreise zu hindern". So ergab sich noch eine zusätzliche Chance für die Deutschen, im Turnier zu bleiben. Doch dazu hätten sie zumindest den dritten Platz erreichen müssen.