Der schöne Fußball triumphiert

Am 14. Juli 1995 kam es zu einem weiteren Novum in der EM-Historie. War das Teilnehmerfeld zur EM 1996 bereits verdoppelt worden, geschah dies an jenem Tag auch mit der Zahl der Gastgeber. Die UEFA vergab die Euro 2000 erstmals an zwei Länder, was angesichts der gestiegenen Herausforderungen nachvollziehbar war. Weder Belgien noch die Niederlande hätten alleine 16 Länderteams beherbergen und 31 Spiele in der Norm der entsprechenden Stadien austragen können. Gemeinsam aber ging es. Auch Österreich und die Schweiz gaben eine Doppelbewerbung ab, deren Zeit sollte bekanntlich noch kommen (EM 2008).

Ein Novum war auch die Teilnehmerzahl an der Qualifikation: 51 Länder wollten zur EM 2000, abzüglich der Gastgeber stritten 49 Teams um 14 Plätze. Der Fußballadel fand auch 2000 wieder den Weg zur kontinentalen Gala, aber so manch Großer musste unerwartet heftig zittern. Weltmeister Frankreich etwa, 1998 im eigenen Land im Finale 3:0-Bezwinger Brasiliens, quälte sich ein Jahr später an gleicher Stätte im Prinzenpark-Stadion zu einem 2:0 über Andorra und brauchte im Rückspiel gar einen Elfmeter in der 85. Minute.

Deutschland zittert sich zur EURO

Erst am letzten Spieltag sicherte die "Equipe tricolore" ihr EM-Ticket, während die Ukraine in die neu eingeführten Play-off-Spiele für die Gruppenzweiten musste. Dort landete auch die englische Mannschaft, die neun Punkte hinter Schweden einlief. Italien unterlag den Dänen 2:3 in Neapel, hatte aber letztlich einen Punkt mehr als der Champion von 1992.

Besonders heftig zitterte auch die deutsche Mannschaft, die nach internen Wirren nicht mehr zu alter Stärke fand. Der Titelverteidiger war nur noch ein Schatten seiner selbst, der deutsche Fußball durchlief eine Talsohle. Unter dem neuen Bundestrainer Erich Ribbeck, der den im September 1998 zurückgetretenen Berti Vogts ablöste, wurde gleich das erste Spiel verloren. Dem 0:1 in Bursa gegen die Türken lief die Auswahl während der ganzen Qualifikation hinterher. Vor dem Rückspiel im Oktober 1999 brauchten die Deutschen noch einen Punkt. Das Heimspiel in München geriet zum Auswärtsspiel, von 63.000 Tickets waren 43.000 an Türken gegangen. Glanzlos wie es in jener Epoche leider an der Tagesordnung war, löste die DFB-Elf dennoch ihr Ticket – mit einem 0:0. Die türkische Zeitung Hürriyet schrieb: "Wir haben den Fußball-Riesen ins Schwitzen gebracht. Eine Zitterpartie für den dreimaligen Welt- und Europameister. Wir verschenkten den Gruppensieg." Der Kicker bilanzierte: "Über den Krampf zum Ziel."

Im Land des Titelverteidigers überwog die Skepsis für eine Mannschaft, die noch immer mit Libero spielte und den Zug der Zeit verpasst zu haben schien. Symbolfigur deutscher Stagnation war der im Alter von 38 Jahren von Ribbeck reaktivierte Lothar Matthäus, der nicht mehr die Dynamik haben konnte, um seine Paraderolle im Mittelfeld zu spielen. So machte ihn Ribbeck zum "letzten Mann", während international schon überall Viererketten vor den Toren gespannt wurden. Doch Ribbeck war auch nur ein Mängelverwalter. Talente waren Mangelware und bedurften noch der Führung – wie ein Sebastian Deisler oder Michael Ballack am Anfang ihrer Karriere. Der spielende Libero vor der Abwehr, der 1996 das Team zum Titel trieb, Matthias Sammer, war Invalide. Bayerns Anführer Stefan Effenberg weigerte sich beharrlich zurückzukehren und von der Sieger-Elf von Wembley standen in München nur noch vier Spieler (Babbel, Ziege, Bierhoff, Scholl) auf dem Platz. Ausländer mit deutschen Wurzeln wie der Brasilianer Paolo Rink oder der Türke Mustafa Dogan kamen zu Länderspielehren, schlossen die Lücken aber kaum.

Scharfe Beckenbauer-Kritik an deutscher Mannschaft

Die Kette enttäuschender Spiele nach dem WM-Aus 1998 (0:3 im Viertelfinale gegen Kroatien) hatte das Selbstverständnis erschüttert. Franz Beckenbauer, der deutsche Fußball-Kaiser, sagte es im Doppelpass des DSF auf seine Art sicher etwas zu drastisch am Sonntagmorgen nach der Qualifikation, aber das Volk stimmte ihm doch zu: "Wenn ich die WM-Elf von 1990 um Mitternacht wecke, dann gewinnt sie barfuß gegen die heutige Nationalmannschaft."

Und doch hätten andere gern die Sorgen der Deutschen gehabt. Österreich beispielsweise, bei der WM in Frankreich noch dabei, erlitt einen schweren Rückfall. Nicht Liechtenstein, Andorra oder die Färöer erlitten die höchste Pleite der gesamten Qualifikation – nein, es waren die vom deutschen Boulevard schon länger als "Dösis" verspotteten Nachbarn. Am 28. März 1999 gingen sie in Spanien 0:9 unter und verpassten durch das dermaßen ramponierte Torverhältnis die Endrunde. Die erreichten auf direktem Wege Spanien, das mit 42 Toren am treffsichersten unter allen Qualifikanten war, Rumänien, Portugal, Jugoslawien und der EM-Vize von 1996, Tschechien. Erst über die Play-offs stießen Dänemark (5:0 und 3:0 gegen Israel), England (2:0/0:1 gegen Schottland), Slowenien (2:1/1:1 gegen Ukraine) und erneut die Türkei (1:1/0:0 gegen Irland) dank der Auswärtstorregel hinzu.

"Schöne Bescherung...schon wieder England"

Am 17. November 1999 war das Feld komplett und nach der Auslosung im Brüsseler Expo-Palast zwölf Tage vor Weihnachten konnten die Spiele beginnen. "Schöne Bescherung…schon wieder England", titelte der Kicker. Hollands Fußball-Legende Johan Cruyff hatte das Klassiker-Los, das kurz zuvor auch vor der WM-Qualifikation 2002 fiel, gezogen. Thomas Helmer, Verteidiger der Sieger-Elf von 1996, brachte den Pokal zurück und war deshalb im Saal anwesend. Sein Kommentar: "Ich weiß nicht, wer lauter aufgestöhnt hat, die Deutschen oder die Engländer." Von den anderen Gegnern – Rumänien und Portugal – war weniger die Rede. Was sich rächen sollte.

Die letzten Tage des 20. Jahrhunderts waren die ersten Tage des Internets und so ließ der Kicker seine Leser nun "online" abstimmen, ob die DFB-Elf den Titel verteidigen würde. 1835 User nahmen teil, 74,3 Prozent antworteten mit Nein. Die Prognosen verschlechterten sich im Frühjahr 2000 beinahe täglich. Nach erschütternden Länderspielen in Amsterdam (1:2 gegen Niederlande) und Kaiserslautern (1:1 gegen die Schweiz) war das Ansehen der Nationalelf am Tiefpunkt. Englands Daily Telegraph spottete über "die schlechteste deutsche Mannschaft seit Menschengedenken" und selbst Nationalspieler Jens Jeremies bezeichnete ihren Zustand als "jämmerlich". Er führte im Kicker aus: "Es passt nichts zusammen, jeder spielt für sich." Die Krise erreichte im Mai ihren Höhepunkt. Vier Wochen vor dem Turnier ging Ribbecks Assistent Uli Stielike in einem Kicker-Interview auf Distanz zu seinem Vorgesetzten und der Nationalmannschaft. Kostprobe: "Wir sind jeden Tag mit negativen Schlagzeilen in den Medien. Wegen unserer Leistungen sind wir daran zum großen Teil aber auch selbst schuld!" Und dass DFB-Präsident Egidius Braun seinen Namen im Fernsehen "dreimal in einem Atemzug mit der A-Mannschaft nannte", habe er "gar nicht gerne gesehen".