FIFA-Präsident Havelange: "Eine Werbung für den Fußball"

Einmal aber ging es noch wie bisher weiter und das Finale war alles andere als langweilig. FIFA-Präsident Joao Havelange kam sogar zu dem Urteil: "Eine Werbung für den Fußballsport. So wird der Fußball lange leben."

Die Erinnerung an die 120 Spielminuten mit Zusatzqual vom Elfmeterpunkt lebt bis heute in Deutschland, Tschechien und der Slowakei fort. Wann immer ein Elfmeter besonders raffiniert verwandelt oder unkonzentriert verschossen wird, schweifen die Gedanken jener, die das Drama erlebt haben, ab nach Belgrad. Dass es überhaupt zum bis dahin noch nie bei Turnieren ausgetragenen Elfmeterschießen kam, wurde erst am Vorabend auf DFB-Initiative beschlossen. Präsident Hermann Neuberger einigte sich mit den Tschechen und der UEFA darauf. Eigentlich hätte am Dienstag ein Wiederholungsspiel stattfinden sollen, aber das fand Helmut Schön "mörderisch".

Das Finale vor 35.000 Zuschauern sollte eigentlich zur erneuten Kaiserkrönung werden, schließlich bestritt Franz Beckenbauer als erster Deutscher überhaupt sein 100. Länderspiel. Nur mit einem Sieg wäre das Jubiläum perfekt, aber darauf nahmen die Tschechen natürlich keine Rücksicht. DFB-Präsident Neuberger tat das Seine, um die Spieler anzustacheln und erhöhte die Siegprämie spontan von 10.000 auf 15.000 D-Mark. Die Tschechen, witzelte Trainer Jezek, wären schon damit zufrieden gewesen, dass "wir am Dienstag oder Mittwoch von unserem Ministerpräsidenten empfangen werden. Das ist Belohnung genug für uns." Doch auf dem Feld sah man zunächst nicht, für wen es angeblich nur um die Ehre ging.

Wie im Halbfinale verschlief die Schön-Elf den Start gehörig: und noch früher als am Donnerstag hieß es an jenem Sonntag 0:2. Svehlik (8.) und Dobias (25.) nutzten Abwehrfehler des Welt- und Europameisters, die man lange nicht gesehen hatte. Stand doch mit Ausnahme des Duisburger Linksverteidigers Bernard Dietz die Abwehrkette von München auf dem Platz. Aber wiederzuerkennen war sie nicht. Aber, auch das andere, kämpferische, Gesicht der Nationalelf trat wieder zutage. Und wieder bewies Dieter Müller seinen Torinstinkt: drei Minuten nach dem 0:2 verwandelte er eine Vorlage von Rainer Bonhof. Zweites Länderspiel, viertes Tor – und das bei einer EM-Endrunde. So hat noch keine Länderspielkarriere begonnen.

Derwall sucht die Elfer-Schützen

Nach der Pause entwickelte sich ein dramatisches Spiel, beide Seiten trafen den Pfosten. Schön wechselte erneut Heinz Flohe und nach 80 Minuten den Schalker Hannes Bongartz ein, der erst sein zweites Länderspiel bestritt. In der 83. Minute versuchte Beckenbauer sein Jubiläum zu retten und drang in den Strafraum ein, wo er von Dobias gefoult wurde. Aber der italienische Schiedsrichter Gonella pfiff nicht.

Die letzte Minute: es gab noch einmal Ecke für Deutschland, Bonhof schoss sie scharf in den Fünfmeterraum. Nah ans Tor, zu nah eigentlich. Der phantastische Tschechentorwart Ivo Viktor kam zu spät, Bernd Hölzenbein erwischte den Ball mit dem Kopf einen Tick vor ihm und plötzlich hieß es 2:2. Ein Last-Minute-Tor, wie es Schnellinger in Mexiko oder Weber in Wembley gelungen war. Es wurde gar nicht mehr angepfiffen, Verlängerung. In selbiger schwanden die Kräfte auf beiden Seiten, immer wieder gab es Unterbrechungen wegen Wadenkrämpfen. Nur Tore gab es keine mehr und so musste der DFB erstmals in seiner Historie in ein Elfmeterschießen. Was neu ist, konnte noch nicht eingeübt sein und so mangelte es an willigen Schützen. Co-Trainer Jupp Derwall machte sich auf die Suche. In einem Jahrbuch des Copress-Verlags sind die Antworten der von Derwall angesprochenen Spieler dokumentiert.

Bernard Dietz: "Nein, ich nicht. Ich fall auf der Stelle um. Ich bin kaputt."
Franz Beckenbauer: "Oje, ich weiß nicht, ob ich mit meiner verletzten Schulter (!) schießen kann."
Uli Hoeneß: "Ich kann nicht. Ich bin völlig ausgepumpt."
Katsche Schwarzenbeck: "Ich habe neun Jahre keinen Elfmeter geschossen. Warum soll ich ausgerechnet heute?"
Sepp Maier meldet sich freiwillig: "Dann schieße eben ich."
Beckenbauer: Kommt nicht in Frage. Du gehst ins Tor. Basta, ich schieße schon."
Maier: "Dann schieße ich für den Uli."
Hoeneß: "Lass mal Sepp. Ich schieße schon."
Noch sind es nicht genug, da fragt Helmut Schön Dieter Müller.
Müller: "Ich hab nicht die Nerven dazu. Das ist doch erst mein zweites Länderspiel."
Heinz Flohe: "Ich fühle mich sicher."

Nun sind es mit Bonhof, den keiner fragen musste, Hoeneß, Flohe und Beckenbauer vier. Da meldet sich Hannes Bongartz: "Okay, ich bin auch dabei."

Wer den über die Jahrzehnte gewachsenen Ruf von den eiskalten deutschen Elfmeterschützen kennt, die seit 1976 ein solches Stechen nie mehr verloren haben, muss sich doch etwas wundern über die Anfänge in dieser Spezial-Disziplin. Leider bestätigte sich an diesem Tag jedoch der Ruf von Sepp Maier, kein ausgewiesener Elfmeterkiller zu sein. So reaktionsschnell "die Katze von Anzing" auch war, beim Pokerspiel vom Punkt lag sie leider meist daneben. Und so war es auch in Belgrad. Masny, Nehoda, Ondrus und Jurkemik überwanden ihn, auf deutscher Seite glichen Bonhof, Flohe und Bongartz dreimal aus. Dann kam Uli Hoeneß an die Reihe. Der Mann, der nicht schießen wollte, es aber tat "weil sich kein anderer fand und ich der Verantwortung nicht ausweichen wollte."

Hoeneß donnert den Ball in den "Belgrader Nachthimmel"

Aber er war ihr mehr körperlich denn geistig nicht gewachsen. Hoeneß erzählte den Reportern treuherzig: "Normalerweise achte ich auf den Torwart und schiebe den Ball in die Ecke. Weil ich jedoch so ausgelaugt war, wollte ich kein Risiko eingehen und den Ball mit voller Wucht ins Tor jagen." Nun, er schoss ihn ein bisschen zu wuchtig und vor allem zu hoch. Gar nicht so deutlich über das Tor, wie es in der Rückschau gern dargestellt wird, wenn gewitzelt wird, dass man den in den "Belgrader Nachthimmel" geschossenen Ball immer noch suche.

Natürlich schoss er ihn nicht aus dem Stadion, aber eben so offensichtlich unkonzentriert, dass sein Schuss als Prototyp des missratenen Elfmeters durchgeht. Genau das hoffte er nicht, als er am nächsten Morgen im Hotel einem Reporter sagte: "Nun muss ich mich aber wohl nicht hundert Jahre mit Vorwürfen plagen?"

Aber weil es das einzige Elfmeterschießen war, das eine deutsche Mannschaft bei Turnieren je verloren hat, muss er sich öfter daran erinnern, als ihm lieb ist. Die Niederlage perfekt machte jedoch ein anderer Elfmeter. Der Schuss von Antonin Panenka war der Gegenentwurf zur Hoeneß-Methode. Frech bis zur Dreistigkeit schnippelte Panenka den Ball in die Tormitte, im Vertrauen darauf, dass Maier sich schon eine Ecke suchen würde. Und so war es – 5:3. Ende. Aus. Vorbei. Die Tschechen waren erstmals Europameister, ein Land war aus dem Häuschen. Zehntausende erwarteten die Helden bei der Landung in Prag und feierten "die Meisterelf aus dem Nichts", wie sie genannt wurde.

Die Deutschen hatten nichts zu feiern, aber natürlich gab es noch einen Umtrunk im Mannschaftskreis. Immerhin waren sie Vize-Europameister geworden und zumindest Franz Beckenbauer kehrte nicht mit leeren Händen heim. Der DFB schenkte ihm für sein 100. Länderspiel eine Skulptur aus Gold und Silber, die eine Spirale darstellte – die seinen Aufstieg symbolisierte. Dass der Silberpokal, für den sie nach Jugoslawien gekommen waren, nicht danebenstand, verzieh er Sünder Uli Hoeneß schon am nächsten Morgen am Flughafen. Kameradschaftlich sagte der Kaiser: "Uli, das hätte mir auch passieren können."