Vogts ist verletzt - und sitzt weinend in der Kabine

Doch niemand konnte diese Deutschen anno 1972 schlagen. Auch nicht die Russen. Dass in der deutschen Kabine am 18. Juni 1972 dennoch Tränen flossen, hatte einen anderen Grund. Berti Vogts wurde vor der Partie von seinen Gefühlen übermannt, weil er wegen seiner Verletzung zusehen musste. Helmut Schön zog ihn in den Waschraum: "Berti, du kannst jetzt nicht vor einem Endspiel um die Europameisterschaft mit Tränen in den Augen in der Kabine sitzen. Das ist nicht gerade eine Stimulanz für die anderen!", gab er dem Verteidiger, der 1996 als Bundestrainer selbst Europameister werden sollte, zu verstehen.

Mit der Stimulanz war es ansonsten kein Problem. Auf der Busfahrt verlas Schön noch ein aufmunterndes Telegramm von Sepp Herberger und das Brüsseler Heysel-Stadion war fest in deutscher Hand: Rund 40.000 Schlachtenbummler unter den 55.000 machten Stimmung. Nicht immer auf die feine Art, die Polizei hatte in Belgien einigen Ärger mit alkoholisierten deutschen Fans. Kurz vor Abpfiff des Finals musste Sepp Maier einen Anhänger einfangen, der den Sieg schon feiern wollte. Der Sieg, der schon früh fest stand in einem Endspiel, dem es an Spannung mangelte. Nach 57 Minuten hieß es 3:0, zwischen zwei Müller-Toren (28., 57.) durfte auch der Gladbacher Herbert Wimmer (52.) einnetzen. "Das Finale war derartig klar und beherrschend, da wirkte bei den Russen noch das 1:4 von München nach", sagte Netzer. Dabei hatte deren Trainer Guljajew am Tag des Finals noch prophezeit: "Wir verlieren bestimmt nicht wieder so hoch." Von Sieg sprach er nicht.

Hinterher überschlug sich die Presse mit Lob für den neuen Europameister, nicht jeder traf dabei den richtigen Ton: "Man müsste es gegen die Deutschen mit einem Maschinengewehr versuchen. Ohne ein solches kann man die Mannschaft nicht stoppen", titelte die Gazetto dello Sport. Galanter formulierte es die französische L' Equipe, die vom "Fußball 2000" sprach. Der Kicker titelte: "Deutschland ist Europas König!", und fand: "Und das erfreulichste daran: Die Siege werden vor allem erspielt und erst in zweiter Linie erkämpft. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine geschlossenere Leistung möglich ist."

Keine Live-Übertragungen der EM-Spiele

Weil das die ganze Fachwelt so sah, erlebte die vierte EM-Endrunde trotz noch unverkennbarer Mängel in der Organisation (Belgiens Fernsehen brachte beispielsweise keine Live-Übertragungen zustande. Nur eine Partie war ausverkauft, weshalb der DFB sogar noch im Hotel einen Ticketshop aufmachte) ihren ersten sportlichen Höhepunkt. Denn noch immer behaupten viele Experten: Einen besseren Europameister hat es nie gegeben!

Hier sind die Namen: Sepp Maier – Horst-Dieter Höttges, Franz Beckenbauer, Hans-Georg Schwarzenbeck, Paul Breitner – Uli Hoeneß, Günter Netzer, Herbert Wimmer – Jupp Heynckes, Gerd Müller, Erwin Kremers.

Sechs Bayern, drei Mönchengladbacher, ein Bremer und ein Schalker eroberten in jenen Tagen Europa und erhielten den Beifall der ganzen Welt. Zwei Jahre später musste sie wieder applaudieren, als der Kern der Europameister auch Weltmeister wurde.