Erster deutscher Sieg im legendären Wembley-Stadion

Weiter ging es im K.o.-Modus: Am 12. Januar 1972 führte das Los in Zürich Deutschland und England zusammen. "Schlimmer ging's nicht, England!", titelte der Kicker entsetzt. Im Mutterland des Fußballs hatte die Nationalmannschaft seit 1908 noch nicht gewonnen. Es war das Los, das keiner wollte.

Der Pessimismus in den deutschen Reihen wurde bis zum Anpfiff am 29. April 1972 im Londoner Wembley-Stadion nicht gerade geringer, Personal- und Formprobleme bei den "Block-Mächten" aus München und Mönchengladbach drückten die Stimmung. "Wenn wir keine fünf Tore kriegen, haben wir ein gutes Ergebnis erreicht", sagte Günter Netzer zu Franz Beckenbauer in der Kabine. Der Kaiser-Konter: "Ja mei!" Er war angesichts deftiger Packungen seiner Bayern (1:5 in Köln, 0:3 in Duisburg, 0:2 in Glasgow) auch nicht gerade bester Stimmung. Torwart Sepp Maier hatte sich beim Europacup-Aus der Münchner in Glasgow verletzt. Er wachte am Spieltag mit dickem Ellenbogen auf und musste in Wembley mit Schaumverband auflaufen, was die Ärzte geheim hielten. Selbst Helmut Schön sagten sie nichts, der Bundestrainer hatte Sorgen genug und schon wieder mal seine Magenschmerzen.

Auf der Ausfallliste standen ganz oben Berti Vogts, Wolfgang Overath sowie die Schalker Skandal-Sünder Klaus Fichtel und "Stan" Libuda. Die Presse spekulierte schon über die Reaktivierung von Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger, aber auch der verletzte sich. In der Not setzte Schön auf die Jugend. Die Bayern Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister. Revanche wollten beide – Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970. Die Deutschen trugen Grün an diesem Aprilsamstag, was anschließend als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machten sie eines ihrer besten Länderspiele überhaupt.

"Ramba-Zamba-Fußball"

Die Spielkunst, die die Elf an jenem 29. April 1972 entfaltete, hob sie schlagartig auf den Favoritenschild. Bis nach Brasilien schwappten die Wogen der Begeisterung: "Was haben die Deutschen nur für eine herrliche ausgeglichene Mannschaft! Sämtliche Spieler waren ständig in Bewegung. Die Verteidigung spielte hervorragend, glänzend dirigiert von Beckenbauer, das Mittelfeld gehörte nur den Deutschen. Ein großartiger Netzer, der Overath vergessen ließ, und die größte Überraschung des Spiels überhaupt war ein kämpferischer Wimmer und der 20-jährige Hoeneß, ein feiner Techniker mit großer Zukunft", kommentierte O Globo. Und eine mexikanische Zeitung stellte neidvoll die Frage: "Wo nimmt der Bundestrainer nur immer wieder solche Spieler her?"

Was war geschehen? Die Deutschen nahmen an diesem Tag ihr Herz in die Hand und suchten die Entscheidung. Alle Verzagtheit wich mit dem Anpfiff, das Wechselspiel der Feldherren Beckenbauer und Netzer, von der Bild-Zeitung als "Ramba-Zamba-Fußball" gefeiert, funktionierte traumhaft. Libero und Spielmacher übergaben einander den Taktstock und gaben den jungen Mitspielern Halt. Netzer hat an diesem Tag wohl sein bestes von 37 Länderspielen gemacht und sagt bis heute: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe!"

Mit heutigen Maßstäben würde man das 3:1, das erst durch zwei späte Tore durch Netzer (Elfmeter, 84.) und Müller (88.) zustande kam, sicher etwas nüchterner sehen. Die Engländer hatten mehr Torschüsse (25:13) und Ecken (14:4) und wurden keineswegs an die Wand gespielt, aber die Deutschen spielten einfach besser und effizienter in einer Partie ohne eine einzige Abseitsposition. Am verdienten Sieg, zu dem auch Hoeneß ein Tor beisteuerte, zweifelte jedenfalls niemand. Groß machte ihn sicherlich die Tatsache, dass es der erste auf englischem Boden war – und dann noch an dem Ort, wo 1966 das mythische dritte Tor gefallen war, das nach deutscher Ansicht natürlich keines gewesen ist.

Das Wembley-Trauma war noch nicht überwunden mit diesem Triumph, aber leichter zu ertragen allemal. "Der Sieg in Wembley hat den Geist dieser Mannschaft geprägt", sagt Netzer noch Jahrzehnte später. England aber jammerte: "Oh what a black day for England", titelte der Sunday Express.

Belgien darf die Europameisterschaft ausrichten

Beim Rückspiel in Berlin war von Glanz nicht mehr die Rede. Es kam auf das Weiterkommen an, 76.200 Zuschauer warteten im Dauerregen vergeblich auf Tore und freuten sich dennoch: Die Endrunde war erreicht. Der Gastgeber stand erst vier Wochen vorher fest: Seit dem 13. Mai 1972 wussten die Belgier von ihrem Glück, das sie sich durch das sensationelle Eliminieren der Italiener (0:0 und 2:1) selbst verdient hatten. In aller Eile brachten sie die drei geeigneten Stadien in EM-Form, in Antwerpen wurden die Stehränge noch schnell vom Unkraut befreit.

Belgien machte sich schön für ihre Gäste, auch Ungarn (nach drei Spielen Sieger über Rumänien) und einmal mehr die Sowjetunion (0:0 und 3:0 gegen Jugoslawien) schafften es.

Deutschland traf auf die Belgier, übrigens auch im Hotel, das beide Teams gemeinsam bewohnten. Dort trennten sie nur zwei Etagen, sportlich waren es Welten. Nachdem Trainer Raymond Goethals am 26. Mai 1972 Augenzeuge des deutschen 4:1-Sieges über die UdSSR anlässlich der Einweihung des Münchner Olympiastadions geworden war (Gerd Müller schoss alle Tore), sagte er: "Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance."

Er sollte in jedem Punkt recht bekommen. Die "Roten Teufel" standen am 14. Juni 1972 jedenfalls auf verlorenem Posten. Die Zeitung La libre Belgique schrieb zuvor pathetisch vom "größten Kampf, den Belgiens Auswahl je zu bestehen hatte". Den wollten offiziell 55.669 Zuschauer in Antwerpen miterleben – die meisten davon in der Hoffnung, den Favoriten stolpern zu sehen. Doch es war die Zeit, in der Gerd Müller nur eine halbe Chance für ein Tor brauchte – jedenfalls wenn er Normalform hatte. Er hatte sie auch auf der "unbespielbaren Steinwüste" des Stade Bosuil, in die sich zumindest Helmut Schön versetzt fühlte.

Der Ball lief auch nicht allzu flüssig beim Starensemble, das wieder Grün trug. Man sprach hinterher von einem Arbeitssieg, den Müller möglich machte. Nach 24 Minuten köpfte der "Bomber der Nation" eine Netzer-Flanke zum 1:0 ein. In der Pause befahl Belgien-Trainer Goethals die "Alles oder nichts-Taktik" – und erntete das Nichts. Weil Sepp Maier alles hielt und Kollege Müller wieder zuschlug (72.). Der belgische Ehrentreffer von Polleunis änderte nichts an den Fakten. Deutschland stand im Finale gegen die Sowjetunion, die sich zu gleicher Stunde in Brüssel gegen Ungarn (1:0) durchsetzte. Ein Tor von Konkow öffnete den Russen den Weg ins Finale, aber auch Torwart Rudakow war zu danken, der kurz vor Schluss einen Elfmeter hielt. Für die Organisatoren war das zweite Halbfinale ein Fiasko. Es kamen auch wegen der gleichzeitigen Ansetzung nur 1659 Zuschauer, ein historischer Tiefstwert für ein EM-Endrundenspiel. DFB-Trainer Jupp Derwall war unter ihnen, um den Finalgegner zu beobachten.

Er war schwächer als der Halbfinalgegner Belgien, der sich damit trösten konnte, dem neuen Europameister unterlegen zu sein. Kurz nach dem Abpfiff fanden sie aber keinen Trost: "Wir hätten sie doch schlagen können", klagte Paul van Himst, damals der Star der Belgier.