Rehhagel frohlockte: Wir haben viele Menschen glücklich gemacht"

Bei führenden Wettanbietern rangierte Deutschland auf dem achten Platz, EM-Top-Favorit war Titelverteidiger Frankreich, gefolgt von Italien, Niederlande und Portugal. Die Griechen lagen auf dem 11. Platz, wer auf sie setzte, konnte bei betandwin auf das 40-fache seines Einsatzes hoffen. Dabei waren sie doch seit 15 Spielen ungeschlagen.

Als das Eröffnungsspiel beendet war, waren sie es immer noch. Die EM hatte schon nach 90 Minuten ihre erste Sensation: Portugal gegen Griechenland: 1:2 hieß es am 12. Juni in Porto. Ein gewisser Georgios Karagounis erzielte das erste EM-Tor (6. Minute) und nach dem Elfmetertreffer von Angelos Basinas (51.) beschlich 52.000 Zuschauer im Estadio do Dragao das dumpfe Gefühl, ihre Mannschaft könne schon in der Vorrunde scheitern. Das konnte auch der 19 Jahre alte Wunderknabe Cristiano Ronaldo von Manchester United mit seinem Anschlusstor (90.) nicht vertreiben.

Portugal vergoss schon bei der Eröffnung erste Tränen, Trainer Felipe Scolari sagte: "Ich kann mich bei unseren Fans für diese Leistung nur entschuldigen." Die Griechen, erst zum zweiten Mal bei einer EM und nun erstmals dort siegreich, drehten fast durch in ihrer Begeisterung. Eine Zeitung schrieb: "Sie sind Götter." Ein TV-Reporter diente Rehhagel die Ehrenbürgerschaft an, denn "während des gesamten Spiels war er griechischer als die Griechen selbst". Rehhagel, mehrfacher Meister-Trainer und Europacupsieger, sagte stolz: "Dies ist einer meine größten Erfolge." Alle Beobachter waren sicher, eine Sensation gesehen zu haben, doch niemand ahnte, dass sie wegweisenden Charakter für diese EM haben würde.

Im zweiten Spiel der Gruppe A rettete Spanien die Ehre der Iberer und schlug Russland 1:0. Trainer Inaki Saez wechselte in der 60. Minute den Sieg ein, denn Joker Juan Carlos Valeron schoss bereits 20 Sekunden später das einzige Tor. Der Russe Scharonow sah die erste Gelb-Rote Karte des Turniers und fehlte im nächsten Spiel. Für Kollege Alexander Mostowoj war es schon beendet. Für seine offenen Worte ("Wir sind erschöpft von den Trainingsmethoden") wurde er von Coach Georgi Jartsew heimgeschickt. Am zweiten Spieltag verteidigte Griechenland seine Tabellenführung durch ein 1:1 gegen Spanien, das nicht minder überraschend wie der Auftakt war – nur weniger unterhaltsam. Auf der Tribüne in Porto schlief sogar der spanische König Juan Carlos ein. Vielleicht wähnte Majestät die "Seleccion" ja nach der Pausenführung von Morientes schon in Sicherheit, die Griechen blieben bis zum Halbzeitpfiff ohne Torchance. Quasi aus dem Nichts fiel nach 66 Minuten der Ausgleich durch Bremens Meisterstürmer Angelos Charisteas, der frohlockte: "Wir haben zwei tolle Spiele gemacht. Jetzt ist alles möglich." Die griechische Zeitung Sporttime jubelte: "Ottos Piraten machen die Welt verrückt."

Portugal, das erste Opfer dieser "Piraten", hatte sich rechtzeitig wieder erholt und schlug die Russen in Lissabon 2:0. Damit wahrten sie ihre Chancen aufs Viertelfinale und raubten den Russen die ihrigen. Die jüngste Mannschaft des Turniers (25,2 Jahre im Schnitt) zahlte Lehrgeld. Pech kam hinzu, als Torwart Owschinnikow in der 45. Minute zu Unrecht vom Feld gestellt wurde. Portugals Trainer Scolari war dennoch unzufrieden: "Wir haben unsere Überzahl nicht richtig ausgenutzt." Woran er auch Superstar Luis Figo Schuld gab. Dessen Auswechslung wurde zum Politikum, aber danach fiel das entscheidende Tor von Joker Rui Costa. Russen-Trainer Jartsew versprach den Portugiesen und der Welt, sein Team würde gegen Griechenland dennoch kämpfen, denn "das Spiel ist für die ganze Gruppe wichtig".

Und er hielt Wort. Am 20. Juni erlitt der kommende Europameister in Faro seine erste und einzige Niederlage ausgerechnet gegen eine ausgeschiedene Mannschaft (1:2). Dimitri Kirischenko schockte die Griechen mit dem schnellsten EM-Treffer aller Zeiten – nach 67 Sekunden. Und nach Bulykins 2:0 (17.) schien das Abenteuer der Griechen tragisch zu enden. Dann glückte Zisis Vryzas der Anschlusstreffer (43.), der von elementarer Bedeutung sein sollte. Denn Portugal schlug erstmals nach 23 Jahren Nachbar Spanien (1:0), Nuno Gomes wurde dank seines Tores zu einer Art Nationalheiligen. Als nun nach 90 Minuten Bilanz gezogen wurde, war Portugal doch noch Erster geworden. Weil so viele Menschen ihrer Freude darüber auch telefonisch Ausdruck geben wollten, brach in Lissabon das Handynetz zusammen. Wer kam noch weiter? Eine Frage für Regelexperten. Griechenland und Spanien waren punktgleich, der direkte Vergleich (1:1) half auch nicht weiter. Nach Toren waren nun ausgerechnet die so defensiv spielenden Griechen (4:4) gegenüber Spanien (2:2) im Vorteil, weil die Anzahl der erzielten Tore bei gleicher Differenz den Ausschlag gab. Kein Ruhmesblatt, so weiter zu kommen und weit und breit kein Trost, so ausgeschieden zu sein. Den Griechen war es egal, in Athen stiegen Leuchtkugeln in den Himmel. Ein Land feierte eine Niederlage, die ihr größter Sieg war – im Fußball wohlgemerkt.

Rehhagel frohlockte: "Wir haben viele Menschen glücklich gemacht. Das ist doch herrlich, nicht wahr?" Spanien aber fuhr mit all seinen Superstars nach Hause und zwar, wie Trainer Saez sagte, "weil es uns zu sehr anstrengt hat, Tore zu schießen". "Man hat das Gefühl, mit Spanien ist es immer dasselbe", sagte der frustrierte Verteidiger Juanito.

Die Zeitung El Mundo widersprach ihm: "Das war schlechter als je zuvor." Da ahnte noch keiner, dass hier bereits das Gerüst der heute wohl besten Mannschaft der Welt schon erstellt war (Casillas, Puyol, Torres, Xabi Alonso).

In Gruppe B setzten sich immerhin die Favoriten durch: Frankreich und England. Sie waren gleich im ersten Spiel aufeinander getroffen und schrieben eine seltsame Geschichte. Noch immer amüsierte man sich in England in jenen Jahren über das Unglück der Münchner Bayern, die im Champions-League-Finale 1999 in der Nachspielzeit zwei Tore gegen Manchester United kassiert hatten. Am 13. Juni erlebten die Engländer in Lissabon dann selbst einmal, wie das ist, wenn sich das Glück binnen Sekunden in Pech verwandelt. Noch in der 91. Minute führten die Briten dank eines Lampard-Treffers, der verschossene Beckham-Elfmeter schien nicht weiter ins Gewicht zu fallen. Dann gab der deutsche Schiedsrichter Markus Merk einen Freistoß für Frankreich, den Weltstar Zinedine Zidane aus 25 Metern einschoss. England war paralysiert und Steven Gerrard spielte einen fatal getimten Rückpass auf Keeper David James. Thierry Henry war schneller, James legte ihn – Elfmeter. Zidane traf erneut, 2:1 und Abpfiff. Zwischen 1:0 und 1:2 lagen 132 Sekunden und die Herren Beckham und Gerry Neville, mit ManUnited noch strahlende Sieger, lernten nun auch die Kehrseite der Medaille kennen. Beckham sagte angesichts seines Elfmeter-Patzers: "Ich bin schuld."

Kaum eine Zeile wert war die andere Begegnung der Gruppe B, die Schweiz und Kroatien quälten 25.000 Zuschauer in Leiria beim trostlosen 0:0. Die UEFA verhängte gegen die Kroaten 6600 Euro Strafe, weil sie fünf Verwarnungen einsammelten. Der einzige Platzverweis ging jedoch an den Schweizer Johann Vogel. Das Spiel war auch kein Ruhmesblatt für die Bundesliga, die immerhin durch acht Spieler vertreten war. Für die Schweiz, deren Trainer Köbi Kuhn mit dem Punkt noch zufrieden war, wurde es dann schlimmer. Gegen England kamen die Helvetier in Coimbra 0:3 unter die Räder. Alles sprach vom 18 Jahre alten Kraftprotz aus Everton, Wayne Rooney, der an diesem Tag zweimal traf und zum jüngsten EM-Torschützen avancierte.

Die Schweizer gingen erneut in Unterzahl vom Feld, nun erwischte es Bernt Haas. Kroatien und Frankreich trennten sich 2:2, der EM-Held von 2000, David Trezeguet, rettete mit seinem Tor einen Punkt für den zu diesem Zeitpunkt seit 16 Monaten unbesiegten Titelverteidiger. Zidane rätselte: "Ich weiß nicht, was mit uns los ist." Kroatiens Trainer Otto Baric, einst beim VfB Stuttgart, sagte stolz: "Unser Punktgewinn ist hochverdient."

Doch schon vier Tage später schlug er andere Töne an. Nach dem 2:4 gegen die Engländer verkündete er seinen Rücktritt: "Das war heute mein letztes Spiel, es ist vorbei." England hatte den Schockstart ins Turnier ebenso weggesteckt wie den Fehlstart ins letzte Vorrundenspiel, in dem Nico Kovac die Kroaten nach fünf Minuten in Führung gebracht hatte. Wunderknabe Wayne Rooney war erneut nicht zu bremsen, wieder schoss er zwei Tore. Trainer Eriksson sagte: "Ich kenne seit Pelé keinen jungen Spieler, der ein solches Turnier gespielt hat." Und es war noch lange nicht zu Ende – nur für 44 englische Hooligans, die zur Abreise gezwungen wurden. Und für die Schweizer. Sie mussten gegen Frankreich auf Stürmerstar Alexander Frei verzichten. Die UEFA hatte ihn zwar wegen einer Spuckattacke gegen Englands Steven Gerrard zunächst freigesprochen, doch ausgerechnet nachgereichte Bilder des Schweizer Fernsehens belasteten Frei, der daraufhin bis zum Turnierende gesperrt wurde. Das stellte sich schon am 21. Juni in Coimbra ein, als Frankreich trotz erneut wenig überzeugender Leistung 3:1 gewann. Ein Doppelschlag von Thierry Henry sorgte erst in der letzten Viertelstunde für Klarheit. Trostpflaster für die Schweiz: Johann Vonlanthen jagte Rooney den Rekord wieder ab. Nach seinem Treffer zum 1:1 avancierte er zum jüngsten EM-Torschützen – mit vier Tagen weniger Lebenserfahrung (18 Jahre, 141 Tage). Den Rekord hält Vonlanthen immer noch.

In Gruppe C spielte sich der spannendste Kampf ab, in der Leichtatlethik würde man von einem Zielfoto-Einlauf sprechen. In Italien sprachen sie von Betrug und einem Skandal. Der Reihe nach: Außer Bulgarien, das zum Auftakt Schweden 0:5 und danach Dänemark 0:2 unterlag, konnten alle Teams vor dem letzten Spiel weiterkommen. Italien hatte nach zwei Unentschieden (0:0 gegen die Dänen, 1:1 gegen die Schweden) die wenigsten Punkte, aber mit Bulgarien den vermeintlich leichtesten Gegner. Für den sollte es auch ohne Francesco Totti reichen, den die UEFA nach einer vom Referee übersehenen Spuck-Attacke gegen Christian Poulsen für drei Spiele sperrte. Totti jammerte: "Das bin nicht ich. Ich erkenne mich selbst nicht wieder auf den Bildern."

Doch was, wenn sich Schweden und Dänen, die Nachbarländer, zu einem skandinavischen Bund entschlössen? Ein Remis würde beiden reichen, denn dann hätten alle fünf Punkte. Der direkte Vergleich müsste dann entscheiden und bei lauter Unentschieden untereinander zählten die mehr erzielten Tore. Italien war da mit 1:1 Toren in einer verteufelten Lage, bei jedem Remis ab 2:2 war es ausgeschieden – egal wie hoch es Bulgarien bezwänge. Nicht ganz ohne Grund forderte Verteidiger Gennaro Cattuso "50 UEFA-Kameras bei diesem Spiel". Schwedens alternder Stürmer-Star Henrik Larsson, von 110.000 Unterschriften seiner Landsleute zum Comeback überredet, entgegnete: "Es ist unmöglich, so ein Ergebnis zu arrangieren. Das könnte nicht einmal Steven Spielberg." Der Fußball-Gott aber konnte es. Während Italien erst in der Nachspielzeit durch Cassanos Tor zum 2:1 über Bulgarien kam, stand es in Porto 2:1 für die Dänen. Dann kam, was kommen musste: Mattias Jonson, ein Schwede in dänischen Diensten (Bröndby) schoss das 2:2. Es folgte nur noch der Schlusspfiff. Prompt wurde Dänen-Trainer Morten Olsen auf der Pressekonferenz gefragt, ob das Resultat arrangiert gewesen sei. "Das ist doch lächerlich", zürnte der frühere Kölner. Kollege Lars Lagerbäck beteuerte: "Es war ein grundanständiges Spiel, das beide Mannschaften gewinnen wollten."

Aber es gab naturgemäß andere Meinungen. "Ich kann nicht glauben, dass sich Dänemark und Schweden so etwas vor den Augen der Welt erlauben dürfen. Andere müssen sich schämen, nicht wir. Das ist eine Schande", sagte "Gigi" Buffon. Ungeschlagen, aber schwer getroffen, fuhr Italien nach Hause. Immerhin "erhobenen Hauptes", wie Trainer Giovanni Trapattoni betonte, ehe er zurücktrat. Die Zeitung La Stampa stellte fest: "Die Wahrheit des Ausscheidens von Italien ist: In dieser Mannschaft steht kein einziger Champion." Zwei Jahre später wurden die meisten Versager von Guimares Weltmeister.

Derartige Wellenbäder waren die deutschen Fans in jenen Tagen auch gewöhnt. Nach der EM-Katastrophe 2000 war man Vize-Weltmeister geworden. Nach Portugal reiste die DFB-Elf zumindest in den Augen der Konkurrenz deshalb als Mit-Favorit, der Mythos der Turniermannschaft umgab sie auf Schritt und Tritt. Die Heimat war wie geschildert weniger optimistisch. Zumal im ersten Spiel die hoch gelobten Niederländer warteten. "Da geht es ja fast schon um alles", sagte Co-Trainer Michael Skibbe, der dem Kicker verriet: "Wir wollen die Holländer taktisch überraschen."

Nun, am Abend des 15. Juni überraschten die Deutschen die ganze Fachwelt. In einem ungeheuer engagierten Fight trotzten sie dem Nachbarn ein 1:1 ab, das im Grunde noch zu wenig war für diese Leistung. Doch nach der Führung durch einen Freistoß von Torsten Frings, der als Flanke getarnt war und unbehelligt von van der Sar an den Innenpfosten tropfte (31.), versäumte die Völler-Elf ein zweites Tor zu erzielen. Chance waren da, insbesondere für den 19 Jahre alten Joker Bastian Schweinsteiger. Schon in der Pause hatte Skibbe im ZDF gesagt: "Ja, wir spielen klasse und werden die Holländer schlagen."

Kommentator Johannes B. Kerner meldete erfreut in die Heimat: "Hallo Deutschland, merkt ihr was? Die Aufstellung stimmt und die Einstellung auch." Nur die Einwechslung, die Völler nach 78 Minuten tätigte, missglückte. Fabian Ernst von Meister Werder Bremen verlor an der Eckfahne seinen ersten Zweikampf und ließ eine Flanke zu, die niemals hätte geschlagen werden dürfen. Ernst sagte später dazu: "Ich kann mich nur entschuldigen, das geht auf meine Kappe." Vorne lauerte Manchester-Torjäger Ruud van Nistelrooy, der sich von Christian Wörns nicht abhalten ließ und den Ball volley ins deutsche Tor drehte.

Und doch überwog die Freude im deutschen Lager nach diesem Auftakt im vermeintlich schwersten Spiel. "Das war die beste deutsche Mannschaftsleistung seit dem WM-Finale 2002", behauptete Kerner. Die Bild-Zeitung titelte: "Europa, da sind wir wieder!" Gegen Völlers Riegel mit zwei Sechsern – Dietmar Hamann und Frank Baumann – vor der Viererkette und drei Offensiven – Bernd Schneider, Michael Ballack und Torsten Frings – vor der einzigen Spitze Kevin Kuranyi – würden sich noch manche die Zähne ausbeißen. Hofften alle.