Frauen-Nationalmannschaft

Torschützin Nüsken: Neue Vizekapitänin, noch mehr Verantwortung

09.07.2025
Sjoeke Nüsken (l.): "Ich habe zu Janni gesagt, ich nehme den jetzt und mach' ihn rein" Foto: Yuliia Perekopaiko/DFB

Wenn es stimmt, dass Sekunden zur Ewigkeit werden können, dann hatte Sjoeke Nüsken vor ihrem Elfmeter gegen Dänemark in der 55. Spielminute ziemlich viel Zeit. 180 Ewigkeiten. Sie stand da im St. Jakob-Park in Basel im zweiten EM-Gruppenspiel gegen Dänemark und wartete auf das finale Urteil. In der 52. Spielminute war Linda Dallmann von Katrine Veje im Strafraum der Däninnen zu Fall gebracht worden. Schiedsrichterin Catarina Campos ließ zunächst weiterspielen, doch der VAR schaltete sich ein und rief die Portugiesin zum Bildschirm. Und während die Schiedsrichterin sich die Szene aus allen Perspektiven wiederholt vor Augen führte, stand Nüsken am Punkt und übte sich darin, Zeit und Raum zu vergessen.

Zu den Weisheiten des Fußballs gehört, dass man vor einem Elfmeter - einem wichtigen zumal - möglichst wenig überlegen sollte. Ball hinlegen, schießen, fertig. Bevor der Kopf sich einschaltet und seinem Körper und seinen Nerven erklären kann, wie viel an diesem einen Schuss hängt und wie klein eine 7,32 Meter breite und 2,44 Meter hohe Fläche sein kann. Ausklammern, nicht nachdenken - das war die Aufgabe für Nüsken in diesen Augenblicken. Keine leichte Aufgabe, zumal für Nüsken, deren Kopf im Nachdenken im normalen Leben und auch sonst auf dem Fußballplatz ziemlich geübt ist.

Hält das Nervenkostüm?

Andererseits: Im So-darum-Umstehen und Nicht-Nachdenken vor einem Elfmeter verfügte sie über eine gewisse Erfahrung. Schon in der ersten Halbzeit hatte sie eine ähnliche Konstellation zu bewältigen. In der 40. Minute hatte die Dänin Frederikke Thøgersen eine Flanke von Klara Bühl mit der Hand geblockt. Schiedsrichterin Campos hatte zunächst auf den Punkt gewiesen - Elfmeter für Deutschland! Doch auch hier griff der VAR ein und entschied nach fünf Minuten: kein Elfmeter. Das Handspiel, so der VAR, hatte knapp vor dem Strafraum stattgefunden. Und Nüsken, die zur Ausführung bereitstand, musste nach 300 Ewigkeiten unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Nun also der zweite Versuch - unter komplexeren Versuchsbedingungen. Denn allmählich merkte man eine gewisse Unruhe im deutschen Spiel. Noch immer stand es 0:1, und die Zeit lief langsam schneller. Mit einem Sieg gegen Dänemark hätte Deutschland dem Viertelfinale ganz nah kommen können, eine Niederlage war nicht einkalkuliert. Nun also bot sich die Chance zum Ausgleich. Das hieß: Mit einem Schuss hatte Nüsken die Möglichkeit, die Nerven einer ganzen Mannschaft und einer ganzen Nation zu beruhigen.

Mussten nur ihre eigenen Nerven mitspielen. Nüskens Erfahrung im So-Darumstehen prallte in dieser Spielminute auf völlige Unerfahrenheit in einer anderen Disziplin: Strafstöße. Nüsken hat für Deutschland 47 Länderspiele absolviert, für Frankfurt 83 Spiele, 42 für den FC Chelsea - zu einem Elfmeter ist sie in all diesen Spielen noch nicht angetreten. Warum also jetzt? Warum in einem so wichtigen Augenblick? Weil sie es sich zutraute. Weil es ihr zugetraut wurde. Weil sie mehr Verantwortung wollte und weil sie mehr Verantwortung übernommen hat.

Wück ließ Elfer üben

Nach der Verletzung von Kapitänin Giulia Gwinn im ersten Gruppenspiel gegen Polen (2:0) musste sich die deutsche Frauen-Nationalmannschaft bei der UEFA Women's EURO in der Schweiz neu sortieren. Janina Minge wurde zur neuen Kapitänin ernannt, Sjoeke Nüsken zur Vizekapitänin. Sie sei bereit für mehr Verantwortung, hatte Nüsken gesagt - und nun war es an der Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen.

Im Training hatte Bundestrainer Christian Wück mehrfach Elfmeter üben lassen. Er hatte sich sogar notiert, wessen Quote am höchsten gewesen war – wobei er die Ergebnisse lieber für sich behielt und außerdem einräumte, keine Erklärung zu haben, warum er Elfmeterschießen hatte trainieren lassen. Eingebung? Denn eigentlich findet auch Wück, dass Elfmeter in Training und Spiel zwar mit denselben Schuhen geschossen werden, aber doch zwei Paar Schuhe sind. Weil sich Druck und Anspannung im Training eben nicht simulieren lassen.

Jonas Hector hat mal erzählt, was in seinem Kopf vorging, als er im Elfmeterschießen des Viertelfinals der EM 2016 gegen Italien unverhofft zum entscheidenden Strafstoß antreten musste. Auf dem Weg vom Mittelkreis zum Strafraum, so Hector, habe er 47-mal umentschieden, in welche Ecke er schießen wollte.

"Ich nehme den jetzt und mach' ihn rein"

Möglicherweise wählte Nüsken deswegen einen auffallend kurzen Anlauf, zwei Schritte, als endlich das Signal kam, dass der Kontakt mit Dallmann ein strafwürdiger war. Möglicherweise aber auch, weil sie nach der langen Wartezeit nun endlich jubeln wollte. Denn Zweifel hatte sie nicht. Als Schützinnen waren sie oder Janina Minge vorbestimmt - neue Kapitänin und neue Vizekapitänin. Als es dann soweit war, schnappte sich Nüsken den Ball. "Ich habe zu Janni gesagt: Ich nehme den jetzt und mach' ihn rein."

Anders als Hector wählte sie die linke Ecke. Anders als Hector traf sie den Ball perfekt. Aber genauso wie bei Hector landete der Ball im Tor. Nicht, weil er unter Gianluigi Buffons fallenden Körper hindurch über die Linie rauschte, sondern weil er optimal platziert und getimt - und deswegen für die dänische Torhüterin Maja Bay Østergaard schlicht nicht zu erreichen war.

Kategorien: Frauen-Nationalmannschaft, Europameisterschaft, Frauen-EURO 2025

Autor: sl