Julius Hirsch Preis

Zum 20-jährigen Jubiläum: Der große Preis

27.11.2025
2019 mit dem Julius Hirsch Preis ausgezeichnet: die "Toten Hosen" und der FC Ente Bagdad Foto: IMAGO

Die Geschichte des Julius Hirsch Preises, der heute zum 20. Mail vergeben wird, ist vor allem die seiner Preisträger*innen: Schüler*innen, Ultras, Jugendzentren, Filmschaffende, Theatergruppen, Vereinsmuseen, Sozialarbeiter*innen, Journalist*innen, Bildungsinitiativen, Profivereine, Historiker*innen, Fanprojektler und natürlich - als Herz des Fußballs - immer wieder Amateurvereine. Sie alle standen in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf der Bühne eines Preises, der jedes Jahr in einer anderen Stadt verliehen wird, um eine möglichst breite Strahlkraft zu entwickeln. Die Geschichte des Preises ist aber auch ein Stück Fußball-, deutscher und DFB-Geschichte, das zeigt, wie wertvoll und wichtig das Erinnern ist. Das gerade als ePaper erschienene neue DFB-Journal blickt zurück.

Als Campino und seine Bandkollegen der "Toten Hosen" am 18. November 2019 pünktlich mit fünf Minuten Verspätung ihre Plätze in der ersten Reihe einnehmen, brandet im ehrwürdigen Gesellschaftshaus des Frankfurter Palmengartens der erste Applaus des Abends auf. Das ist neu in der Geschichte des Preises, der vieles erlebt hat, aber eben noch keine Punkrocker und keinen Applaus vor Beginn der Veranstaltung. Die Toten Hosen sind an diesem Abend vor Ort, nicht um zu musizieren, sondern um einen fidelen Preis noch lebendiger werden zu lassen.

Ach ja, und um den Preis in Empfang zu nehmen, aber darum geht es Campino nicht in erster Linie; ihm und seinen Kollegen geht es vor allem darum, dem Preis und seinen Botschaften Flügel zu verleihen. "Ich muss mir nicht selbst dafür auf die Schultern klopfen, mich seit fast 40 Jahren gegen rechts einzusetzen", sagte Campino. "Wir wollen mit unserer Anwesenheit auch helfen, den Fokus auf diesen Preis zu richten. Denn wir finden es gut, dass der DFB es als seine Aufgabe sieht, klare Kante zu zeigen gegen Fremdenhass, Rassismus und Homophobie." Punkrock meets DFB - der Julius Hirsch Preis macht‘s möglich.

Der Namensgeber

Seit 20 Jahren verleiht der DFB den Julius Hirsch Preis. Campino und die Toten Hosen gehören zu den Preisträgern, die mit ihrer Prominenz dabei geholfen haben, dass sich der Preis in zwei Jahrzehnten gemausert hat zum sichtbarsten und wichtigsten Sozialprojekt des Verbandes. Oder, wie DFB-Präsident Bernd Neuendorf sagt, zum "wichtigsten Preis, den der DFB zu vergeben hat, um das gesellschaftliche Engagement im Fußball zu würdigen. Der Preis steht dafür, dass der DFB seine Schuld anerkennt und seine Verantwortung wahrnimmt."

1748 Bewerbungen sind in 20 Jahren beim DFB eingegangen, 60 Projekte und Initiativen wurden ausgezeichnet, zehn Ehrenpreise verliehen. Neben den Toten Hosen etwa an Giovanni di Lorenzo im Jahr 2009, an Thomas Hitzlsperger im Jahr 2011 und an Christian Streich im Jahr 2023. Der Julius Hirsch Preis steht für das Erinnern und gegen das Vergessen. In den Leitlinien des Preises ist dazu festgehalten: "Nie wieder! heißt das Zeichen, das der DFB mit der Stiftung des Julius Hirsch Preises setzt." Nie wieder soll möglich sein, was Julius Hirsch widerfahren ist. Verehrt als Fußballer, verfolgt und verhaftet von den Nazis, ermordet in Auschwitz. So wie insgesamt 1,1 Millionen Menschen, von denen 960.000 - wie Hirsch - Juden gewesen sind, von denen aber kein anderer zuvor Länderspiele für Deutschland absolviert und Tore für Deutschland geschossen hat.

In der langen DFB-Historie trägt neben Hirsch nur ein weiterer Jude das DFB-Trikot. Gottfried Fuchs, Hirschs kongenialer Sturmpartner, mit dem zusammen er für kurze Zeit ein Duo beim Karlsruher FV und in der Nationalmannschaft bildet. Während Hirsch in Auschwitz ermordet wird, gelingt Fuchs, dessen zehn Tore im Länderspiel gegen Russland bei den Olympischen Spielen 1912 bis heute DFB-Rekord bedeuten, die Emigration nach Kanada, wo er 1972 stirbt. 40 Jahre später - und 100 Jahre nach seinem spektakulären Torrekord - erlebt der Julius Hirsch Preis mit dem gemeinsamen Auftritt der Familien Hirsch und Fuchs und der Wiederbegegnung der Enkel Andreas und Mathias Hirsch mit Julian Heller und Eric Foch am 16. Oktober 2012 im Berliner "Bärensaal" einen seiner größten und emotionalsten Augenblicke. Für Wolfgang Niersbach, den damaligen DFB-Präsidenten, war es "ein historischer Moment."

Fußball als Spiegel der Gesellschaft

Dieser Moment und die Stiftung des Julius Hirsch Preises lassen sich zurückführen einerseits auf das Engagement Einzelner und andererseits auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die den DFB schließlich zum aktiven Umgang mit der eigenen Schuld veranlasste. Deutschland in den 90er-Jahren: In Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und anderswo werden Asylbewerberheime in Brand gesetzt. Deutsche Nazis töten, verletzen und machen Menschen Angst, die vor Verfolgung und Tod nach Deutschland gekommen sind, um hier in Einigkeit und Recht und Freiheit zu leben. Es ist kalt in Deutschland - und dunkel in diesen Tagen. Aber: Die Zivilgesellschaft steht auf, die Menschen wehren sich, die Mehrheit schweigt nicht. Bürger setzen sich mit Lichterketten gegen die Fremdenfeindlichkeit in ihrem Land zur Wehr, Bands spielen "Rock gegen Rechts", es gibt Solidarität und Hilfsaktionen im ganzen Land.

In dieser Zeit ist der Fußball - mal wieder - ein Spiegel der Gesellschaft, im Bösen wie im Guten. In so mancher Kurve marodieren Hooligangruppen, sie tragen Namen wie "Zyklon B" oder "Endsieg", sie tragen Bomberjacken und Springerstiefel und Hass. Doch in den und um die Stadien erwächst Widerstand. Fans und Vereine beginnen, sich gegen Gewalt, Rassismus und Diskriminierung in den Bundesligastadien einzusetzen. In der Bundesliga wird ein ganzer Spieltag unter dem Motto "friedlich miteinander" ausgetragen. "Mein Freund ist Ausländer" steht auf den Trikots aller Mannschaften, in den Stadien werden tausende Rote Karten gegen Gewalt und Rassismus verteilt.

Auch der DFB wird aktiv, auf vielen Ebenen. Die Nationalmannschaft tritt spontan zu einem Benefizspiel gegen eine Auswahl von ausländischen Bundesligaspielern an und spendet den Erlös für gemeinnützige Zwecke. Ein Idee, die fortan in Form von alle zwei Jahre ausgetragenen Benefizspielen der Nationalmannschaft verstetigt wird und rund 20 Jahre fortlebt. 2001 verabschiedet der Verband eine Neufassung seiner Satzung. Der DFB, so heißt es dort, "tritt rassistischen, verfassungs- und fremdenfeindlichen Bestrebungen und anderen diskriminierenden oder menschenverachtenden Verhaltensweisen entschieden entgegen." Im selben Jahr beauftragt der DFB die unabhängige historische Studie zur Aufarbeitung seiner Verbandsgeschichte zwischen 1933 und 1945 "Fußball unterm Hakenkreuz - Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz" von Dr. Nils Havemann.

Die Entstehung des Preises

Vier Jahre später, am 13. September 2005, wird die Studie veröffentlicht - dem Verband stellt sie auf 437 Seiten ein trauriges Zeugnis aus. Zusammengefasst in einem nüchternen, bedrückenden Satz: Der DFB, seine Vereine und die meisten Funktionäre und Aktiven ließen sich ab 1933 größtenteils bereitwillig für die menschenverachtenden Ziele der Nazis instrumentalisieren, aus Gleichgültigkeit, Opportunismus oder echter Überzeugung. Noch am selben Tag gibt der DFB auf seiner Homepage die Stiftung des Julius Hirsch Preises bekannt. 62 Jahre nach dem Tod des Namensgebers, wenige Stunden nachdem die Studie vorgestellt wurde.

"Als ich die Studie Anfang des Jahres gelesen hatte, war mir sofort klar, dass es damit nicht sein Bewenden haben kann", befand der damalige DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger. Gesetzt werden sollte ein sichtbares Zeichen, das in viele Richtungen wirkt. In den Leitlinien des Preises sind seine Ziele wie folgt formuliert: "Er leistet seinen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft, in der Demokratie, Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten unveräußerliche Werte sind. Ausgezeichnet werden Vereine, Initiativen und Personen, die sich als Aktive auf dem Fußballplatz, als Fans im Stadion, im Verein und in der Gesellschaft beispielhaft einsetzen für die Unverletzbarkeit der Würde des Menschen und gegen Antisemitismus und Rassismus, für Verständigung und gegen Ausgrenzung von Menschen, für die Vielfalt aller Menschen und gegen Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit."

Die Verknüpfung eines Preises mit dieser Zielsetzung mit dem Namen und der Person Julius Hirsch ist einerseits naheliegend und andererseits dem Engagement Einzelner zu verdanken. Allen voran Werner Skrentny. Der Journalist und Autor ist der Erste, der sich mit der Biografie von Julius Hirsch befasst. Anfang der 90er-Jahre begibt er sich auf die Spuren von Julius Hirsch, interviewt dessen Sohn Heinold, sichtet Dokumente und schreibt darüber. 1993 erscheint in einem Sammelband über die Oberliga Süd Skrentnys Aufsatz "Der Tod des "Juller" Hirsch", es ist ein erstes Erinnern, das mit Verzögerung Wucht entfaltet. Zum 100-jährigen Jubiläum des DFB im Jahr 2000 wird im Gasometer Oberhausen die Ausstellung "Der Ball ist rund" gezeigt, und dort viele der von Heinold Hirsch sorgfältig verwahrten Lebenszeugnisse seines Vaters.

123 Bewerbungen im Jubiläumsjahr

Daran erinnert sich Zwanziger, als es im Sommer 2005 darum ging, dem Preis gegen das Vergessen einen Namen zu geben. Er lädt die Nachkommen von Julius Hirsch ein, stellt das Profil und die Ziele des Preises vor, findet Gehör und schließlich die bis heute gültige Zustimmung, gemeinsam mit der Familie Hirsch einen Preis in Erinnerung an ihren ermordeten Vorfahren verleihen zu dürfen. Der Ehrenplatz in der Jury, den viele Jahre Enkel Andreas Hirsch innehatte, wird heute von Urenkelin Julia eingenommen.

Die Preisträger der Jahre 2005 und 2006 werden vom DFB-Präsidium auf Vorschlag der Jury des Julius Hirsch Preises ausgezeichnet, seit 2007 wird der Preis öffentlich ausgeschrieben. Als am 30. Juni 2007 die Ausschreibungsfrist endet, liegen 37 Bewerbungen vor. Eine stolze Zahl, die sich über Jahre kontinuierlich steigern soll und zum zehnjährigen Jubiläum im Jahr 2015 dank des starken zivilgesellschaftlichen Engagements für Geflüchtete mit 200 Bewerbungen einen Höhepunkt erreichen wird. Im Jahr des 20. Jubiläums gehen 123 Bewerbungen ein. Jede einzelne von ihnen ein klares Bekenntnis der verschiedenen Akteure und Gruppen im und um den Fußball, das in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten seit der Stiftung des Preises in seiner Breite und Tiefe nicht nachgelassen hat.

Kategorien: Julius Hirsch Preis, DER DFB

Autor: sl/ot