DFB-All-Stars

Ein Hattrick und zwei beste Länderspiele

01.10.2025
Kirstens "bestes Länderspiel" im DFB-Dress: Drei Tore gegen Albanien nach Einwechslung 1997 Foto: picture-alliance/dpa

Die Länderspiel-Karriere von Ulf Kirsten verdient das Prädikat "außergewöhnlich". Zum einen gehört der Sachse zum elitären "Klub der Hunderter", dazu hat er seine genau 100 Länderspiele auch noch für zwei Landesverbände bestritten. So gab er sein Debüt gleich zweimal und hat für sich auch unter der Rubrik "Mein bestes Länderspiel" gleich zwei Auftritte abgespeichert.

Auf die Frage nach dem für ihn schönsten und emotionalsten Länderspiel im Trikot des DFV der DDR reagiert der inzwischen 59-jährige so blitzschnell wie einst im Strafraum: "Gegen Frankreich!" und liefert die Begründung gleich mit dazu: "Weil den Sieg niemand erwartet hatte!" Und im DFB-Trikot? Auch hier fackelt Ulf Kirsten nicht lange: "Albanien würde ich sagen, schließlich schafft man einen Hattrick nicht alle Tage!"

Gegen den Europameister

Der Reihe nach: Das Leipziger Zentralstadion erlebt an diesem 11. September 1985 einen denkwürdigen Abend. Offiziell 78.000 Zuschauer, in Wirklichkeit sind es einige mehr, wollen in erster Linie den Europameister Frankreich sehen. Die Aufregung beim 19-jährigen Dresdner ist groß, nie zuvor hat er vor so einer Kulisse gespielt. Und überhaupt, was war seit dem Frühjahr nicht alles passiert! Das erste Länderspiel, im Mai 1985 in Dänemark, kommt für ihn ziemlich überraschend. Erst in der Winterpause zuvor hatte er bei Dynamo Dresden den Sprung zum Stammspieler geschafft. Zwar trainierte er bei der Oberliga-Mannschaft mit, spielte aber eher in der "Zweiten". Plötzlich erreicht ihn die Einladung zur Nationalmannschaft - und er ist voller Stolz: "Logisch! Ich hatte in der 1. Klasse als Berufswunsch 'Fußballer oder Indianer' angeben und wurde damals belehrt, dass beides nicht gehen würde und kompletter Blödsinn wäre."

Wenige Tage nach seiner Auswahlpremiere in Kopenhagen erlebt der junge Kirsten in Babelsberg hautnah, wie Dresdens Fußball-Ikone Dixie Dörner für sein 100. Länderspiel geehrt wird und fragt sich: "Wie kann man so etwas schaffen?" Der junge Rechtsaußen von Dynamo gilt auch in der Auswahl als unerschrockener Draufgänger und nimmermüder Kämpfer. Einer, der bis zum Schluss wirklich alles gibt. "Ich konnte ja nur so", lacht Ulf und erklärt: "Ich war jetzt nicht das Supertalent. Als ich 1979 auf die Sportschule von Riesa nach Dresden kam, konnte ich keine 20mal jonglieren!"

Im August 1985 schießt er die DDR in Norwegen zum Sieg, sein erstes Länderspieltor. Nun also Leipzig, sein viertes Länderspiel. Bernd Stange hat wieder eine blutjunge Mannschaft nominiert. Neben Ulf stehen mit Andreas Thom und Jörg Stübner zwei Gleichaltrige, die er seit Sportschulzeiten kennt. Die "jungen Wilden" genießen das Vertrauen des Trainers. Doch das Publikum ist skeptisch, im DDR-Fußball wurde zu oft zu viel experimentiert. Beim Verlesen der Aufstellung gibt es Pfiffe gegen Rainer Ernst, den Torschützenkönig der abgelaufenen Saison vom allseits ungeliebten DDR-Meister BFC Dynamo.

40-Meter-Solo

90 Minuten später badet das Team der DDR in den Ovationen der Fans und feiert mit dem Schlusspfiff freudetrunken den Sensationserfolg über die Equipe Tricolore. Keiner will nach Hause gehen und auch in der Kabine wird angestimmt: "So ein Tag, so wunderschön wie heute!" Jörg Stübner hat EM-Superstar Michel Platini zum Statisten degradiert und soll mit diesem Spiel zum "Popstar des DDR-Fußballs" werden. Auch Ulf Kirsten bereitet seinem Gegenspieler William Ayache einen unangenehmen Abend. "Ertrug Körperattacken und teilte selbst schonungslos aus, lief pausenlos, hinten und vorn zu finden", lobt ihn die Kritik und die Franzosen staunen. In erster Linie über das hohe Pressing und das Tempo der DDR-Mannschaft. "Das frühe Stören hieß bei uns damals Forechecking, hat aber auch schon gut funktioniert", schmunzelt der heute 59-jährige Kirsten.

Zum Stimmungsumschwung war es an diesem Septemberabend gekommen, als Rainer Ernst die DDR in Führung köpft und gleich danach zu einem 40-Meter-Solo gegen vier Franzosen ansetzt. Entschieden wird das Spiel durch das 2:0 von Ronald Kreer. Keeper René Müller hält bis zum Schluss überragend und so erlebt der DDR-Fußball einen echten Feiertag. Ulf Kirsten hat den Fortgang der Dinge nur noch vage in Erinnerung, schließlich sind seitdem ziemlich genau 40 Jahre vergangen: "Wir waren alle unterwegs, mussten die Zeit aber gut nutzen. Schließlich standen wir am Nachmittag des nächsten Tages schon wieder auf dem Trainingsplatz in Dresden!"

Da sind wir schon bei den gravierenden Unterschieden seiner langen und glanzvollen Karriere. "Wir haben in der DDR sicher mehr trainiert als in Leverkusen. Einen freien Tag kannten wir bei Dynamo doch gar nicht", ordnet Kirsten ein.

Im Land des Weltmeisters

Im Herbst 1989 beginnt eine Zeit, in der sich gewaltige Veränderungen in rasender Geschwindigkeit vollziehen und plötzlich Dinge möglich sind, die Wochen zuvor noch undenkbar schienen. Wie das Tragen des DFB-Trikots? "Das war damals für mich utopisch - normal hätte ich in meiner Karriere ausschließlich für Dresden gespielt und zu DDR-Zeiten gab es aber auch keinen wirklichen Grund, Dynamo zu verlassen. Das muss man auch mal sagen."

Kirsten und Co. kommen 1990 ins Land des Weltmeisters und müssen sich in der Nationalmannschaft zunächst mit einem für sie ungewohnten Platz auf der Bank begnügen. Im Dezember 1990 wird der Neuzugang von Bayer Leverkusen wie auch Matthias Sammer, Andreas Thom, Thomas Doll und Perry Bräutigam zum Wiedervereinigungs-Länderspiel gegen die Schweiz eingeladen. "In Stuttgart habe ich aber nicht gespielt, deshalb habe ich auch so gut wie keine Erinnerungen mehr an dieses Spiel", bekennt Ulf Kirsten. "Eine Umstellung war der größere Konkurrenzkampf innerhalb der eigenen Mannschaft, das kannte man in der Form nicht in der DDR. Das fußballerische Niveau war im Westen etwas höher."

So muss er auf das richtige Feeling als DFB-Nationalspieler noch ein wenig warten. Erst am 14. Oktober 1992 ist es gegen Mexiko so weit, ausgerechnet in Dresden! "Das war das Abschiedsspiel für Rudi Völler! Ich hatte mir im Frühjahr den Schienbeinknopf gebrochen und konnte erst im September wieder in der Bundesliga spielen. In Dresden bin ich dann gegen Mexiko für Rudi eingewechselt worden." Es ist bereits sein 50. Länderspiel, aber das erste für Deutschland.

Wie Gerd Müller

Eingewechselt wird Ulf Kirsten auch am 2. April 1997, da weiß er noch nicht, dass er sein bestes Spiel im DFB-Trikot bestreiten wird. Auf der spartanischen Pressetribüne in Grenada rufen sich die älteren Journalisten nach der ersten Halbzeit zu: "Weißt du noch, damals 1967, die Schmach von Tirana?" Die EM-Endrunde 1968 fand damals nach dem überraschenden 0:0 gegen tapfere Albaner ohne das DFB-Team statt. Um die drohende Blamage in der aktuellen WM-Qualifikation gegen den „Fußball-Zwerg“ abzuwenden, bleibt dem Europameister von 1996 noch eine halbe Stunde. Doch da gerät das Team von Berti Vogts gegen Albanien sogar in Rückstand. Zwar ahnt Andreas Köpke beim Strafstoß die richtige Ecke, hat aber Pech - 0:1. Mit dem Elfmeterpfiff bekam Ulf Kirsten das Signal, auf das er längst gewartet hat und steht nun schon an der Linie bereit. Knapp 62 Minuten sind gespielt. Keine 60 Sekunden später wird der eingewechselte Stürmer schon gefeiert. Im Fünfmeterraum reagiert er nach einem Eckball am schnellsten - der Ausgleich zum 1:1.

In der 80. Minute ist Ulf Kirsten erneut zur Stelle. Eine Flanke wird lang und länger und wie einst Gerd Müller bugsiert er die Kugel über die Linie und ballt danach die Fäuste. "Das war mein Vorbild, ich hatte gleich zwei, in der Oberliga war es Peter Kotte, logisch von Dynamo Dresden, und in der Bundesliga Gerd Müller. Ihnen wollte ich nacheifern", weiß Ulf noch ganz genau. Anders als später in Dresden, konnte er daheim in Riesa Westfernsehen und damit die Sportschau empfangen. Gegen Albanien ballt der Strafraumstürmer wenig später noch einmal die Fäuste. In der 83. Minute ist der lupenreine Hattrick perfekt. Wieder segelt eine Flanke in die gefährliche Zone, Jürgen Klinsmann trifft nur die Querlatte, den zurückspringenden Ball verwertet der "Edel-Joker" ohne Mühe. "Bei Bayer Leverkusen wurde ich unter Christoph Daum mit Flanken gefüttert, nur so kannst du ja auch eine massive Abwehr knacken."

Übrigens, drei Tore waren Ulf Kirsten in einem Länderspiel schon einmal gelungen, im April 1990 gegen die USA mit der DDR in Berlin. Damals pfiff mit Wolf-Günter Wiesel ein West-Schiedsrichter im Osten, Neuland im Vereinigungsprozess. Mit seinem Dreierpack gegen Albanien und insgesamt fünf Toren in der Qualifikation hat der Top-Torjäger maßgeblichen Anteil, dass Deutschland zur WM 98 nach Frankreich fahren kann. Auch wenn er später seine volle Klasse nicht im WM-Team zeigen konnte, war dieser zweite Hattrick gegen Albanien ein herausragender Moment in der Länderspielkarriere von Ulf Kirsten.

Kategorien: DFB-All-Stars

Autor: uk