DFB-All-Stars
Buchwald: "Es gab kein Nachlassen, kein Runterschalten"

Der Spitzname "Diego" wurde Guido Buchwald beim Training während der WM 1990 von Klaus Augenthaler verpasst. Weil, so Augenthaler, Buchwald beim 5:2 so virtuos mit dem Ball umging, wie der Argentinier. In Italien gewann Buchwald noch einen weiteren Titel: Er wurde Weltmeister. Und: er machte sein bestes Länderspiel. Gegen wen das war, verrät er im Interview im Rahmen der Serie "Mein bestes Länderspiel."
DFB.de: Herr Buchwald, wir wollen mit Ihnen über Ihr bestes Länderspiel reden. Sie haben 76 Mal für Deutschland gespielt. Welche Spiele kommen Ihnen in den Sinn, wenn es darum geht, sich dem besten Spiel zu nähern?
Guido Buchwald: Ich finde die Einordnung schwierig, die Frage, was das Beste war. Natürlich bleiben die großen und wichtigen Spiele, die K.o.-Spiele, mehr im Kopf als beispielsweise Freundschaftsspiele. Aber es kann genauso auch sein, dass einem in einem Freundschaftsspiel alles gelungen ist. Wenn es aber um die Bedeutung geht und um die Qualität der Gegner, dann macht man bei mir keinen Fehler, wenn man es auf die WM 1990 und das Achtelfinale sowie das Finale eingrenzt.
DFB.de: Im Achtelfinale ging es gegen die Niederlande, im Finale gegen Argentinien. Für Sie hatten diese beiden Spiele komplett unterschiedliche Anforderungsprofile. Welche Aufgaben, welche Rolle hatte Ihnen Teamchef Franz Beckenbauer jeweils ins Buch geschrieben?
Buchwald: Beim Endspiel war mein Auftrag eindeutig: die Bewachung von Diego Maradona. Er war damals der beste Spieler der Welt und der wichtigste Spieler der Argentinier. Mein Fokus war stark darauf ausgerichtet, ihn auszuschalten. Es war klar, dass das Spiel der Argentinier von ihm abhängt, und insofern war klar, dass wir ihn am Spiel hindern müssen. Das war meine Aufgabe. Das Spiel gegen die Niederlande hatte ganz andere Vorzeichen - für uns als Mannschaft und auch für mich. Die Niederlande war zwei Jahre zuvor Europameister geworden, auch bei der WM gehörten sie zu den großen Favoriten. Sie hatten mehrere prägende Figuren, ihr Spiel war nicht auf einen Spieler ausgerichtet. Für mich war es ein "normales" Spiel, in dem es darum ging, auf der Sechser-Position unseren offensiven Mittelfeldspielern den Rücken freizuhalten. Ich hatte es viel mit Aron Winter zu tun, auch mit Ruud Gullit. Aber wenn man die Bedeutung und den Rahmen abzieht, war es ein typisches Spiel auf der Position vor der Abwehr.
DFB.de: Lässt sich sagen, dass für Sie die Vorbereitung auf das Finale einfacher war? Weil es nur gegen einen Spieler ging.
Buchwald: Vielleicht ja. Die Aufgabe auf der Sechs gehört zu den anspruchsvollsten überhaupt. Man muss seine Position halten, hat es gegen den Ball mit verschiedenen Gegenspielern zu tun, ist für die Statik des gesamten Spiels zuständig. Man ist auch im Kopf sehr viel gefordert. Die Aufgabe als Bewacher eines einzelnen Spielers ist nicht unbedingt leichter - erst recht nicht, wenn es gegen Maradona geht -, aber ja, die Aufgabenbeschreibung und damit auch die Spielvorbereitung ist es.
DFB.de: Sie haben es gesagt: Die Niederlande waren damals amtierender Europameister. Aber: Bei der WM taten sie sich schwer. Ins Achtelfinale kamen sie nach drei Remis in der Vorrunde nur per Losentscheid. Wissen Sie noch, wie die Reaktion im deutschen Lager war, als die Niederlande als Gegner des Achtelfinals feststanden?
Buchwald: Es war zumindest nicht unser Turnierplan, Erster der Gruppe zu werden und zur "Belohnung" auf den Europameister zu treffen. Wir gingen davon aus, dass die Niederlande ihre Gruppe gewinnen würde. Wir waren nicht schockiert, aber das kann ich zugeben: gejubelt haben wir nicht. Das Spiel hatte viele Zutaten. In Mailand mit unserem Inter-Trio Matthäus, Brehme, Klinsmann gegen Gullit, van Basten und Rijkaard vom AC Mailand. Es war ein Duell unter Nachbarn, wir hatten etwas gutzumachen wegen der Niederlage zwei Jahre zuvor bei der EURO 88. Schon in der Qualifikation hatten wir gegen sie gespielt. Es gab viele Geschichten. Und für uns waren die Niederländer unverändert einer der Turnierfavoriten, auch wenn sie sich in der Vorrunde schwertaten. Vor dem Spiel haben wir nicht selten die Formulierung gehört, es sei ein vorweggenommenes Finale. Und ein wenig hat es sich auch so angefühlt. Aber uns war klar, dass man, wenn man Weltmeister werden will, jeden Gegner schlagen muss. Wir haben es dann genommen, wie es kam, und nicht mit dem Los gehadert. "Dann schlagen wir sie halt" - so würde ich unsere Gemütslage zusammenfassen.
DFB.de: Das Spiel hatte viele Geschichten, im Spiel kamen viele neue hinzu. Die größte: die Spuckattacken von Frank Rijkaard gegen Rudi Völler und die Skandalentscheidung des Schiedsrichters, beide Spieler vom Platz zu stellen. Nach 21 Minuten hieß es zehn gegen zehn. Kam Ihnen persönlich das entgegen? Sie haben sich immer als Fußball-Arbeiter beschrieben - und nun waren Arbeiter gefragt.
Buchwald: Vor allem waren laufstarke Spieler gefragt. Nicht meinetwegen, aber: Ich bin der Überzeugung, dass die Konstellation zehn gegen zehn für uns ein Vorteil war.
DFB.de: Inwiefern?
Buchwald: Vor allem mit Blick auf die Positionierung. Bei uns musste Rudi Völler vom Platz - ein Stürmer. Damit können Mannschaften leichter umgehen, weil sich Statik und Organisation kaum verändern, die Grundstruktur der Mannschaft bleibt gleich. Bei den Niederlanden war mit Rijkaard nun einer nicht mehr dabei, der eine sehr zentrale Rolle gespielt hat, vor allem im Spiel gegen den Ball. Für uns ging es im Wesentlichen um mehr Laufarbeit mit dem Ball, um Jürgen Klinsmann in der Offensive zu unterstützen, um eine bessere Boxbesetzung zu haben. Die Änderungen bei den Niederländern waren struktureller und damit gravierender.
DFB.de: Die Rote Karte gegen Rudi Völler war ein Skandal, und alle wussten das. Bestand die Gefahr, dass die Mannschaft angesichts dieser Ungerechtigkeit überdreht?
Buchwald: Für uns war das eine Zusatzmotivation. Wir wollten verhindern, dass eine solche Unsportlichkeit am Ende nicht auch noch belohnt wird. Wir hatten bis dahin ein starkes Turnier gespielt, wir waren sehr gefestigt und haben alle gewusst, was wir nun zu tun haben. Uns ging es auch um den Rudi, der sich so oft für die Mannschaft zerrissen hatte. Nun wollten wir alle ihm etwas zurückgeben.
DFB.de: Der Grat zwischen Zusatzmotivation und Übermotivation ist schmal.
Buchwald: Ja. Aber wir waren alle erfahren genug, damit umzugehen. Fast alle waren Führungsspieler bei ihren Vereinen, es war für viele nicht das erste große Turnier. Bei einer blutjungen Mannschaft hätte eine Gefahr bestanden, mit unserer Erfahrung konnten wir das gut balancieren.
DFB.de: Gegen die Niederlande hatten Sie viele Aktionen in der Offensive, haben viel initiiert. Lothar Matthäus hat nach dem Spiel gesagt, dass Sie für das Einschalten in die Offensive Selbstbewusstsein benötigen. Hat er recht?
Buchwald: Durch die ersten Spiele bei der WM habe ich Selbstbewusstsein gewonnen. Wenn man sich gut fühlt, sicher, dann macht man auch mehr in der Offensive. Jede Position hat ihr Anforderungsprofil, das, was als Hauptaufgabe gefordert ist. Und wenn man sich darin sehr sicher ist, dann hat man schneller den Impuls, seine Fähigkeiten in anderen Bereichen einzusetzen. So war das bei mir.
DFB.de: Das 1:0 von Jürgen Klinsmann in der 51. Spielminute haben Sie mit einer Flanke nach einem doppelten Übersteiger vorbereitet. Wieviel Selbstbewusstsein steckte in dieser Aktion?
Buchwald: Man macht das intuitiv. Ich habe in dieser Szene ein wenig verzögert, weil ich gesehen habe, dass Jürgen noch etwas weiter weg ist. Für mich ging es darum, mir den notwendigen Raum zu verschaffen, um den Ball nach innen geben zu können.
DFB.de: War der Übersteiger dafür notwendig?
Buchwald: Eine Finte musste ich machen. Ich habe bei Aron Winter eine Reaktion auf die Innenbahn provozieren wollen, das ist mir gelungen. Es ist ja nur dieser eine Tick, der erforderlich ist, eine kleine Gewichtsverlagerung bei ihm, um dann außen vorbeigehen und die Flanke schlagen zu können.
DFB.de: Beim Tor ist nicht nur Ihre Vorarbeit herausragend, auch die Vollendung von Jürgen Klinsmann.
Buchwald: Absolut. Er ist in vollem Tempo auf den ersten Pfosten gelaufen. Wobei ich den Ball nicht blind geschlagen habe, sondern wusste, wohin Jürgen den Ball benötigt. Er macht es dann stark, kommt einen Bruchteil vor van Aerle und van Breukelen an den Ball und bugsiert ihn über die Linie. Es war ein Stürmertor, aber ein Stürmertor, das nicht jeder Stürmer erzielen kann.
DFB.de: War es besonders schön, dass Sie den Ball für Ihren besten Freund und Zimmerkollegen Klinsmann aufgelegt haben?
Buchwald: Auf dem Platz ist das unwichtig. Da geht es um den Erfolg des Teams und nicht um Sympathien. In der Rückschau ist es doppelt schön, wenn es der beste Freund in der Mannschaft war, aber damals im San Siro hat das gar keine Rolle gespielt.
DFB.de: Entschieden war das Spiel in der 85. Minute mit dem 2:0 durch den Kunstschuss von Andy Brehme. Wieder war der Vorbereiter: Guido Buchwald. Der Treffer aus Ihrer Sicht?
Buchwald: Es war nach einer Ecke von der rechten Seite. Ich war mit Ronald Koeman im Kopfballduell, wir kamen beide nicht richtig an den Ball. Ich habe dann aber nachgesetzt, schneller als er reagiert und mir den Ball geholt. Das war schwieriger als die Vorlage an sich, bei der ich den Ball ja nur ein paar Meter auf Andy zurückgespielt habe.
DFB.de: 1:0 Klinsmann, 2:0 Brehme. Aber: Als Fernsehexperte hat Karl-Heinz Rummenigge folgende Wertung getroffen: "Buchwald hat das Spiel fast im Alleingang gewonnen."
Buchwald: Den ganz großen Fachleuten sollte man nie widersprechen. (lacht) Nein, natürlich stimmt das nicht. Gewonnen haben wir alle, es ist nie so, dass ein Spieler ein Spiel alleine gewinnt. Dafür ist dieser Sport ja ein Teamsport. Ich war an beiden Toren beteiligt, darauf bin ich stolz. Aber ich würde mir nie anmaßen, diesen Erfolg nur an mir festzumachen.
DFB.de: Sie haben das Achtelfinale der WM 1990 mal verglichen mit dem Halbfinale der WM 2014, dem 7:1 gegen Brasilien. Einfach, weil es ein Ausnahmespiel war.
Buchwald: Nicht den Spielverlauf, aber ich bin der Meinung, dass sich beide Mannschaften vergleichen lassen. Vom Charakter her, von den Fähigkeiten her, vor allem aber von den Persönlichkeiten her. Weil alle Spieler nicht zuerst sich, sondern das Team gesehen haben. Und das ist die Basis des Erfolges. Und das zeigte sich dann eben nach den großen Spielen. Bei uns war es so, dass der Fokus nach dem Spiel gegen die Niederlande sofort auf das nächste Spiel gerichtet war. Man freut sich kurz, aber dann geht es schon weiter, weil ein noch viel größeres Ziel anvisiert wird. So soll es 2014 auch gewesen sein. Wir waren noch nicht fertig, wir wollten mehr. Von unserem Spiel gegen die Niederlande und sogar vom 7:1 gegen Brasilien würde heute kaum einer sprechen, wenn die Teams danach nicht den Titel geholt hätten.
DFB.de: Über die Tschechoslowakei im Viertelfinale und England im Halbfinale ging es ins Endspiel. Im anderen Halbfinale standen Italien und Argentinien. Waren Sie froh, dass Sie im Finale in Rom nicht gegen Italien spielen mussten?
Buchwald: Es ging gegen Argentinien, den Titelverteidiger, gegen Maradona. Aber Sie haben recht, was die Zuschauer und die Atmosphäre betrifft, wäre Italien die größere Herausforderung gewesen. So spielten wir gegen die Mannschaft, die Italien aus dem Turnier geworfen hatte. Es war damit absehbar, dass die italienischen Fans eher für uns halten würden. Für uns hat sich das Spiel mehr oder weniger wie ein Heimspiel angefühlt.
DFB.de: Stand mit dem Gegner Argentinien für Sie auch sofort fest, dass es heißen würde: gegen Maradona?
Buchwald: Das lag sehr nahe und wurde mir am nächsten Tag von Franz Beckenbauer beim Training auch so gesagt, ja.
DFB.de: Die Frage, ob Sie Angst davor hatten, gegen ihn zu spielen, haben Sie mal verneint und gesagt, Sie hätten sich auf dieses Duell gefreut. Weil es doch eine riesige Chance ist, sich gegen den Weltbesten beweisen zu können.
Buchwald: Stimmt, ja.
DFB.de: Vor dem Spiel gegen die Niederlande hatten Sie sich noch einen leichteren Gegner gewünscht. Warum war es nun anders?
Buchwald: Das ist schwer zu beschreiben. Natürlich ging es nun darum, auch noch den letzten Schritt zu setzen. Aber wir hatten schon viel erreicht, das Endspiel, Rom. Ein Achtelfinal-Aus wäre eine große Enttäuschung gewesen, eine Niederlage im Finale auch, aber anders. Für mich, für uns stand nun im Fokus, dass wir etwas Großes gewinnen können. Mich hat das angespornt und beflügelt: Die ganze Welt schaut zu, man spielt das größte Spiel des Fußballs, darf sich zeigen und beweisen. Ich habe mich über das gefreut, was wir schon erreicht hatten und darauf, was wir noch erreichen können.
DFB.de: Sie haben auch andere große Spiele gespielt, Endspiele. Können Sie beschreiben, wie viel anders sich ein WM-Finale nochmal anfühlt?
Buchwald: Die Dimensionen lassen sich nicht vergleichen, es ist viel, viel größer. Man ist Vertreter seines Landes, nicht seines Vereins. Wie gesagt: Die ganze Welt schaut zu. Man ist Repräsentant, irgendwie auch des Fußballs. Alles spitzt sich zu, alles andere erscheint auf einmal unwichtig.
DFB.de: Das Duell gegen Maradona war für Sie, auch für ihn, ein Déjà-vu. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit dem VfB Stuttgart das Finale des UEFA-Pokals gegen den SSC Neapel bestritten. Inwieweit haben Sie aus den Erkenntnissen aus diesen Spielen profitieren können?
Buchwald: Ich habe nur ein Spiel gespielt, das Hinspiel, das wir in Neapel 2:1 verloren haben. Wobei die Zuteilung damals anders war. Ich habe mich in Neapel nicht ausschließlich um ihn gekümmert. Im Rückspiel war ich gesperrt, wegen einer skandalösen Gelben Karte, bei der im Nachhinein erwiesen war, dass der Schiedsrichter bestochen war.
DFB.de: Vor dem Finale in Rom soll er zu Ihnen gesagt haben: "You again", "Du schon wieder". Worauf hat sich das bezogen?
Buchwald: Während des Spiels hat er das gesagt. Nach einer Grätsche, als wir beide auf dem Boden lagen. Er hat mich angeschaut und dann diese Worte gefunden.
DFB.de: Für Sie fing das Spiel an mit einem Ballgewinn im Mittelfeld. Sie haben einen Pass von Maradona geblockt und damit einen Konter über Häßler eingeleitet. Wie wichtig war es, gut ins Spiel zu kommen?
Buchwald: Mit jeder guten Aktion, mit jedem gewonnenen Zweikampf findet man besser ins Spiel, schwindet die Anspannung und steigt das Selbstbewusstsein. Mir ging es ja darum, ihn auszuschalten, ihn müde zu machen und ihm den Spaß am Fußball zu nehmen. Er sollte merken, dass er machen kann, was er will - da ist schon jemand. Und es war gut, ihm das gleich zu zeigen.
DFB.de: Nicht nur Sie - eigentlich war die gesamte deutsche Mannschaft sofort präsent. Immer einen Schritt schneller, aggressiver, eher am Ball. Gab es einen Zeitpunkt im Spiel, an dem Sie gemerkt haben: Ich habe ihn im Griff? Und die Mannschaft: wir haben die Argentinier im Griff?
Buchwald: Das hat man gespürt, ja. Ich habe das gespürt, wir haben das gespürt. Aber es gab keinen Moment des Durchpustens oder des Nachlassens der Anspannung. Ich wusste, dass man ihn nicht eine Sekunde unbewacht lassen kann. Er konnte ganze Spiele in einer Aktion entscheiden und zuvor 85 Minuten unsichtbar sein. Oft genug hat er aus wenig oder im Grunde aus nichts ein Tor gemacht oder einen Treffer vorbereitet. Und solange es 0:0 stand, hatte ich immer den Gedanken, dass ich ihn nie in eine gefährliche Situation kommen lassen darf. Daher: Es gab kein Nachlassen, kein Runterschalten. Auch nach dem 1:0 war mir noch klar, dass ich keine Nuance in meiner Konzentration nachgeben darf.
DFB.de: Es gibt viele Szenen von Ihnen, die im Fernsehbild zu sehen sind: gewonnene Zweikämpfe, Grätschen, Balleroberungen. Sind Ihre besten Aktionen aber vielleicht solche, die man im Video gar nicht sieht - weil Sie einen Passweg zugestellt haben, richtig antizipiert haben?
Buchwald: Vielleicht, ja. Letztlich war das der Plan, den ich mir für dieses Spiel und gegen ihn zurechtgelegt hatte. Wenn er den Ball nicht hat, kann er mit dem Ball nichts anstellen. Für mich ging es also darum, ihn möglichst wenig an den Ball kommen zu lassen oder wenn, dann in Räumen des Spielfeldes, in denen ich im Vorteil bin. Ich habe also versucht, ihn dorthin zu schieben, zu steuern, wo ich es möchte: an die Außenlinie, mit dem Rücken zu mir. Wenn wir es zugelassen hätten, dass er in der Spielfeldmitte mit dem Ball am Fuß und mit Tempo auf mich zugelaufen wäre, dann wäre es sehr schwer geworden.
DFB.de: In Erscheinung getreten ist Maradona erst kurz vor Ende der ersten Halbzeit bei einem Freistoß, den Sie mit einem Foul an Basualdo kurz vor dem Strafraum verursacht haben.
Buchwald: Das war eine Situation, in der der Puls schon hochgeht. Er war ja auch ein genialer Freistoßschütze. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er den Ball aber nicht aufs Tor gebracht. Ich meine, der Ball ging deutlich drüber. Irgendwie passend zu dem Spiel - aus seiner Sicht.
DFB.de: Deutschland hat das Spiel fast nach Belieben dominiert. Trotzdem stand es nach 45 Minuten nur 0:0. Wie war die Stimmung in der Pause? Was hat Franz Beckenbauer gesagt?
Buchwald: Wir hätten am liebsten durchgespielt, wir hatten das Gefühl: Wir sind dran. Franz hat das dann auch angesprochen und uns gesagt, dass wir ruhig und geduldig bleiben sollen. Dass wir die Besseren sind, dass wir den Druck weiter hochhalten sollen und dafür irgendwann belohnt werden. Vor Leichtsinn hat er uns gewarnt, er hat gesagt, dass wir einfach weitermachen müssen.
DFB.de: In der zweiten Halbzeit haben Sie sich zunehmend auch in die Offensive eingeschaltet. Wie war die Absprache: Wer sollte Maradona übernehmen, wenn Sie sich von ihm gelöst haben?
Buchwald: Es gab keine direkte Zuordnung, wir haben das spielsituativ gelöst. Es war allen klar, dass Maradona immer beschattet werden muss. Letztlich war es dann so, dass immer derjenige ihn zugestellt hat, der ihm am nächsten war.
DFB.de: Sie sind ohne Gelbe Karte geblieben. Gehörte auch das zu Ihrem Matchplan?
Buchwald: Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht. Ich war in meiner ganzen Karriere niemand, der viele Gelbe Karten bekommen hat. Mir ging es immer darum, den Ball mit fairen Mitteln zu gewinnen. Natürlich kommt es vor, dass man mal ein bisschen zu spät kommt. Bei mir kam es aber zum Glück nicht so häufig vor. Der englische Trainer John Toshack hat für die FIFA mal eine Analyse durchgeführt, in der er ermittelt hat, dass ich von allen Defensivspielern meiner Zeit am wenigsten Fouls begangen habe. Das Timing und die Antizipation gehörten immer zu meinen Stärken. Ich hatte ein gutes Gespür dafür, was in einem Spiel die nächste Aktion sein würde. Darauf konnte ich dann immer schnell reagieren und damit auch ausgleichen, dass es antrittsschnellere Spieler als mich gab. Daher: Ich bin nie in ein Spiel gegangen mit dem Vorsatz, vorsichtiger zu sein, um keine Karte zu kassieren. Für mich - und gerade gegen Maradona - wäre das auch der falsche Weg gewesen. Mit 80 Prozent kann man gegen ihn nicht verteidigen.
DFB.de: Bei der Jubeltraube nach dem 1:0 durch den Elfmeter von Andy Brehme lagen Sie ganz oben. Von dort haben Sie etwas in das Menschknäuel unter sich gerufen. Wissen Sie noch, was das war?
Buchwald: Ich vermute, dass es einfach irgendwelche Freudenschreie oder Geräusche waren. Jubel halt. Und falls ich etwas gesagt habe, habe ich die starke Befürchtung, dass es nicht hochintellektuell gewesen sein wird.
DFB.de: An die Worte erinnern Sie sich nicht. Und an die Empfindungen? Was ging in diesen Augenblicken in Ihrem Herzen vor?
Buchwald: Es war eine Mischung. Natürlich auch Freude, vielleicht vermengt mit Anspannung und Verlustangst. Es war ja noch nicht vorbei. Der Kopf hat sich ziemlich schnell eingeschaltet, zehn Minuten waren noch zu spielen. Es ging also darum, weiter konzentriert zu bleiben und sich mental auf die Schlussphase einzustellen. Es war klar, dass die Argentinier nun aufmachen und versuchen würden, das Spiel chaotisch zu gestalten. Für uns ging es dann darum, lange Ballbesitzphasen zu haben und das Spiel zu beruhigen.
DFB.de: Es gab dann noch Rot für Pedro Monzón und Gustavo Dezotti, auch Gelb für Maradona. Wie haben Sie dies und die hektischen Minuten nach dem 1:0 wahrgenommen?
Buchwald: Uns ist es gelungen, die Argentinier möglichst weit weg von unserem Tor zu halten. Auch hatten wir bis zuletzt ziemlich oft den Ball. Weil wir ihn nicht nur weggehauen haben, sondern weil wir sowohl individuell als auch mannschaftlich stark genug waren, den Ball nicht zu verlieren. Das hat dazu geführt, dass die Argentinier in ihrer Verzweiflung überzogen haben.
DFB.de: Dann endlich pfiff Schiedsrichter Edgardo Mendez das Spiel ab. Deutschland war Weltmeister, Sie waren Weltmeister. Welche Gedanken schießen da durch den Kopf, welche Empfindungen durchs Herz?
Buchwald: Freude, schiere Freude, auch Erleichterung. "Wir haben es tatsächlich geschafft", diesen Gedanken hatte ich. Ich habe mich für mich gefreut, für meine Mitspieler, die Trainer, Betreuer, für die Fans, für Deutschland.
DFB.de: Ihre Freude wurde unterbrochen - Sie mussten zur Dopingkontrolle.
Buchwald: Mal wieder, ja. Ich hatte in dieser Lotterie eine hohe Quote. Bei sieben WM-Spielen fiel das Los vier oder fünfmal auf mich.
DFB.de: Auch Maradona musste zur Dopingkontrolle. Wie läuft das ab? Sitzt man da zusammen rum und wartet, bis sich etwas tut? Hat er wieder "you again" gesagt?
Buchwald: Man sitzt nicht direkt nebeneinander. Die Mannschaften sind da schon getrennt. Es war ein Dopingkontrolleur für die Argentinier da und einer für uns Deutsche, es waren auch separate Räumlichkeiten für die Teams.
DFB.de: Maradona hat nach dem Spiel hemmungslos geweint. Hatten Sie in diesen Augenblicken Mitleid mit ihm?
Buchwald: Wenn ich ehrlich bin: Nein. In diesen Augenblicken ist die eigene Euphorie so groß, dass für andere Empfindungen kaum Raum ist. Maradona war ein emotionaler Mensch, seine Tränen waren keine Überraschung. Außerdem wäre es uns umgekehrt ähnlich gegangen. Ich finde, Mitleid ist die falsche Kategorie. Er war nicht verletzt, er hatte keine Krankheit und keinen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Er hat nur den Titel nicht gewonnen. Außerdem: Er hatte schon einen. Also: Mitleid hatte ich nicht. Aber mein Respekt vor dem Fußballer Diego Maradona war riesig und wird immer riesig sein.
DFB.de: War er für Sie der Beste aller Zeiten?
Buchwald: Er hatte Fähigkeiten, die kein anderer hatte. Seine Kreativität, seine Genialität am Ball, das war unerreicht. Er hat für den Fußball unheimlich viel geleistet, nicht nur in Argentinien. Ich habe ihn auch als großen Sportsmann erlebt. Nach dem Finale hat er trotz der riesigen Enttäuschung fair und aufrichtig gratuliert, auch später habe ich ihn bei jedem Zusammentreffen als respektvoll und anständig wahrgenommen. Seine weitere Geschichte tut mir leid für ihn und macht mich traurig. So leicht ihm alles, was auf dem Platz war, gefallen ist, so schwer fiel ihm das Leben abseits des Platzes. Mit dem Ruhm konnte er schlechter umgehen als mit dem Ball. Er hatte es auch nicht leicht. Er war einer der ersten globalen Sportstars - mit allen Schattenseiten, die das mit sich bringt.
DFB.de: Wenn Sie nun beide Spiele wieder vor Augen haben: Achtelfinale und Finale. Zu welcher Wertung kommen Sie? In welchem Spiel haben Sie besser Fußball gespielt?
Buchwald: Wenn ich müsste, würde ich wahrscheinlich doch das WM-Finale wählen. Ich hatte in diesem Spiel die meisten Ballkontakte aller Spieler, habe nicht selten auch den Spielaufbau übernommen - und das, obwohl ich der Sonderbewacher von Maradona war. Das Spiel gegen die Niederlande war spektakulärer, wilder, von der Mannschaft und durch die Vorlagen auch von mir. Besser war das Spiel gegen Argentinien.
DFB.de: Das beste Spiel im größten und wichtigsten Spiel - Sie haben sich einen guten Zeitpunkt ausgesucht.
Buchwald: Stimmt. Als Fußballer spielt man kein bedeutenderes Spiel als das WM-Finale. Man steht nie wieder so sehr im Fokus, kein anderes Spiel hat eine vergleichbare Aufmerksamkeit. Und dann ist es schon besonders schön, wenn einem in diesem Spiel so viel gelingt.
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Autor: sl

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