Thons Sternstunde: Torflut im Dauerregen

Am Abend des 1. Mai 1984 saßen die Spieler von Schalke 04 im Trainingslager zusammen und sahen das erste DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen, es endete 5:4 nach Verlängerung. Schalkes Bernd Dierßen erzählte später: "Wir haben damals gesagt: 'So ein Spiel gibt es nur alle zehn Jahre'." Irrtum. Schon einen Tag später wurde es in seiner Dramatik noch über boten, heute vor 36 Jahren beim denkwürdigen Spiel des FC Schalke 04 gegen den FC Bayern München.

Schalke spielte damals in der 2. Bundesliga, der FC Bayern mit den Brüdern Rummenigge sowie Sören Lerby wie gewöhnlich um die Meisterschaft. Dennoch kamen an diesem verregneten Mittwoch offiziell 70.600, inoffiziell aber 78.000 Menschen, ins Gelsenkirchener Parkstadion, in der Hoffnung auf ein königsblaues Wunder. Für jeden Schalker Spieler ging es um 10.000 D-Mark Prämie.

"Ein Tor kommt selten alleine"

Die Partie wurde im ZDF übertragen und wer zu spät einschaltete, verpasste einiges. Nach 20 Minuten waren bereits fünf Treffer gefallen, ganz nach dem Motto: "Ein Tor kommt selten alleine". Karl-Heinz Rummenigge und Reinhold Mathy sorgten für eine standesgemäße Führung für den FC Bayern, doch Thomas Kruse verkürzte im Gegenzug auf 1:2. Dann fiel der erste Treffer des Mannes, der an diesem Tag weltberühmt wurde: Olaf Thon, ein Gelsenkirchener Junge, am Vortag erst 18 Jahre alt geworden, wurde nun auch als Fußballer volljährig. Er versetzte gestandene Profis wie Klaus Augenthaler wie Slalomstangen, schoss aus allen Lagen und mit beiden Füßen. Auf seinen Flachschuss zum 2:2 hatten die Bayern noch eine prompte Antwort, denn Michael Rummenigge stellte postwendend die Bayern-Führung wieder her. Das 2:3 war der Pausenstand und leuchtete lange von der Anzeigetafel im Parkstadion. Kaum zu glauben, dass es bei einer Partie mit zwölf Toren eine Phase über 41 Minuten geben konnte, in der sich das Netz mal nicht beulte.

Dann aber kam wieder der nur 1,70 Meter kleine Thon zum Vorschein, nun sogar als "Kopfballungeheuer". "Meine Spieler haben den kleinen Kerl doch gar nicht ernst genommen", sagte Bayern-Trainer Udo Lattek später. Das Stadion toste nach dem 3:3, die ersten bekamen eine Ahnung davon, dass das Drama vom Bökelberg wiederholbar sein mag. Die Schalker Spieler vergaßen jedenfalls den Klassenunterschied und bekamen Flügel. Thon berichtete: "Ich war mir sicher: die haben richtig Schiss." Der Verteidiger Peter Stichler gab den Bayern allen Grund dazu, als er nach 72 Minuten Schalke erstmals in Führung köpfte – 4:3. Nun zog Lattek seinen Joker, brachte den langen Dieter Hoeneß, dessen Bruder Uli als Manager unruhig auf der Bank herumrutschte. Michael Rummenigge verhinderte das Schlimmste mit einem weiteren Kopfballtor (80.) und so ging auch das zweite Halbfinale nach einem 4:4-Zwischenstand in die Verlängerung.

Kleiner Mann mit großer Zukunft: Talent Thon dreht auf

Das kampfbetone Spiel bei Dauerregen nahm sich nun eine kleine Auszeit, bis ausgerechnet der frühere Bayern-Torwart Walter Junghans das Spiel wiederbelebte. In der 112. Minute ließ er einen schon gesicherten Ball auf der Torauslinie wieder los und Hoeneß stolperte ihn zum 4:5 ins Netz. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier verkündete seinem Publikum die Vorentscheidung, Schalkes Spieler kümmerten sich nicht drum. "Der Walter Junghans hat uns so Leid getan. Wir haben uns gesagt: Er ist so ein netter Kerl und hat es einfach nicht verdient, als Verlierer vom Platz zu gehen", nannte Thon 2009 in einem Jubiläumsbeitrag des WDR zu diesem Spiel ein Motiv für die Aufholjagd.

Der Kapitän ging mit gutem Beispiel voran. Bernard Dietz, schon zu Duisburger Zeiten ein ausgesprochener Bayern-Schreck, kam nach einer Ecke frei zum Schuss und überwand Jean-Marie Pfaff ein fünftes Mal – das war fünf Minuten vor Ende, aber keineswegs vor Torschluss. In der 117. Minute enteilte Dieter Hoeneß den Verteidigern und überwand Junghans – 5:6. "Ist das die Entscheidung? Ja!", legte sich Figgemeier nun fest. Aber es gab ja noch den kleinen Mann mit der großen Zukunft und der Nummer zehn auf dem Rücken. Schiedsrichter Wolf-Günter Wiesel ließ drei Minuten nachspielen und munterte Olaf Thon sogar auf: "Komm, den einen Angriff noch." Daraus entstand ein Freistoß von Dierßen, Augenthaler köpfte nicht weit genug weg und der Ball fand seinen Weg zum Liebling des Schicksals. Zu Olaf Thon, dem der Sensationen magisch anziehende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien im Interview entlockte, dass er eigentlich in Bayern-Bettwäsche schlafe. Diesmal schoss Thon mit links, volley in den Winkel. 6:6! Ein solches Ergebnis gab es nie zuvor und niemals wieder im DFB-Pokal, ein solches Erlebnis schon gar nicht. Drei Menschen erlitten im Stadion einen Herzinfarkt, ein 60jähriger verstarb. Uli Hoeneß war so wütend, dass er den Rückflug strich und die Mannschaft gleich nach Hamburg durchstarten ließ, wo am Samstag das nächste Spiel anstand.

Fritz Walter schwärmt: "Sternstunden des Fußballs"

Wie ging es weiter? Die Regeln sahen ein Wiederholungsspiel vor, das die Bayern in München mit Mühe 3:2 gewannen. Schalke glich einen 0:2-Rückstand aus, ehe Karl-Heinz Rummenigge mit seinem zweiten Tor des Abends den Bayern das Finale sicherte. Das gewannen sie dann auch nicht ohne Drama, gegen Mönchengladbach gab es ein 7:6 im Elfmeterschießen. Olaf Thon musste am Bildschirm zusehen. Er hatte dennoch genug erlebt an jenem 2. Mai 1984, als ihn die Fans noch 45 Minuten lang auf Schultern durch das Parkstadion trugen. "Es war das schönste Spiel in meiner Karriere. Ich sage immer scherzhaft: wenn ich es gewusst hätte, hätte ich aufhören müssen."

Er spielte dann doch noch ein paar Jährchen, vier davon in München. Udo Lattek hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen, doch Schalkes Schatzmeister verlangte im Scherz zwölf Millionen Mark. Ganz ernst gemeint waren dagegen die Worte von Fritz Walter, dem Helden von Bern. "Ich habe schon viel erlebt, aber das war in den letzten 20 Jahren das absolut Größte. Die Spiele in Gladbach und Schalke waren Sternstunden des Fußballs."

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Am Abend des 1. Mai 1984 saßen die Spieler von Schalke 04 im Trainingslager zusammen und sahen das erste DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen, es endete 5:4 nach Verlängerung. Schalkes Bernd Dierßen erzählte später: "Wir haben damals gesagt: 'So ein Spiel gibt es nur alle zehn Jahre'." Irrtum. Schon einen Tag später wurde es in seiner Dramatik noch über boten, heute vor 36 Jahren beim denkwürdigen Spiel des FC Schalke 04 gegen den FC Bayern München.

Schalke spielte damals in der 2. Bundesliga, der FC Bayern mit den Brüdern Rummenigge sowie Sören Lerby wie gewöhnlich um die Meisterschaft. Dennoch kamen an diesem verregneten Mittwoch offiziell 70.600, inoffiziell aber 78.000 Menschen, ins Gelsenkirchener Parkstadion, in der Hoffnung auf ein königsblaues Wunder. Für jeden Schalker Spieler ging es um 10.000 D-Mark Prämie.

"Ein Tor kommt selten alleine"

Die Partie wurde im ZDF übertragen und wer zu spät einschaltete, verpasste einiges. Nach 20 Minuten waren bereits fünf Treffer gefallen, ganz nach dem Motto: "Ein Tor kommt selten alleine". Karl-Heinz Rummenigge und Reinhold Mathy sorgten für eine standesgemäße Führung für den FC Bayern, doch Thomas Kruse verkürzte im Gegenzug auf 1:2. Dann fiel der erste Treffer des Mannes, der an diesem Tag weltberühmt wurde: Olaf Thon, ein Gelsenkirchener Junge, am Vortag erst 18 Jahre alt geworden, wurde nun auch als Fußballer volljährig. Er versetzte gestandene Profis wie Klaus Augenthaler wie Slalomstangen, schoss aus allen Lagen und mit beiden Füßen. Auf seinen Flachschuss zum 2:2 hatten die Bayern noch eine prompte Antwort, denn Michael Rummenigge stellte postwendend die Bayern-Führung wieder her. Das 2:3 war der Pausenstand und leuchtete lange von der Anzeigetafel im Parkstadion. Kaum zu glauben, dass es bei einer Partie mit zwölf Toren eine Phase über 41 Minuten geben konnte, in der sich das Netz mal nicht beulte.

Dann aber kam wieder der nur 1,70 Meter kleine Thon zum Vorschein, nun sogar als "Kopfballungeheuer". "Meine Spieler haben den kleinen Kerl doch gar nicht ernst genommen", sagte Bayern-Trainer Udo Lattek später. Das Stadion toste nach dem 3:3, die ersten bekamen eine Ahnung davon, dass das Drama vom Bökelberg wiederholbar sein mag. Die Schalker Spieler vergaßen jedenfalls den Klassenunterschied und bekamen Flügel. Thon berichtete: "Ich war mir sicher: die haben richtig Schiss." Der Verteidiger Peter Stichler gab den Bayern allen Grund dazu, als er nach 72 Minuten Schalke erstmals in Führung köpfte – 4:3. Nun zog Lattek seinen Joker, brachte den langen Dieter Hoeneß, dessen Bruder Uli als Manager unruhig auf der Bank herumrutschte. Michael Rummenigge verhinderte das Schlimmste mit einem weiteren Kopfballtor (80.) und so ging auch das zweite Halbfinale nach einem 4:4-Zwischenstand in die Verlängerung.

Kleiner Mann mit großer Zukunft: Talent Thon dreht auf

Das kampfbetone Spiel bei Dauerregen nahm sich nun eine kleine Auszeit, bis ausgerechnet der frühere Bayern-Torwart Walter Junghans das Spiel wiederbelebte. In der 112. Minute ließ er einen schon gesicherten Ball auf der Torauslinie wieder los und Hoeneß stolperte ihn zum 4:5 ins Netz. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier verkündete seinem Publikum die Vorentscheidung, Schalkes Spieler kümmerten sich nicht drum. "Der Walter Junghans hat uns so Leid getan. Wir haben uns gesagt: Er ist so ein netter Kerl und hat es einfach nicht verdient, als Verlierer vom Platz zu gehen", nannte Thon 2009 in einem Jubiläumsbeitrag des WDR zu diesem Spiel ein Motiv für die Aufholjagd.

Der Kapitän ging mit gutem Beispiel voran. Bernard Dietz, schon zu Duisburger Zeiten ein ausgesprochener Bayern-Schreck, kam nach einer Ecke frei zum Schuss und überwand Jean-Marie Pfaff ein fünftes Mal – das war fünf Minuten vor Ende, aber keineswegs vor Torschluss. In der 117. Minute enteilte Dieter Hoeneß den Verteidigern und überwand Junghans – 5:6. "Ist das die Entscheidung? Ja!", legte sich Figgemeier nun fest. Aber es gab ja noch den kleinen Mann mit der großen Zukunft und der Nummer zehn auf dem Rücken. Schiedsrichter Wolf-Günter Wiesel ließ drei Minuten nachspielen und munterte Olaf Thon sogar auf: "Komm, den einen Angriff noch." Daraus entstand ein Freistoß von Dierßen, Augenthaler köpfte nicht weit genug weg und der Ball fand seinen Weg zum Liebling des Schicksals. Zu Olaf Thon, dem der Sensationen magisch anziehende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien im Interview entlockte, dass er eigentlich in Bayern-Bettwäsche schlafe. Diesmal schoss Thon mit links, volley in den Winkel. 6:6! Ein solches Ergebnis gab es nie zuvor und niemals wieder im DFB-Pokal, ein solches Erlebnis schon gar nicht. Drei Menschen erlitten im Stadion einen Herzinfarkt, ein 60jähriger verstarb. Uli Hoeneß war so wütend, dass er den Rückflug strich und die Mannschaft gleich nach Hamburg durchstarten ließ, wo am Samstag das nächste Spiel anstand.

Fritz Walter schwärmt: "Sternstunden des Fußballs"

Wie ging es weiter? Die Regeln sahen ein Wiederholungsspiel vor, das die Bayern in München mit Mühe 3:2 gewannen. Schalke glich einen 0:2-Rückstand aus, ehe Karl-Heinz Rummenigge mit seinem zweiten Tor des Abends den Bayern das Finale sicherte. Das gewannen sie dann auch nicht ohne Drama, gegen Mönchengladbach gab es ein 7:6 im Elfmeterschießen. Olaf Thon musste am Bildschirm zusehen. Er hatte dennoch genug erlebt an jenem 2. Mai 1984, als ihn die Fans noch 45 Minuten lang auf Schultern durch das Parkstadion trugen. "Es war das schönste Spiel in meiner Karriere. Ich sage immer scherzhaft: wenn ich es gewusst hätte, hätte ich aufhören müssen."

Er spielte dann doch noch ein paar Jährchen, vier davon in München. Udo Lattek hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen, doch Schalkes Schatzmeister verlangte im Scherz zwölf Millionen Mark. Ganz ernst gemeint waren dagegen die Worte von Fritz Walter, dem Helden von Bern. "Ich habe schon viel erlebt, aber das war in den letzten 20 Jahren das absolut Größte. Die Spiele in Gladbach und Schalke waren Sternstunden des Fußballs."

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