Pilz: "FIFA sollte Regeln an die anderer Teamsportarten anpassen"

Der Sportsoziologe Prof. Gunter A. Pilz arbeitet seit 1975 mit den Schwerpunkten Sport und Gewalt, Fußball-Fankultur und Rechtsextremismus im Sport am Institut für Sportwissenschaft der Universität Hannover. 2012 erhielt er den "Ethik-Preis des Deutschen Olympischen Sportbundes" wegen seiner herausragenden Verdienste für Fair Play und Gewaltprävention im Sport. Im vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) ausgerufenen "Jahr der Schiris" und mit Blick auf das am vergangenen Montag veröffentlichte 9. Lagebild des Amateurfußballs fordert Pilz Regeln, die Schiedsrichter*innen auf dem Platz mehr Autorität verleihen könnten.

DFB.de: Professor Pilz, in der Saison 2022/2023 wurden quer durch alle Ligen und Altersklassen 1,4 Millionen Spiele ausgetragen. 961 mussten wegen eines Gewalt- oder Diskriminierungsvorfalls abgebrochen werden. Ist das jetzt Normalität oder inakzeptabel?

Prof. Dr. Gunter A. Pilz: Das ist in der Tat inakzeptabel. Jeder Fall ist einer zu viel. Gleichzeitig müssen wir die Zahlen in Relation setzen. Bei den Spielabbrüchen sprechen wir von 0,078 Prozent, bei reinen Gewaltvorfällen von 0,31 Prozent der erfassten Spiele. Wir sollten die Lage nicht dramatisieren, aber ernst nehmen.

DFB.de: Die Daten werden über die Online-Spielberichte der Schiris ermittelt. 6224 Gewaltvorfälle stehen zu Buche und 2679 Diskriminierungen. Worin liegen die Ursachen für Gewalt und Diskriminierung im Amateurfußball?

Pilz: Der Befund ist eindeutig. So wie in der Gesellschaft Gewalt und Diskriminierung zunehmen, so erleben wir es auch im Sport. Wir registrieren eine parallel verlaufende Entwicklung. Die Kriminalität insgesamt wächst an, gerade auch bei Jugendgewalt müssen wir steigende Zahlen registrieren. Nach den Beschränkungen durch die Pandemie und mit der Wiederaufnahme des Spielbetriebs stieg die Zahl der Abbrüche um mehr als 20 Prozent an. Das Klima ist rauer geworden. Die Auseinandersetzungen werden härter, auch die verbale Gewalt, die wir auf den Social-Media-Kanälen beobachten, nimmt rasant zu. Die Energiekrise, die Folgen des Klimawandels, auch die finanziellen Einschränkungen, die Armut in Teilen der Bevölkerung, das alles addiert sich. Und in Krisensituationen erfahren extreme politische Positionen wachsenden Zulauf. Die Auswirkungen davon spüren wir am Ende der Kette auch im Fußball. Positiv bewerte ich, dass der DFB einen guten Weg eingeschlagen hat, indem er dafür sorgt, dass Vorfälle gemeldet werden.

DFB.de: Durch den 1. Vizepräsidenten Ronny Zimmermann hat der DFB die Zahlen des Lagebilds Amateurfußball veröffentlicht. Seit der Saison 2014/2015 wird dieses Lagebild erhoben. Immerhin, der Anstieg bei den Spielabbrüchen konnte gestoppt werden. Wie bewerten Sie das diesjährige Ergebnis?

Pilz: Es wäre verfrüht, darauf schlüssige Antworten zu geben, aber man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass der DFB intensive Bemühungen unternimmt, die Herausforderungen von Gewalt und Diskriminierung in den Griff zu bekommen. Das war jetzt das 9. Lagebild, dabei leistet der DFB noch viel mehr. Über die Anlaufstellen in den Landesverbänden wird dafür gesorgt, dass präventive Maßnahmen zur Eindämmung von Gewalt und Diskriminierung durchgeführt werden. Menschen, denen etwas widerfährt, können Beratung und Unterstützung anfragen. Der Fußball macht inzwischen sehr deutlich, dass man das gegenwärtige Ausmaß von Vorfällen in den Kreis- und Bezirksklassen, wo ja mehr als 90 Prozent des Fußballs gespielt wird, nicht einfach so hinnimmt. Es besteht also berechtigter Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Jetzt darf der DFB nur nicht in seinen Bemühungen nachlassen.

DFB.de: Der Schiedsrichter oder die Schiedsrichterin auf dem Fußballplatz erfährt weniger Respekt als etwa beim Handball, Basketball oder Rugby. Woran liegt das?

Pilz: Das hat mit dem Regelwerk zu tun. Ich und viele andere, die sich mit der Gewalt im Amateurfußball beschäftigen, fordern schon lange, dass der Fußball über den Tellerrand schaut. Pfeift der Schiedsrichter beim Handball, und der Ball wird nicht sofort auf den Boden gelegt und sich vom Ball entfernt, wird das mit zwei Minuten Zeitstrafe geahndet. Ähnlich im Basketball. Beim Eishockey oder beim Rugby ist der Schiedsrichter eine unantastbare Person. Bei uns darf man dagegen den Schiedsrichter angehen, man kann auf ihn hinzulaufen, gestikulieren. Die FIFA sollte sich einen Ruck geben und durch eine Regelanpassung dem Schiedsrichter zu mehr Respekt auf dem Platz verhelfen.

DFB.de: Es gab vergangene Saison 126 Spielabbrüche bei den D- bis F-Junioren, also bei Kindern von zehn Jahren oder jünger. Die Ausschreitungen beginnen nicht auf dem Platz, sondern kommen von den Eltern, beginnen also an der Seitenlinie. Was würden Sie einem Verein raten, der so was erlebt hat?

Pilz: Grundsätzlich müssen die Vereine mehr Verantwortung übernehmen. Es fehlt ein Stück Sensibilität. Ich erinnere mich an einen Fall, als eine Mutter bei einem Jugendspiel pöbelnd aufs Feld rief. Ihr Sohn, ein siebenjähriger Junge, hatte über den Ball gesäbelt, was sie veranlasste, ziemlich laut vernehmlich eine unglaubliche Beleidigung auf den Platz zu brüllen. Ich will das hier nicht wiederholen. Jedenfalls haben wir die Mutter nach dem Spiel darauf angesprochen, sie meinte, da wäre doch nichts gewesen. Nachdem wir ihr die Aufnahme vorgespielt hatten, war sie sichtlich erschrocken. Die Gruppe rund um die Mutter, da hätte jemand etwas sagen sollen, ihr deutlich machen müssen, dass das so einfach nicht geht. Fußball löst bei uns Emotionen aus, aber es muss eine Grenze geben. Immer noch kursiert die Meinung, solche Dinge könnte man auf dem Fußballplatz sagen. Die Vereine sind hier gefordert, etwa indem ein Verhaltenskodex auf dem Platz gilt, den man dialogisch entwickeln sollte - dann wirkt er auch.

DFB.de: Jetzt ist ja der Fußballplatz kein Opernhaus, und im Fußball treffen sich auch alle Schichten der Bevölkerung. Besteht nicht die Gefahr, dass man im Bemühen um einen gewalt- und diskriminierungsfreien Fußball überzieht?

Pilz: Da begibt man sich aus meiner Sicht auf eine gefährliche Gratwanderung. Ich erinnere mich an ein Sportgerichtsurteil, da hatte der Beschuldigte den Mitspieler "Schwuler" genannt und verteidigte sich bei der Sitzung damit, das sei doch so im Fußball üblich. Plötzlich weitet sich der Raum des Erlaubten bis ins nahezu Unendliche. Wir wissen, dass gerade das gemeinsame Fußballerlebnis auch eine kathartische Wirkung haben kann. Doch Diskriminierung und körperliche Gewalt, da sind klare Grenzen gesteckt. Beleidigungen, Beschimpfungen sind doch oft die ersten Glieder in der Kette - und am Ende knallt es auch körperlich. Emotionen gehören auf den Platz, aber es gibt Grenzen, und die sollten wir gemeinsam setzen.

DFB.de: Sie haben sich in Ihren Studien schon in den 70er-Jahren mit Gewalt im Sport beschäftigt.

Pilz: Es sind jetzt tatsächlich genau 50 Jahre, als ich mich zum ersten Mal mit Gewalt im Sport und Fangewalt beschäftigt habe. Damals habe ich vom Bundesinnenministerium den Auftrag erhalten, ein Gutachten zum Thema Gewalt im Sport zu verfassen. Das Ernüchternde ist, die Fragen und die Antworten auf diese Phänomene sind immer die gleichen geblieben. Wenn es schlimmer wird, gibt jemand ein Gutachten in Auftrag, das wird dann veröffentlicht, die Politiker machen das Gegenteil von dem, was drinsteht, und nach zehn Jahren, wenn es wieder eskaliert, wird das nächste Gutachten gemacht, in dem das Gleiche steht und wieder das Gegenteil von dem gemacht wird, was gefordert wird. Wir brauchen keine schärferen Gesetze oder härtere Sanktionen, sondern müssen die bestehenden Gesetze und Sanktionsmöglichkeiten konsequent umsetzen, Beschuldigte konsequent, zeitnah und - ganz wichtig - für die Beschuldigten nachvollziehbar bestrafen. Es geht nicht um Vergeltung, sondern darum, in den Köpfen der Leute etwas zu bewegen.

DFB.de: Deeskalationstrainings für Schiris oder mehr Ordner an den Seitenlinien oder mehr Leitfäden für Vereine - was sollte man unbedingt angehen?

Pilz: Die Strafmaße in den einzelnen Landesverbanden unterscheiden sich deutlich. Der nächste wirksame Schritt wäre aus meiner Sicht eine Angleichung unter den Landesverbänden. Wir wissen, dass schärfere Gesetze manchmal sogar ein Mehr an Vorfällen bewirken. Deeskalationstrainings dagegen befürworte ich sehr, hier fanden bereits Pilotprojekte statt. Rudelbildung, das geschieht oft mit einer Vorgeschichte. Der geschulte Schiedsrichter holt schon sehr viel früher mal den Mannschaftskapitän zu sich oder spricht mit dem Trainer an der Seitenlinie. Der DFB und die Landesverbände sollten außerdem noch intensiver und häufiger faires Verhalten belohnen. Faire Spielerinnen und Spieler kriegen manchmal den Stempel aufgedrückt, sie seien naiv und wüssten nicht, wie es wirklich zugeht. Wir müssen dazu beitragen, dass sich das Bewusstsein ändert. Schließlich müssen wir Möglichkeiten zum Perspektivwechsel schaffen. Die Trainerinnen und Trainer sollten heißblütige Spielerinnen und Spieler ab und zu mal das Trainingsspiel pfeifen lassen. Die erfahren dann ganz schnell, wie anspruchsvoll dieser Job ist, und entwickeln mehr Empathie für die Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen und Verständnis für deren Entscheidungen.

[th]

Der Sportsoziologe Prof. Gunter A. Pilz arbeitet seit 1975 mit den Schwerpunkten Sport und Gewalt, Fußball-Fankultur und Rechtsextremismus im Sport am Institut für Sportwissenschaft der Universität Hannover. 2012 erhielt er den "Ethik-Preis des Deutschen Olympischen Sportbundes" wegen seiner herausragenden Verdienste für Fair Play und Gewaltprävention im Sport. Im vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) ausgerufenen "Jahr der Schiris" und mit Blick auf das am vergangenen Montag veröffentlichte 9. Lagebild des Amateurfußballs fordert Pilz Regeln, die Schiedsrichter*innen auf dem Platz mehr Autorität verleihen könnten.

DFB.de: Professor Pilz, in der Saison 2022/2023 wurden quer durch alle Ligen und Altersklassen 1,4 Millionen Spiele ausgetragen. 961 mussten wegen eines Gewalt- oder Diskriminierungsvorfalls abgebrochen werden. Ist das jetzt Normalität oder inakzeptabel?

Prof. Dr. Gunter A. Pilz: Das ist in der Tat inakzeptabel. Jeder Fall ist einer zu viel. Gleichzeitig müssen wir die Zahlen in Relation setzen. Bei den Spielabbrüchen sprechen wir von 0,078 Prozent, bei reinen Gewaltvorfällen von 0,31 Prozent der erfassten Spiele. Wir sollten die Lage nicht dramatisieren, aber ernst nehmen.

DFB.de: Die Daten werden über die Online-Spielberichte der Schiris ermittelt. 6224 Gewaltvorfälle stehen zu Buche und 2679 Diskriminierungen. Worin liegen die Ursachen für Gewalt und Diskriminierung im Amateurfußball?

Pilz: Der Befund ist eindeutig. So wie in der Gesellschaft Gewalt und Diskriminierung zunehmen, so erleben wir es auch im Sport. Wir registrieren eine parallel verlaufende Entwicklung. Die Kriminalität insgesamt wächst an, gerade auch bei Jugendgewalt müssen wir steigende Zahlen registrieren. Nach den Beschränkungen durch die Pandemie und mit der Wiederaufnahme des Spielbetriebs stieg die Zahl der Abbrüche um mehr als 20 Prozent an. Das Klima ist rauer geworden. Die Auseinandersetzungen werden härter, auch die verbale Gewalt, die wir auf den Social-Media-Kanälen beobachten, nimmt rasant zu. Die Energiekrise, die Folgen des Klimawandels, auch die finanziellen Einschränkungen, die Armut in Teilen der Bevölkerung, das alles addiert sich. Und in Krisensituationen erfahren extreme politische Positionen wachsenden Zulauf. Die Auswirkungen davon spüren wir am Ende der Kette auch im Fußball. Positiv bewerte ich, dass der DFB einen guten Weg eingeschlagen hat, indem er dafür sorgt, dass Vorfälle gemeldet werden.

DFB.de: Durch den 1. Vizepräsidenten Ronny Zimmermann hat der DFB die Zahlen des Lagebilds Amateurfußball veröffentlicht. Seit der Saison 2014/2015 wird dieses Lagebild erhoben. Immerhin, der Anstieg bei den Spielabbrüchen konnte gestoppt werden. Wie bewerten Sie das diesjährige Ergebnis?

Pilz: Es wäre verfrüht, darauf schlüssige Antworten zu geben, aber man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass der DFB intensive Bemühungen unternimmt, die Herausforderungen von Gewalt und Diskriminierung in den Griff zu bekommen. Das war jetzt das 9. Lagebild, dabei leistet der DFB noch viel mehr. Über die Anlaufstellen in den Landesverbänden wird dafür gesorgt, dass präventive Maßnahmen zur Eindämmung von Gewalt und Diskriminierung durchgeführt werden. Menschen, denen etwas widerfährt, können Beratung und Unterstützung anfragen. Der Fußball macht inzwischen sehr deutlich, dass man das gegenwärtige Ausmaß von Vorfällen in den Kreis- und Bezirksklassen, wo ja mehr als 90 Prozent des Fußballs gespielt wird, nicht einfach so hinnimmt. Es besteht also berechtigter Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Jetzt darf der DFB nur nicht in seinen Bemühungen nachlassen.

DFB.de: Der Schiedsrichter oder die Schiedsrichterin auf dem Fußballplatz erfährt weniger Respekt als etwa beim Handball, Basketball oder Rugby. Woran liegt das?

Pilz: Das hat mit dem Regelwerk zu tun. Ich und viele andere, die sich mit der Gewalt im Amateurfußball beschäftigen, fordern schon lange, dass der Fußball über den Tellerrand schaut. Pfeift der Schiedsrichter beim Handball, und der Ball wird nicht sofort auf den Boden gelegt und sich vom Ball entfernt, wird das mit zwei Minuten Zeitstrafe geahndet. Ähnlich im Basketball. Beim Eishockey oder beim Rugby ist der Schiedsrichter eine unantastbare Person. Bei uns darf man dagegen den Schiedsrichter angehen, man kann auf ihn hinzulaufen, gestikulieren. Die FIFA sollte sich einen Ruck geben und durch eine Regelanpassung dem Schiedsrichter zu mehr Respekt auf dem Platz verhelfen.

DFB.de: Es gab vergangene Saison 126 Spielabbrüche bei den D- bis F-Junioren, also bei Kindern von zehn Jahren oder jünger. Die Ausschreitungen beginnen nicht auf dem Platz, sondern kommen von den Eltern, beginnen also an der Seitenlinie. Was würden Sie einem Verein raten, der so was erlebt hat?

Pilz: Grundsätzlich müssen die Vereine mehr Verantwortung übernehmen. Es fehlt ein Stück Sensibilität. Ich erinnere mich an einen Fall, als eine Mutter bei einem Jugendspiel pöbelnd aufs Feld rief. Ihr Sohn, ein siebenjähriger Junge, hatte über den Ball gesäbelt, was sie veranlasste, ziemlich laut vernehmlich eine unglaubliche Beleidigung auf den Platz zu brüllen. Ich will das hier nicht wiederholen. Jedenfalls haben wir die Mutter nach dem Spiel darauf angesprochen, sie meinte, da wäre doch nichts gewesen. Nachdem wir ihr die Aufnahme vorgespielt hatten, war sie sichtlich erschrocken. Die Gruppe rund um die Mutter, da hätte jemand etwas sagen sollen, ihr deutlich machen müssen, dass das so einfach nicht geht. Fußball löst bei uns Emotionen aus, aber es muss eine Grenze geben. Immer noch kursiert die Meinung, solche Dinge könnte man auf dem Fußballplatz sagen. Die Vereine sind hier gefordert, etwa indem ein Verhaltenskodex auf dem Platz gilt, den man dialogisch entwickeln sollte - dann wirkt er auch.

DFB.de: Jetzt ist ja der Fußballplatz kein Opernhaus, und im Fußball treffen sich auch alle Schichten der Bevölkerung. Besteht nicht die Gefahr, dass man im Bemühen um einen gewalt- und diskriminierungsfreien Fußball überzieht?

Pilz: Da begibt man sich aus meiner Sicht auf eine gefährliche Gratwanderung. Ich erinnere mich an ein Sportgerichtsurteil, da hatte der Beschuldigte den Mitspieler "Schwuler" genannt und verteidigte sich bei der Sitzung damit, das sei doch so im Fußball üblich. Plötzlich weitet sich der Raum des Erlaubten bis ins nahezu Unendliche. Wir wissen, dass gerade das gemeinsame Fußballerlebnis auch eine kathartische Wirkung haben kann. Doch Diskriminierung und körperliche Gewalt, da sind klare Grenzen gesteckt. Beleidigungen, Beschimpfungen sind doch oft die ersten Glieder in der Kette - und am Ende knallt es auch körperlich. Emotionen gehören auf den Platz, aber es gibt Grenzen, und die sollten wir gemeinsam setzen.

DFB.de: Sie haben sich in Ihren Studien schon in den 70er-Jahren mit Gewalt im Sport beschäftigt.

Pilz: Es sind jetzt tatsächlich genau 50 Jahre, als ich mich zum ersten Mal mit Gewalt im Sport und Fangewalt beschäftigt habe. Damals habe ich vom Bundesinnenministerium den Auftrag erhalten, ein Gutachten zum Thema Gewalt im Sport zu verfassen. Das Ernüchternde ist, die Fragen und die Antworten auf diese Phänomene sind immer die gleichen geblieben. Wenn es schlimmer wird, gibt jemand ein Gutachten in Auftrag, das wird dann veröffentlicht, die Politiker machen das Gegenteil von dem, was drinsteht, und nach zehn Jahren, wenn es wieder eskaliert, wird das nächste Gutachten gemacht, in dem das Gleiche steht und wieder das Gegenteil von dem gemacht wird, was gefordert wird. Wir brauchen keine schärferen Gesetze oder härtere Sanktionen, sondern müssen die bestehenden Gesetze und Sanktionsmöglichkeiten konsequent umsetzen, Beschuldigte konsequent, zeitnah und - ganz wichtig - für die Beschuldigten nachvollziehbar bestrafen. Es geht nicht um Vergeltung, sondern darum, in den Köpfen der Leute etwas zu bewegen.

DFB.de: Deeskalationstrainings für Schiris oder mehr Ordner an den Seitenlinien oder mehr Leitfäden für Vereine - was sollte man unbedingt angehen?

Pilz: Die Strafmaße in den einzelnen Landesverbanden unterscheiden sich deutlich. Der nächste wirksame Schritt wäre aus meiner Sicht eine Angleichung unter den Landesverbänden. Wir wissen, dass schärfere Gesetze manchmal sogar ein Mehr an Vorfällen bewirken. Deeskalationstrainings dagegen befürworte ich sehr, hier fanden bereits Pilotprojekte statt. Rudelbildung, das geschieht oft mit einer Vorgeschichte. Der geschulte Schiedsrichter holt schon sehr viel früher mal den Mannschaftskapitän zu sich oder spricht mit dem Trainer an der Seitenlinie. Der DFB und die Landesverbände sollten außerdem noch intensiver und häufiger faires Verhalten belohnen. Faire Spielerinnen und Spieler kriegen manchmal den Stempel aufgedrückt, sie seien naiv und wüssten nicht, wie es wirklich zugeht. Wir müssen dazu beitragen, dass sich das Bewusstsein ändert. Schließlich müssen wir Möglichkeiten zum Perspektivwechsel schaffen. Die Trainerinnen und Trainer sollten heißblütige Spielerinnen und Spieler ab und zu mal das Trainingsspiel pfeifen lassen. Die erfahren dann ganz schnell, wie anspruchsvoll dieser Job ist, und entwickeln mehr Empathie für die Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen und Verständnis für deren Entscheidungen.

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