Pierre Littbarski: Blick nach drüben

Pierre Littbarski hat die Teilung Deutschlands zu großen Teilen im geteilten Berlin erlebt. Als die Mauer fiel, war der West-Berliner Junge schon längst flügge geworden, beim FC in Köln wurde er zum Bundesliga- und später zum Nationalspieler. An die Zeit der Wende und seine Kindheit in Berlin hat der 59-Jährige noch genaue Erinnerungen. Der Fußball spielt darin die Hauptrolle.

Als Günter Schabowski davon ausging, dass das alles "sofort, unverzüglich" in Kraft treten werde, hatte Pierre Littbarski ganz andere Sorgen. Von der denkwürdigen Pressekonferenz, die der Sekretär für Informationswesen der DDR in Berlin sechs Kilometer von Littbarskis Elternhaus entfernt hielt, bekam der Fußballer nichts mit. Wie auch? Er stand am Abend dieses 9. November 1989 im Kabinengang des Betzenberg-Stadions in Kaiserslautern und wartete darauf, dass das DFB-Pokalachtelfinale seines 1. FC Köln beim 1. FC Kaiserslautern losging. "Wir hatten", so erinnert sich der Weltmeister von 1990 mit einem Lächeln, "damals einen Trainer, der schon darauf aufgepasst hat, dass uns nichts ablenkte." Und einem Christoph Daum mitten in der unmittelbaren Spielvorbereitung hätte man nicht mit historischen Umwälzungen kommen können. Und was heißt schon historische Umwälzungen? Welche Tragweite der Schabowski-Satz "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen" haben sollte, wusste ohnehin niemand sofort.

"Uns als Fußballer hat das politische Geschehen damals nicht so interessiert. Wir haben zwar mitbekommen, was in der DDR passiert ist, aber das war nie ein großes Gesprächsthema in der Mannschaft. Eigentlich hatten wir im Kopf nur für Fußball Platz – wenn im Fernsehen Nachrichten kamen, haben wir umgeschaltet", erzählt Littbarski. Der West-Berliner Junge, für den jede Fahrrad-Rotzbengeligkeit endete, wenn die Mauer in Sicht kam ("Vor der hatten wir echten Respekt"), hatte schon als D-Jugend-Kicker von Hertha 03 Zehlendorf mitbekommen, dass bei Auswärtsspielen in Rudow oder Frohnau hinter den Sportplätzen das Niemandsland lauerte.

Oberliga-Stammgucker: "Ich kannte die alle"

Dennoch versucht er gar nicht erst, seinen Erinnerungen einen historischen Anstrich zu geben. Dabei hatte ihn die DDR als solche durchaus interessiert. Weniger wegen der Tante in Ost-Berlin, auch nicht wegen der Verwandten in Magdeburg oder wegen der Erinnerungen der Mutter an deren Heimatstadt Leipzig. Sondern wegen des Fernsehprogramms am Samstag. Denn bevor die Sportschau in der ARD begann, lief im DDR-Fernsehen die Oberliga, die höchste Spielklasse "drüben". Pierre Littbarski war Stammgucker. "Ich kannte die alle", schwärmt er noch heute, "Rüdiger Schnuphase, Jürgen Sparwasser, Dixie Dörner, Joachim Streich, Wolfgang Steinbach und viele andere." So viel Fußball im (West-)Fernsehen gab es damals noch nicht, man nahm als fußballbegeisterter Knirps mit, was man kriegen konnte. Und wenn es die Zusammenfassung von Carl Zeiss Jena gegen Stal Mielec an irgendeinem Europapokal-Mittwoch war. Jürgen Croy, der DDR- Nationaltorwart, war für den 14-jährigen Pierre ein Star. 1974 durfte der Balljunge Littbarski beim WM-Spiel der DDR gegen Chile im Berliner Olympiastadion dem Keeper aus Zwickau den Ball in die Hand drücken. "Er hat dann sowas wie 'Danke' gemurmelt", erinnert sich Littbarski mit einem Hauch von Ehrfurcht, "das war dann schon ein besonderer Moment für mich".

Dass Littbarski, in Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg aufgewachsen, selbst einmal Profi werden sollte, daran war damals noch nicht zu denken – was irgendwie auch an der Mauer lag. "Bei Hertha", sagt Littbarski und meint die große Hertha, also Hertha BSC, "wollten sie mich nicht, weil ich zu schmächtig war. Und Scouts aus Westdeutschland kamen so gut wie gar nicht nach Berlin, weil ihnen die Reise mit den Kontrollen im Transit einfach zu mühsam war." Der kleine Dribbler von Hertha Zehlendorf hätte eine Zukunft beim Finanzamt vor sich gehabt, hätte er nicht bei einem Jugendturnier in den Spielen gegen den 1. FC Köln geglänzt und hätte nicht Köln-Manager Karl-Heinz Thielen zufällig zugeguckt. Also hieß es ab 1978: Bundesliga statt Finanzamt. Was ab da vor allem nervte: Die Transitfahrten mit dem Käfer, den Littbarski für 1000 Mark von Toni Schumacher gekauft hatte und dessen Rückbank in Marienborn ständig auf Geheiß der Grenzer umgeklappt werden musste, wenn Littbarski von Köln in die Heimat nach Berlin fuhr. "Die Kontrollen und die Angst, auf der Transitstrecke zu schnell zu sein – das habe ich gehasst. Das war Stress."

Freundschaft mit Falko Götz

Das Pokalspiel in Kaiserslautern am Tag des Mauerfalls ging mit 1:2 verloren, was eine mittelgroße Überraschung war. Denn die Domstädter waren damals hinter den Bayern das zweite deutsche Top-Team, amtierender Vizemeister und aktueller Bundesliga- Tabellenführer. Zur Mannschaft gehörten mit Littbarski, Bodo Illgner und Thomas Häßler drei spätere Weltmeister, dazu Liga-Größen wie Andrzej Rudy, Flemming Povlsen, Frank Ordenewitz, Uwe Rahn – und Falko Götz. Mit dem im Vogtland geborenen Offensivspieler, der 1983 aus der DDR in den Westen geflohen war, konnte Littbarski Ost-West-Themen diskutieren, beide sind bis heute freundschaftlich verbunden. "Ein paar Jahre später", so erinnert sich Littbarski, "hat er mir mal als Geburtstagsgeschenk ein Bild malen lassen – darauf ist er zu sehen, wie er aus dem Fenster über die Mauer guckt, und auf der anderen Seite stehe ich mit Einkaufstüten in der Hand." Für Littbarski ist dieses Gemälde so etwas wie die Zusammenfassung seiner Mauer-Erinnerungen. "Wenn wir als Kinder die Tante im Osten besuchten, begann direkt hinter dem Grenzübergang eine andere Welt. Mit zwölf, 13 Jahren bekommst du mit, dass es irgendwie anders ist, irgendwie komisch. Wenn wir dort zum Fleischer gingen, haben wir gesagt, wir gehen ins Fliesengeschäft – weil es da außer ein paar Scheiben Wurst nur Fliesen gab." Aber: "Der politische Hintergrund war uns nicht bewusst. Erst mit Anfang, Mitte 20 habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren, wie es zur deutschen Teilung und zur Teilung Berlins gekommen war."

Mit Falko Götz hätte er am 9. November und in den Tagen danach womöglich darüber geredet, wie es in West und Ost weitergeht, aber Littbarski hatte ohne seinen Kölner Freund und Mitspieler etwas ganz anderes zu erledigen: Das entscheidende Qualifikationsspiel zur WM 1990 stand an, die DFB-Auswahl benötigte gegen Wales einen Sieg, um beim Turnier in Italien überhaupt dabei zu sein. Zur Vorbereitung auf das Spiel trafen sich Teamchef Franz Beckenbauer und die Nationalmannschaft in der Sportschule Hennef. Als in Berlin immer mehr Menschen "Die Mauer muss weg" riefen, die ersten Brocken aus dem Trennwall gemeißelt wurden und täglich neue Grenzübergangsstellen ihren Betrieb aufnahmen, stand Littbarski auf dem Trainingsplatz, spielte abends mit den Nationalmannschafts-Kollegen Karten und ließ sich von Beckenbauer erklären, wie er zusammen mit Andreas Möller und Thomas Häßler das Kreativzentrum hinter dem Sturmduo Jürgen Klinsmann/Rudi Völler bilden sollte – und dass er in Vertretung des verletzten Lothar Matthäus die Kapitänsbinde tragen wird. Für den Blick nach Berlin war da kaum Zeit und kaum Gelegenheit.

Gänsehaut am Brandenburger Tor

Es ging gut aus, sechs Tage nach dem Schabowski-Auftritt gewann Deutschland nach 0:1-Rückstand und einem verschossenen Elfmeter von Littbarski mit 2:1, weil Völler einen Ball im Fallen über die Linie müllerte und weil im Müngersdorfer Stadion in Köln der West-Berliner Littbarski dem West-Berliner Häßler den Siegtreffer auflegte. "Das wichtigste Spiel meiner Trainer-Karriere", sollte Beckenbauer später einmal diese Partie nennen. "Deutschland fährt zur WM" war für "Deutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung" ein ernsthafter Schlagzeilen-Konkurrent. Nach der DDR erkundigt hat sich Littbarski nach dem Schlusspfiff gegen Wales dennoch – weil er wissen wollte, wie das entscheidende Quali-Spiel der ostdeutschen Auswahl in Österreich ausgegangen war. "Der Fußball war immer das, was mich am meisten interessiert hat", sagt er. "Und mit Matthias Sammer, Ulf Kirsten oder Andreas Thom waren da ja auch wieder tolle Spieler dabei."

Die DDR hatte in Wien mit 0:3 verloren, es war das letzte große Spiel der "anderen" deutschen Nationalmannschaft. Was die Öffnung der Mauer bedeuten könnte, sickerte aber erst langsam in die Köpfe der Fußballer. In Littbarskis Erinnerung fehlt dieser eine Wiedervereinigungs-Moment, das Umarmen der Verwandtschaft, der Augenblick der bedenkenlosen Freude. "Aber ich erinnere mich daran, dass bei meinen Verwandten die Frage 'Wie geht es jetzt mit uns persönlich weiter?' eine viel größere Rolle spielte als die Frage, was mit Deutschland wird." Und die Erkenntnis, "dass sich im Osten die Menschen teilweise überrannt fühlten", kam relativ schnell. Den Wert der Einheit und damit auch der Einheit seiner Heimatstadt zu erkennen, brauchte Zeit. "Aber wenn ich heute in Berlin bin", so Littbarski, "weiß ich immer noch ganz genau: Damals, als ich Kind war, ging es bis hier – und heute geht die Straße einfach weiter. Für mich ist das etwas Besonderes. Wer heute durch das Brandenburger Tor geht, für den ist das normal. Ich bekomme dabei immer noch Gänsehaut."

[dfb]

Pierre Littbarski hat die Teilung Deutschlands zu großen Teilen im geteilten Berlin erlebt. Als die Mauer fiel, war der West-Berliner Junge schon längst flügge geworden, beim FC in Köln wurde er zum Bundesliga- und später zum Nationalspieler. An die Zeit der Wende und seine Kindheit in Berlin hat der 59-Jährige noch genaue Erinnerungen. Der Fußball spielt darin die Hauptrolle.

Als Günter Schabowski davon ausging, dass das alles "sofort, unverzüglich" in Kraft treten werde, hatte Pierre Littbarski ganz andere Sorgen. Von der denkwürdigen Pressekonferenz, die der Sekretär für Informationswesen der DDR in Berlin sechs Kilometer von Littbarskis Elternhaus entfernt hielt, bekam der Fußballer nichts mit. Wie auch? Er stand am Abend dieses 9. November 1989 im Kabinengang des Betzenberg-Stadions in Kaiserslautern und wartete darauf, dass das DFB-Pokalachtelfinale seines 1. FC Köln beim 1. FC Kaiserslautern losging. "Wir hatten", so erinnert sich der Weltmeister von 1990 mit einem Lächeln, "damals einen Trainer, der schon darauf aufgepasst hat, dass uns nichts ablenkte." Und einem Christoph Daum mitten in der unmittelbaren Spielvorbereitung hätte man nicht mit historischen Umwälzungen kommen können. Und was heißt schon historische Umwälzungen? Welche Tragweite der Schabowski-Satz "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen" haben sollte, wusste ohnehin niemand sofort.

"Uns als Fußballer hat das politische Geschehen damals nicht so interessiert. Wir haben zwar mitbekommen, was in der DDR passiert ist, aber das war nie ein großes Gesprächsthema in der Mannschaft. Eigentlich hatten wir im Kopf nur für Fußball Platz – wenn im Fernsehen Nachrichten kamen, haben wir umgeschaltet", erzählt Littbarski. Der West-Berliner Junge, für den jede Fahrrad-Rotzbengeligkeit endete, wenn die Mauer in Sicht kam ("Vor der hatten wir echten Respekt"), hatte schon als D-Jugend-Kicker von Hertha 03 Zehlendorf mitbekommen, dass bei Auswärtsspielen in Rudow oder Frohnau hinter den Sportplätzen das Niemandsland lauerte.

Oberliga-Stammgucker: "Ich kannte die alle"

Dennoch versucht er gar nicht erst, seinen Erinnerungen einen historischen Anstrich zu geben. Dabei hatte ihn die DDR als solche durchaus interessiert. Weniger wegen der Tante in Ost-Berlin, auch nicht wegen der Verwandten in Magdeburg oder wegen der Erinnerungen der Mutter an deren Heimatstadt Leipzig. Sondern wegen des Fernsehprogramms am Samstag. Denn bevor die Sportschau in der ARD begann, lief im DDR-Fernsehen die Oberliga, die höchste Spielklasse "drüben". Pierre Littbarski war Stammgucker. "Ich kannte die alle", schwärmt er noch heute, "Rüdiger Schnuphase, Jürgen Sparwasser, Dixie Dörner, Joachim Streich, Wolfgang Steinbach und viele andere." So viel Fußball im (West-)Fernsehen gab es damals noch nicht, man nahm als fußballbegeisterter Knirps mit, was man kriegen konnte. Und wenn es die Zusammenfassung von Carl Zeiss Jena gegen Stal Mielec an irgendeinem Europapokal-Mittwoch war. Jürgen Croy, der DDR- Nationaltorwart, war für den 14-jährigen Pierre ein Star. 1974 durfte der Balljunge Littbarski beim WM-Spiel der DDR gegen Chile im Berliner Olympiastadion dem Keeper aus Zwickau den Ball in die Hand drücken. "Er hat dann sowas wie 'Danke' gemurmelt", erinnert sich Littbarski mit einem Hauch von Ehrfurcht, "das war dann schon ein besonderer Moment für mich".

Dass Littbarski, in Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg aufgewachsen, selbst einmal Profi werden sollte, daran war damals noch nicht zu denken – was irgendwie auch an der Mauer lag. "Bei Hertha", sagt Littbarski und meint die große Hertha, also Hertha BSC, "wollten sie mich nicht, weil ich zu schmächtig war. Und Scouts aus Westdeutschland kamen so gut wie gar nicht nach Berlin, weil ihnen die Reise mit den Kontrollen im Transit einfach zu mühsam war." Der kleine Dribbler von Hertha Zehlendorf hätte eine Zukunft beim Finanzamt vor sich gehabt, hätte er nicht bei einem Jugendturnier in den Spielen gegen den 1. FC Köln geglänzt und hätte nicht Köln-Manager Karl-Heinz Thielen zufällig zugeguckt. Also hieß es ab 1978: Bundesliga statt Finanzamt. Was ab da vor allem nervte: Die Transitfahrten mit dem Käfer, den Littbarski für 1000 Mark von Toni Schumacher gekauft hatte und dessen Rückbank in Marienborn ständig auf Geheiß der Grenzer umgeklappt werden musste, wenn Littbarski von Köln in die Heimat nach Berlin fuhr. "Die Kontrollen und die Angst, auf der Transitstrecke zu schnell zu sein – das habe ich gehasst. Das war Stress."

Freundschaft mit Falko Götz

Das Pokalspiel in Kaiserslautern am Tag des Mauerfalls ging mit 1:2 verloren, was eine mittelgroße Überraschung war. Denn die Domstädter waren damals hinter den Bayern das zweite deutsche Top-Team, amtierender Vizemeister und aktueller Bundesliga- Tabellenführer. Zur Mannschaft gehörten mit Littbarski, Bodo Illgner und Thomas Häßler drei spätere Weltmeister, dazu Liga-Größen wie Andrzej Rudy, Flemming Povlsen, Frank Ordenewitz, Uwe Rahn – und Falko Götz. Mit dem im Vogtland geborenen Offensivspieler, der 1983 aus der DDR in den Westen geflohen war, konnte Littbarski Ost-West-Themen diskutieren, beide sind bis heute freundschaftlich verbunden. "Ein paar Jahre später", so erinnert sich Littbarski, "hat er mir mal als Geburtstagsgeschenk ein Bild malen lassen – darauf ist er zu sehen, wie er aus dem Fenster über die Mauer guckt, und auf der anderen Seite stehe ich mit Einkaufstüten in der Hand." Für Littbarski ist dieses Gemälde so etwas wie die Zusammenfassung seiner Mauer-Erinnerungen. "Wenn wir als Kinder die Tante im Osten besuchten, begann direkt hinter dem Grenzübergang eine andere Welt. Mit zwölf, 13 Jahren bekommst du mit, dass es irgendwie anders ist, irgendwie komisch. Wenn wir dort zum Fleischer gingen, haben wir gesagt, wir gehen ins Fliesengeschäft – weil es da außer ein paar Scheiben Wurst nur Fliesen gab." Aber: "Der politische Hintergrund war uns nicht bewusst. Erst mit Anfang, Mitte 20 habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren, wie es zur deutschen Teilung und zur Teilung Berlins gekommen war."

Mit Falko Götz hätte er am 9. November und in den Tagen danach womöglich darüber geredet, wie es in West und Ost weitergeht, aber Littbarski hatte ohne seinen Kölner Freund und Mitspieler etwas ganz anderes zu erledigen: Das entscheidende Qualifikationsspiel zur WM 1990 stand an, die DFB-Auswahl benötigte gegen Wales einen Sieg, um beim Turnier in Italien überhaupt dabei zu sein. Zur Vorbereitung auf das Spiel trafen sich Teamchef Franz Beckenbauer und die Nationalmannschaft in der Sportschule Hennef. Als in Berlin immer mehr Menschen "Die Mauer muss weg" riefen, die ersten Brocken aus dem Trennwall gemeißelt wurden und täglich neue Grenzübergangsstellen ihren Betrieb aufnahmen, stand Littbarski auf dem Trainingsplatz, spielte abends mit den Nationalmannschafts-Kollegen Karten und ließ sich von Beckenbauer erklären, wie er zusammen mit Andreas Möller und Thomas Häßler das Kreativzentrum hinter dem Sturmduo Jürgen Klinsmann/Rudi Völler bilden sollte – und dass er in Vertretung des verletzten Lothar Matthäus die Kapitänsbinde tragen wird. Für den Blick nach Berlin war da kaum Zeit und kaum Gelegenheit.

Gänsehaut am Brandenburger Tor

Es ging gut aus, sechs Tage nach dem Schabowski-Auftritt gewann Deutschland nach 0:1-Rückstand und einem verschossenen Elfmeter von Littbarski mit 2:1, weil Völler einen Ball im Fallen über die Linie müllerte und weil im Müngersdorfer Stadion in Köln der West-Berliner Littbarski dem West-Berliner Häßler den Siegtreffer auflegte. "Das wichtigste Spiel meiner Trainer-Karriere", sollte Beckenbauer später einmal diese Partie nennen. "Deutschland fährt zur WM" war für "Deutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung" ein ernsthafter Schlagzeilen-Konkurrent. Nach der DDR erkundigt hat sich Littbarski nach dem Schlusspfiff gegen Wales dennoch – weil er wissen wollte, wie das entscheidende Quali-Spiel der ostdeutschen Auswahl in Österreich ausgegangen war. "Der Fußball war immer das, was mich am meisten interessiert hat", sagt er. "Und mit Matthias Sammer, Ulf Kirsten oder Andreas Thom waren da ja auch wieder tolle Spieler dabei."

Die DDR hatte in Wien mit 0:3 verloren, es war das letzte große Spiel der "anderen" deutschen Nationalmannschaft. Was die Öffnung der Mauer bedeuten könnte, sickerte aber erst langsam in die Köpfe der Fußballer. In Littbarskis Erinnerung fehlt dieser eine Wiedervereinigungs-Moment, das Umarmen der Verwandtschaft, der Augenblick der bedenkenlosen Freude. "Aber ich erinnere mich daran, dass bei meinen Verwandten die Frage 'Wie geht es jetzt mit uns persönlich weiter?' eine viel größere Rolle spielte als die Frage, was mit Deutschland wird." Und die Erkenntnis, "dass sich im Osten die Menschen teilweise überrannt fühlten", kam relativ schnell. Den Wert der Einheit und damit auch der Einheit seiner Heimatstadt zu erkennen, brauchte Zeit. "Aber wenn ich heute in Berlin bin", so Littbarski, "weiß ich immer noch ganz genau: Damals, als ich Kind war, ging es bis hier – und heute geht die Straße einfach weiter. Für mich ist das etwas Besonderes. Wer heute durch das Brandenburger Tor geht, für den ist das normal. Ich bekomme dabei immer noch Gänsehaut."