Thomas Doll: "Chaos in Herz und Hirn"

Heute jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Thomas Doll hat 29 Länderspiele für die Auswahl der DDR und 18 für die deutsche Nationalmannschaft absolviert. Im Interview auf DFB.de erinnert sich der 53-Jährige an den Herbst 1989 und seine Kindheit in Malchin.

DFB.de: Herr Doll, welche Erinnerungen haben Sie an den Tag des Mauerfalls am 9. November 1989?

Thomas Doll: Wir waren in der Sportschule in Leipzig. Ich war damals mit Andy Thom auf einem Zimmer. Wenn ich mich richtig erinnere, war es so, dass wir irgendwie mitbekommen haben, dass es unruhig wurde. Es wurde laut auf dem Flur, irgendwer hat gerufen, dass wir schnell runterkommen sollen. Andy und ich sind dann rüber zum Zimmer von "Wuschi" Rohde und dann gemeinsam runter in den Fernsehraum. 

DFB.de: Und dann?

Doll: Waren wir überwältigt. Wir haben die Nachrichten gesehen, die Bilder aus Berlin, die Freude der Menschen. Es war alles unwirklich und für uns irgendwie schwer zu fassen. Natürlich haben auch wir uns gefreut, aber bei vielen Details bin ich mir nicht mehr ganz sicher.

DFB.de: Matthias Sammer berichtet, dass die Champagnerkorken knallten. 

Doll: Ich habe meine Zweifel, dass wir damals in der Sportschule Zugriff auf Champagner hatten (lacht). Wahrscheinlich war es eher ein Wermut oder ein Wein. Ein Bierchen haben wir auf jeden Fall aufgemacht.

DFB.de: Wie groß war Ihre Freude?

Doll: Mir und vielen anderen ging es so, dass alles irgendwie schwer einzuordnen war. Wir waren in der Sportschule, um uns auf ein extrem wichtiges Spiel vorzubereiten, wir hatten die große Chance, uns für die WM zu qualifizieren, das Größte, was es für Fußballer gibt. Und dann passiert ein so großartiges und großes Ereignis außerhalb des Sports – diese Welten überschnitten sich und haben für Chaos in Hirn und Herz gesorgt.

DFB.de: Sie haben sich also nicht uneingeschränkt gefreut?

Doll: Vor allem habe ich mich wahnsinnig für meine Mutter gefreut. Wir haben ja eine spezielle Familiengeschichte.

DFB.de: Nämlich?

Doll: Die Familie meiner Mutter ist zu großen Teilen schon vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nach dem Mauerbau konnte meine Mutter über Jahre hinweg ihre eigene Mutter nicht treffen. Vieles ist heimlich passiert, wenn uns die Verwandtschaft aus dem Westen besucht hat, die Brüder und Schwestern meiner Mutter. Die Arbeit meines Vaters hat das Ganze dann noch einmal zusätzlich verkompliziert.

DFB.de: Er war beim Rat des Kreises.

Doll: Genau. Westkontakte waren da keine Hilfe. Er hat später seine Arbeit sogar deswegen verloren. Daher, wie gesagt, habe ich mich am 9. November in erster Linie für meine Eltern gefreut. Es gab in der DDR erheblich schlimmere Schicksale als das meiner Familie. Menschen wurden auf der Flucht erschossen, Menschen kamen ins Gefängnis, wurden gefoltert, Menschen haben andere Menschen denunziert. Gruselig. Furchtbar. Dagegen ist das Schicksal der Familie Doll Kindergeburtstag. Aber ich weiß und wusste, wie sehr meine Eltern und gerade meine Mutter damals gelitten haben. Und daher gingen meine Gedanken am 9. November auch sofort in diese Richtung. 

DFB.de: Waren Sie auch erleichtert, dass sich mit dem 9. November abzeichnete, dass die Revolution in der DDR tatsächlich weitgehend gewaltfrei bleiben würde?

Doll: Absolut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mehrfach nicht viel zur Eskalation gefehlt hat. Einmal haben wir selbst erfahren, wie sensibel die Situation war. Rainer Ernst, Frank "Wuschi“ Rohde, Andy Thom und ich haben uns mal – mit Hüten verkleidet – unter die Demonstranten in Berlin gemischt. Die Spannung war damals spürbar, auch die Furcht der Menschen. Sie haben für die Freiheit ihr Leben riskiert, dafür kann man nicht genug "Danke" sagen. Es war ja alles andere als ausgeschlossen, dass die DDR- Führung den Schießbefehl gibt. Diese Befürchtung schwang die ganze Zeit mit.

DFB.de: Hätten Sie am Morgen des 9. November für möglich gehalten, dass am Abend DDR-Bürger in den Westen spazieren können?

Doll: Nee, nein, definitiv nicht. Ich hatte aber auch vieles andere im Kopf. Es waren bewegende und bemerkenswerte Zeiten für mich – ich war kurz zuvor zum ersten Mal Vater geworden, am 10. August '89 kam meine Tochter zur Welt. Auch an sie habe ich am Abend des 9. November natürlich gedacht, an die neue Welt, in der sie aufwachsen wird.

DFB.de: Wie schwer war es angesichts der politischen Änderungen in der Heimat, die Konzentration auf das WM-Spiel gegen Österreich zu richten?

Doll: Aus rein sportlicher Perspektive war der Mauerfall nicht das Beste. Es gibt viele Geschichten über Spielervermittler, die bei uns in Österreich im Hotel gewesen wären. Ich will das nicht ausschließen, aber mitbekommen habe ich davon nichts. Unser Hotel war etwas außerhalb von Wien, abgelegen in einer Sportschule. Aber natürlich waren unsere Gedanken auch in der Heimat und natürlich hat darunter die Konzentration gelitten. Wir haben 3:0 verloren. Toni Polster, der zu Beginn des Spiels noch ausgepfiffen wurde, macht drei Tore. Wir sind eigentlich nur nebenhergelaufen, sind nicht in die Zweikämpfe gekommen, wir haben nichts von dem umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten.

DFB.de: Wie lange hat der Ärger über die verpasste WM-Teilnahme die Freude über den Fall der Mauer verdrängt?

Doll: Das sind zwei unterschiedliche Ebenen, die nicht sehr viel miteinander zu tun haben. Im Rückblick kann man die Dinge natürlich klarer einordnen. Wir hatten die Freiheit geschenkt bekommen, da ist ein verlorenes Fußballspiel kaum relevant.

DFB.de: Wie unfrei haben Sie sich in der DDR gefühlt?

Doll: Unsere Familiengeschichte habe ich ja schon angerissen. Eine Zäsur war für mich daneben, als ich wegen unserer Westkontakte nicht mit zu einem Jugendturnier nach Groningen fahren durfte. Wegen angeblicher Fluchtgefahr. Ich weiß noch, wie sauer ich damals war.

DFB.de: Bestand diese Gefahr denn? Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, die DDR zu verlassen?

Doll: Nein, gar nicht. Flucht war für mich nie ein Thema.

DFB.de: Warum nicht?

Doll: Weil der Leidensdruck für mich nicht groß genug war. Und vor allem, weil ich immer wieder zurück zu meiner Familie wollte. Ich wusste ja auch, dass meine Eltern gewaltige Probleme bekommen hätten, wenn ich abgehauen wäre. Und das hätte ich ihnen nie angetan. Mein Zuhause war immer mein Zuhause, mein Anker, der Platz, an dem ich mich wohl und sicher gefühlt habe. Für mich ging es auch nie darum, dass ich unbedingt ganz viel Geld verdienen und ein Star werden wollte. Ich wollte Fußball spielen, und das konnte ich auch in der DDR. Aber es gab mehrere Situationen, in denen mir bewusst wurde, in was für einem System ich lebte. 

DFB.de: Zum Beispiel?

Doll: Besonders drastisch war es bei einer Reise nach Ungarn. Das war zu einer Zeit, als ich als junger Spieler meine ersten Schritte in der Ersten Mannschaft von Hansa Rostock gesetzt hatte. Ich hatte damals mehr als die erlaubte Menge an Ost-Mark dabei. Die Familie wollte gute Baby-Kleidung, und dafür hatte ich 600 Ost-Mark in einem doppelten Boden in meiner Sporttasche versteckt. Das ist aufgeflogen, weil mich jemand verpfiffen hatte. Und das gab richtig Ärger. Ich wurde verhört, wie ein Schwerverbrecher. Unfassbar.

DFB.de: Sie sind wenig später von Rostock zum BFC Dynamo gewechselt. Ausgerechnet zum Verein von Erich Mielke …

Doll: Das war eine rein sportliche Entscheidung, Hansa war abgestiegen und der BFC schlicht und einfach die beste Adresse. Mir ist der Wechsel auch deswegen leichtgefallen, weil ich viele Spieler von der Nationalmannschaft kannte. Für meine Karriere war dieser Schritt aus vielen Gründen die richtige Entscheidung. Überall, wo wir waren, sind wir damals angefeindet worden. Als Spieler des BFC geht man ständig durch ein Stahlbad – so etwas härtet ab.

DFB.de: Als Spieler des BFC Dynamo haben Sie in einer geteilten Stadt gelebt. Wissen Sie noch, wann Sie nach dem Mauerfall zum ersten Mal als Privatperson in den Westen Berlins gegangen sind?

Doll: Ziemlich schnell, nachdem wir aus Wien vom Spiel gegen Österreich zurück waren. Für mich war es weniger aufregend, als für die meisten anderen DDR-Bürger. Als Jugendlicher bin ich über den Fußball etliche Male auch ins westliche Ausland gereist. Spiele in Frankreich, Schweden, wir hatten Trainingslager in Spanien, wir waren in Marokko, Tunesien, ich habe Indien erlebt. Als ich dann in West-Berlin war, stand ich nicht staunend vor einer neuen bunten Welt. Aber es war ein schönes Gefühl, diese Freiheit zu spüren – das war großartig.

DFB.de: Nach dem Mauerfall haben Sie diese neue Freiheit genutzt. Als Spieler waren Sie unter anderem in Hamburg, in Rom und in Bari, als Trainer in Deutschland, der Türkei, in Saudi-Arabien, in Ungarn und jetzt auf Zypern. Wie passt das zu dem jungen Thomas Doll, der sich eine Flucht in den Westen nicht vorstellen konnte?

Doll: Ich war schon immer offen und neugierig. Und ich glaube, dass diese Offenheit schon in meiner Kindheit angelegt ist. Wegen des Fußballs bin ich mit 13 Jahren von zu Hause weg, ich musste früh selbstständig werden. Oft war das hart, an das Heimweh und an die Sehnsucht nach meiner Familie und meinen Freunden erinnere ich mich noch sehr deutlich. Am Schlimmsten war es an den Wochenenden, wenn es sich nach einem Spiel am Samstag nicht gelohnt hat, für einen halben Sonntag nach Hause zu fahren. Dann war ich nicht selten fast ganz allein im Internat. Das war das Gegenteil von einfach, aber ich denke, dass es mir für meinen weiteren Werdegang sehr geholfen hat. Wobei ich auch den Vorteil habe, dass ich vom Gemüt her eher extrovertiert bin und gerne auf andere zugehe.

DFB.de: Wenn Sie auf Ihr Leben in der DDR blicken – würden Sie sagen, dass Sie eine glückliche Kindheit und Jugend hatten?

Doll: Ja. Manche können das nicht verstehen, und deswegen sage ich es immer wieder. In der DDR war sehr viel sehr schlecht, das heißt aber nicht, dass es allen DDR-Bürgern immer sehr schlecht ging. Als Kinder waren wir ständig draußen, wir haben rumgetobt, wir haben Flöße gebaut, wir haben Fußball gespielt, wir haben Völkerball gespielt, alles Mögliche, immer draußen. Wir hatten ja nichts anderes; aber das war gut. Uns musste man an den Ohren ziehen und in die Wohnung reinholen, heute muss man die Kinder an den Ohren ziehen, um sie mal aus der Wohnung rauszubekommen. Ich hatte eine tolle Kindheit und erinnere mich immer wieder gerne an sie zurück.

[sl]

Heute jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Thomas Doll hat 29 Länderspiele für die Auswahl der DDR und 18 für die deutsche Nationalmannschaft absolviert. Im Interview auf DFB.de erinnert sich der 53-Jährige an den Herbst 1989 und seine Kindheit in Malchin.

DFB.de: Herr Doll, welche Erinnerungen haben Sie an den Tag des Mauerfalls am 9. November 1989?

Thomas Doll: Wir waren in der Sportschule in Leipzig. Ich war damals mit Andy Thom auf einem Zimmer. Wenn ich mich richtig erinnere, war es so, dass wir irgendwie mitbekommen haben, dass es unruhig wurde. Es wurde laut auf dem Flur, irgendwer hat gerufen, dass wir schnell runterkommen sollen. Andy und ich sind dann rüber zum Zimmer von "Wuschi" Rohde und dann gemeinsam runter in den Fernsehraum. 

DFB.de: Und dann?

Doll: Waren wir überwältigt. Wir haben die Nachrichten gesehen, die Bilder aus Berlin, die Freude der Menschen. Es war alles unwirklich und für uns irgendwie schwer zu fassen. Natürlich haben auch wir uns gefreut, aber bei vielen Details bin ich mir nicht mehr ganz sicher.

DFB.de: Matthias Sammer berichtet, dass die Champagnerkorken knallten. 

Doll: Ich habe meine Zweifel, dass wir damals in der Sportschule Zugriff auf Champagner hatten (lacht). Wahrscheinlich war es eher ein Wermut oder ein Wein. Ein Bierchen haben wir auf jeden Fall aufgemacht.

DFB.de: Wie groß war Ihre Freude?

Doll: Mir und vielen anderen ging es so, dass alles irgendwie schwer einzuordnen war. Wir waren in der Sportschule, um uns auf ein extrem wichtiges Spiel vorzubereiten, wir hatten die große Chance, uns für die WM zu qualifizieren, das Größte, was es für Fußballer gibt. Und dann passiert ein so großartiges und großes Ereignis außerhalb des Sports – diese Welten überschnitten sich und haben für Chaos in Hirn und Herz gesorgt.

DFB.de: Sie haben sich also nicht uneingeschränkt gefreut?

Doll: Vor allem habe ich mich wahnsinnig für meine Mutter gefreut. Wir haben ja eine spezielle Familiengeschichte.

DFB.de: Nämlich?

Doll: Die Familie meiner Mutter ist zu großen Teilen schon vor dem Mauerbau in den Westen gegangen. Nach dem Mauerbau konnte meine Mutter über Jahre hinweg ihre eigene Mutter nicht treffen. Vieles ist heimlich passiert, wenn uns die Verwandtschaft aus dem Westen besucht hat, die Brüder und Schwestern meiner Mutter. Die Arbeit meines Vaters hat das Ganze dann noch einmal zusätzlich verkompliziert.

DFB.de: Er war beim Rat des Kreises.

Doll: Genau. Westkontakte waren da keine Hilfe. Er hat später seine Arbeit sogar deswegen verloren. Daher, wie gesagt, habe ich mich am 9. November in erster Linie für meine Eltern gefreut. Es gab in der DDR erheblich schlimmere Schicksale als das meiner Familie. Menschen wurden auf der Flucht erschossen, Menschen kamen ins Gefängnis, wurden gefoltert, Menschen haben andere Menschen denunziert. Gruselig. Furchtbar. Dagegen ist das Schicksal der Familie Doll Kindergeburtstag. Aber ich weiß und wusste, wie sehr meine Eltern und gerade meine Mutter damals gelitten haben. Und daher gingen meine Gedanken am 9. November auch sofort in diese Richtung. 

DFB.de: Waren Sie auch erleichtert, dass sich mit dem 9. November abzeichnete, dass die Revolution in der DDR tatsächlich weitgehend gewaltfrei bleiben würde?

Doll: Absolut. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mehrfach nicht viel zur Eskalation gefehlt hat. Einmal haben wir selbst erfahren, wie sensibel die Situation war. Rainer Ernst, Frank "Wuschi“ Rohde, Andy Thom und ich haben uns mal – mit Hüten verkleidet – unter die Demonstranten in Berlin gemischt. Die Spannung war damals spürbar, auch die Furcht der Menschen. Sie haben für die Freiheit ihr Leben riskiert, dafür kann man nicht genug "Danke" sagen. Es war ja alles andere als ausgeschlossen, dass die DDR- Führung den Schießbefehl gibt. Diese Befürchtung schwang die ganze Zeit mit.

DFB.de: Hätten Sie am Morgen des 9. November für möglich gehalten, dass am Abend DDR-Bürger in den Westen spazieren können?

Doll: Nee, nein, definitiv nicht. Ich hatte aber auch vieles andere im Kopf. Es waren bewegende und bemerkenswerte Zeiten für mich – ich war kurz zuvor zum ersten Mal Vater geworden, am 10. August '89 kam meine Tochter zur Welt. Auch an sie habe ich am Abend des 9. November natürlich gedacht, an die neue Welt, in der sie aufwachsen wird.

DFB.de: Wie schwer war es angesichts der politischen Änderungen in der Heimat, die Konzentration auf das WM-Spiel gegen Österreich zu richten?

Doll: Aus rein sportlicher Perspektive war der Mauerfall nicht das Beste. Es gibt viele Geschichten über Spielervermittler, die bei uns in Österreich im Hotel gewesen wären. Ich will das nicht ausschließen, aber mitbekommen habe ich davon nichts. Unser Hotel war etwas außerhalb von Wien, abgelegen in einer Sportschule. Aber natürlich waren unsere Gedanken auch in der Heimat und natürlich hat darunter die Konzentration gelitten. Wir haben 3:0 verloren. Toni Polster, der zu Beginn des Spiels noch ausgepfiffen wurde, macht drei Tore. Wir sind eigentlich nur nebenhergelaufen, sind nicht in die Zweikämpfe gekommen, wir haben nichts von dem umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten.

DFB.de: Wie lange hat der Ärger über die verpasste WM-Teilnahme die Freude über den Fall der Mauer verdrängt?

Doll: Das sind zwei unterschiedliche Ebenen, die nicht sehr viel miteinander zu tun haben. Im Rückblick kann man die Dinge natürlich klarer einordnen. Wir hatten die Freiheit geschenkt bekommen, da ist ein verlorenes Fußballspiel kaum relevant.

DFB.de: Wie unfrei haben Sie sich in der DDR gefühlt?

Doll: Unsere Familiengeschichte habe ich ja schon angerissen. Eine Zäsur war für mich daneben, als ich wegen unserer Westkontakte nicht mit zu einem Jugendturnier nach Groningen fahren durfte. Wegen angeblicher Fluchtgefahr. Ich weiß noch, wie sauer ich damals war.

DFB.de: Bestand diese Gefahr denn? Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, die DDR zu verlassen?

Doll: Nein, gar nicht. Flucht war für mich nie ein Thema.

DFB.de: Warum nicht?

Doll: Weil der Leidensdruck für mich nicht groß genug war. Und vor allem, weil ich immer wieder zurück zu meiner Familie wollte. Ich wusste ja auch, dass meine Eltern gewaltige Probleme bekommen hätten, wenn ich abgehauen wäre. Und das hätte ich ihnen nie angetan. Mein Zuhause war immer mein Zuhause, mein Anker, der Platz, an dem ich mich wohl und sicher gefühlt habe. Für mich ging es auch nie darum, dass ich unbedingt ganz viel Geld verdienen und ein Star werden wollte. Ich wollte Fußball spielen, und das konnte ich auch in der DDR. Aber es gab mehrere Situationen, in denen mir bewusst wurde, in was für einem System ich lebte. 

DFB.de: Zum Beispiel?

Doll: Besonders drastisch war es bei einer Reise nach Ungarn. Das war zu einer Zeit, als ich als junger Spieler meine ersten Schritte in der Ersten Mannschaft von Hansa Rostock gesetzt hatte. Ich hatte damals mehr als die erlaubte Menge an Ost-Mark dabei. Die Familie wollte gute Baby-Kleidung, und dafür hatte ich 600 Ost-Mark in einem doppelten Boden in meiner Sporttasche versteckt. Das ist aufgeflogen, weil mich jemand verpfiffen hatte. Und das gab richtig Ärger. Ich wurde verhört, wie ein Schwerverbrecher. Unfassbar.

DFB.de: Sie sind wenig später von Rostock zum BFC Dynamo gewechselt. Ausgerechnet zum Verein von Erich Mielke …

Doll: Das war eine rein sportliche Entscheidung, Hansa war abgestiegen und der BFC schlicht und einfach die beste Adresse. Mir ist der Wechsel auch deswegen leichtgefallen, weil ich viele Spieler von der Nationalmannschaft kannte. Für meine Karriere war dieser Schritt aus vielen Gründen die richtige Entscheidung. Überall, wo wir waren, sind wir damals angefeindet worden. Als Spieler des BFC geht man ständig durch ein Stahlbad – so etwas härtet ab.

DFB.de: Als Spieler des BFC Dynamo haben Sie in einer geteilten Stadt gelebt. Wissen Sie noch, wann Sie nach dem Mauerfall zum ersten Mal als Privatperson in den Westen Berlins gegangen sind?

Doll: Ziemlich schnell, nachdem wir aus Wien vom Spiel gegen Österreich zurück waren. Für mich war es weniger aufregend, als für die meisten anderen DDR-Bürger. Als Jugendlicher bin ich über den Fußball etliche Male auch ins westliche Ausland gereist. Spiele in Frankreich, Schweden, wir hatten Trainingslager in Spanien, wir waren in Marokko, Tunesien, ich habe Indien erlebt. Als ich dann in West-Berlin war, stand ich nicht staunend vor einer neuen bunten Welt. Aber es war ein schönes Gefühl, diese Freiheit zu spüren – das war großartig.

DFB.de: Nach dem Mauerfall haben Sie diese neue Freiheit genutzt. Als Spieler waren Sie unter anderem in Hamburg, in Rom und in Bari, als Trainer in Deutschland, der Türkei, in Saudi-Arabien, in Ungarn und jetzt auf Zypern. Wie passt das zu dem jungen Thomas Doll, der sich eine Flucht in den Westen nicht vorstellen konnte?

Doll: Ich war schon immer offen und neugierig. Und ich glaube, dass diese Offenheit schon in meiner Kindheit angelegt ist. Wegen des Fußballs bin ich mit 13 Jahren von zu Hause weg, ich musste früh selbstständig werden. Oft war das hart, an das Heimweh und an die Sehnsucht nach meiner Familie und meinen Freunden erinnere ich mich noch sehr deutlich. Am Schlimmsten war es an den Wochenenden, wenn es sich nach einem Spiel am Samstag nicht gelohnt hat, für einen halben Sonntag nach Hause zu fahren. Dann war ich nicht selten fast ganz allein im Internat. Das war das Gegenteil von einfach, aber ich denke, dass es mir für meinen weiteren Werdegang sehr geholfen hat. Wobei ich auch den Vorteil habe, dass ich vom Gemüt her eher extrovertiert bin und gerne auf andere zugehe.

DFB.de: Wenn Sie auf Ihr Leben in der DDR blicken – würden Sie sagen, dass Sie eine glückliche Kindheit und Jugend hatten?

Doll: Ja. Manche können das nicht verstehen, und deswegen sage ich es immer wieder. In der DDR war sehr viel sehr schlecht, das heißt aber nicht, dass es allen DDR-Bürgern immer sehr schlecht ging. Als Kinder waren wir ständig draußen, wir haben rumgetobt, wir haben Flöße gebaut, wir haben Fußball gespielt, wir haben Völkerball gespielt, alles Mögliche, immer draußen. Wir hatten ja nichts anderes; aber das war gut. Uns musste man an den Ohren ziehen und in die Wohnung reinholen, heute muss man die Kinder an den Ohren ziehen, um sie mal aus der Wohnung rauszubekommen. Ich hatte eine tolle Kindheit und erinnere mich immer wieder gerne an sie zurück.

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