Keller: "Wir sind verpflichtet, aus der Geschichte zu lernen"

Die Begegnung der deutschen Nationalmannschaft am Dienstag (ab 20.45 Uhr, live in der ARD) gegen die Schweiz weckt besondere Erinnerungen. Vor rund 70 Jahren, am 22. November 1950, bestritt die DFB-Auswahl ihr erstes Länderspiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Gegner damals: die Schweiz. Im Interview mit DFB.de sprechen Dominique Blanc, Präsident des schweizerischen Fußballverbandes SFV, und DFB-Präsident Fritz Keller über das Jubiläum.

DFB.de: Sie haben sich stark gemacht für dieses Jubiläum, dass beide Verbände dieses gemeinsam feiern und würdigen. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Dominique Blanc: Dies ist ein sehr wichtiges Jubiläum. Dieses Spiel symbolisiert, meiner Meinung nach, den hohen Wert des Fußballs, der über die Veranstaltungen hinausgeht und es den Völkern und Ländern ermöglicht, zusammenzukommen, trotz aller Umstände, die für das Fußballspielen bestanden haben oder bestehen können. Es zeigt die universelle Dimension des Fußballs.

Fritz Keller: Weil wir verpflichtet sind, aus der Geschichte zu lernen. Zuvorderst natürlich aus der entsetzlichen Zeit, die zu dem historischen Spiel 1950 geführt hat. Unsere Vergangenheit muss uns jeden Tag Mahnung sein, und wir müssen die Werte, für die wir heute stehen, und die damals keine Bedeutung mehr hatten, und sich deshalb ein menschenverachtendes Regime austoben konnte, tagtäglich leben und gegen Angriffe verteidigen. Gleichzeitig muss uns die damalige Schweizer Haltung Vorbild sein. Zu einem Zeitpunkt, als viele Nazis noch in den Behörden saßen und die Aufarbeitung blockierten, kamen die Schweizer zu uns nach Stuttgart und reichten uns die Hand. Nazideutschland hatte einen Vernichtungskrieg geführt, Millionen Menschen systematisch ermordet, ganz Europa und weitere Teile der Welt in Trauer und Leid gestürzt. Und die Schweiz sorgte ganz entscheidend mit dafür, dass wir wieder in die Fußballgemeinschaft aufgenommen wurden. Ohne Not, aus eigenem Antrieb, um Verständigung und, soweit möglich, ein kleines Stück Aussöhnung zwischen den Nachbarn zu schaffen. Das ist Größe. Größe, von der wir enorm profitiert haben, nicht nur im Fußball, sondern als gesamte Gesellschaft.

DFB.de: Welche Bedeutung hat dieses Jubiläum für die heutigen Beziehungen?

Blanc: Ich glaube, dass dieses Jubiläum und das Spiel zwischen Deutschland und der Schweiz symbolisch für unsere Beziehungen und die Freundschaft der beiden Länder stehen, eine Freundschaft unter Nachbarn. Es gab 1950, aber bereits davor fand zwischen Deutschland und der Schweiz im Jahr 1920 das erste Länderspiel nach dem Ersten Weltkrieg statt. Und wenn ich mich richtig erinnere, spielte nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland das neue, vereinte Deutschland auch als Erstes gegen die Schweiz. Und ich glaube, dass das erste Spiel der deutschen Frauenmannschaft auch ein Spiel zwischen Deutschland und der Schweiz war. Das zeigt die große Freundschaft, die es zu unserem Nachbarn gibt und auch die Kraft der Beziehung, die der Fußball entfaltet.

Keller: Wir haben viele weitere historische Spiele mit der Schweiz erlebt, gegen kein anderes Land haben wir öfter gespielt. Das erste Länderspiel einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt fand 1908 gegen unsere Nachbarn statt. Auch nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland, wie 30 Jahre später, als Kriegstreiber international isoliert, die Schweizer setzten sich über Straf- und Boykottdrohungen hinweg und luden die deutsche Nationalmannschaft zum Spiel nach Zürich ein. Vor 30 Jahren löste die Wiedervereinigung Deutschlands in vielen Ländern verständlicherweise Angst und ein Gefühl der erneuten Bedrohung aus, aber die Schweiz kam abermals zum Spiel nach Stuttgart. Diese Momente waren bedeutend und groß – wenn man sie mit einem Freund teilen kann, sind sie noch größer. Und die Schweiz ist ein treuer Freund, gerade auch in der Not.

DFB.de: Was wäre, wenn es eine Botschaft aus dieser Zeit gäbe, an die man sich für die Zukunft erinnern sollte?

Blanc: Die universellen Werte, die der Fußball auf und auch außerhalb des Spielfelds verkörpert. Fußball ist und bleibt ein großer verbindender Sport.

Keller: Wir neigen oft dazu, unsere Maßstäbe anzulegen und zu urteilen. Und die logische Konsequenz daraus ist dann: Wenn in diesem oder jenem Land nicht alles so ist wie bei uns, dürfen wir dort nicht spielen. Diese Haltung mag in Einzelfällen richtig sein. Aber genauso wichtig ist es, die Hand auszustrecken und zu sagen: Wir kommen trotzdem zu Euch, auch wenn bei Euch nicht alles perfekt ist. Aber wir unterstützen die richtigen Kräfte in Eurem Land. Durch ein Fußballspiel oder ein Turnier können Missstände in das öffentliche Blickfeld rücken, die ansonsten verborgen geblieben wären.

DFB.de: Was wünschen Sie sich für das Spiel am Dienstag in Köln?

Keller: Dass die Botschaft gehört wird, wie der Fußball Brücken bauen kann. Die einzigartige Kraft des Fußballs liegt darin, Menschen zusammenzuführen und vermeintliche Gegensätze aufzulösen. Der spätere Präsident des Schweizerischen Fußballverbandes (SFV) und der UEFA, Gustav Wiederkehr, 1950 Vizepräsident des SFV, sagte im Vorfeld des Länderspiels von Stuttgart: 'Nun hegen wir die Hoffnung, dass uns der Weltfriede endlich erhalten bleiben möge, damit die sportlichen Beziehungen von Land zu Land auf Jahrzehnte hinaus gefestigt werden können.' Das ist in beeindruckender Weise gelungen. Aber wir sollten es nicht als selbstverständlich hinnehmen, sondern uns jeden Tag dafür einsetzen, dass auch künftige Generationen in Frieden und Verständigung mit ihren Nachbarn leben können.

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Die Begegnung der deutschen Nationalmannschaft am Dienstag (ab 20.45 Uhr, live in der ARD) gegen die Schweiz weckt besondere Erinnerungen. Vor rund 70 Jahren, am 22. November 1950, bestritt die DFB-Auswahl ihr erstes Länderspiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Gegner damals: die Schweiz. Im Interview mit DFB.de sprechen Dominique Blanc, Präsident des schweizerischen Fußballverbandes SFV, und DFB-Präsident Fritz Keller über das Jubiläum.

DFB.de: Sie haben sich stark gemacht für dieses Jubiläum, dass beide Verbände dieses gemeinsam feiern und würdigen. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Dominique Blanc: Dies ist ein sehr wichtiges Jubiläum. Dieses Spiel symbolisiert, meiner Meinung nach, den hohen Wert des Fußballs, der über die Veranstaltungen hinausgeht und es den Völkern und Ländern ermöglicht, zusammenzukommen, trotz aller Umstände, die für das Fußballspielen bestanden haben oder bestehen können. Es zeigt die universelle Dimension des Fußballs.

Fritz Keller: Weil wir verpflichtet sind, aus der Geschichte zu lernen. Zuvorderst natürlich aus der entsetzlichen Zeit, die zu dem historischen Spiel 1950 geführt hat. Unsere Vergangenheit muss uns jeden Tag Mahnung sein, und wir müssen die Werte, für die wir heute stehen, und die damals keine Bedeutung mehr hatten, und sich deshalb ein menschenverachtendes Regime austoben konnte, tagtäglich leben und gegen Angriffe verteidigen. Gleichzeitig muss uns die damalige Schweizer Haltung Vorbild sein. Zu einem Zeitpunkt, als viele Nazis noch in den Behörden saßen und die Aufarbeitung blockierten, kamen die Schweizer zu uns nach Stuttgart und reichten uns die Hand. Nazideutschland hatte einen Vernichtungskrieg geführt, Millionen Menschen systematisch ermordet, ganz Europa und weitere Teile der Welt in Trauer und Leid gestürzt. Und die Schweiz sorgte ganz entscheidend mit dafür, dass wir wieder in die Fußballgemeinschaft aufgenommen wurden. Ohne Not, aus eigenem Antrieb, um Verständigung und, soweit möglich, ein kleines Stück Aussöhnung zwischen den Nachbarn zu schaffen. Das ist Größe. Größe, von der wir enorm profitiert haben, nicht nur im Fußball, sondern als gesamte Gesellschaft.

DFB.de: Welche Bedeutung hat dieses Jubiläum für die heutigen Beziehungen?

Blanc: Ich glaube, dass dieses Jubiläum und das Spiel zwischen Deutschland und der Schweiz symbolisch für unsere Beziehungen und die Freundschaft der beiden Länder stehen, eine Freundschaft unter Nachbarn. Es gab 1950, aber bereits davor fand zwischen Deutschland und der Schweiz im Jahr 1920 das erste Länderspiel nach dem Ersten Weltkrieg statt. Und wenn ich mich richtig erinnere, spielte nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland das neue, vereinte Deutschland auch als Erstes gegen die Schweiz. Und ich glaube, dass das erste Spiel der deutschen Frauenmannschaft auch ein Spiel zwischen Deutschland und der Schweiz war. Das zeigt die große Freundschaft, die es zu unserem Nachbarn gibt und auch die Kraft der Beziehung, die der Fußball entfaltet.

Keller: Wir haben viele weitere historische Spiele mit der Schweiz erlebt, gegen kein anderes Land haben wir öfter gespielt. Das erste Länderspiel einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt fand 1908 gegen unsere Nachbarn statt. Auch nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland, wie 30 Jahre später, als Kriegstreiber international isoliert, die Schweizer setzten sich über Straf- und Boykottdrohungen hinweg und luden die deutsche Nationalmannschaft zum Spiel nach Zürich ein. Vor 30 Jahren löste die Wiedervereinigung Deutschlands in vielen Ländern verständlicherweise Angst und ein Gefühl der erneuten Bedrohung aus, aber die Schweiz kam abermals zum Spiel nach Stuttgart. Diese Momente waren bedeutend und groß – wenn man sie mit einem Freund teilen kann, sind sie noch größer. Und die Schweiz ist ein treuer Freund, gerade auch in der Not.

DFB.de: Was wäre, wenn es eine Botschaft aus dieser Zeit gäbe, an die man sich für die Zukunft erinnern sollte?

Blanc: Die universellen Werte, die der Fußball auf und auch außerhalb des Spielfelds verkörpert. Fußball ist und bleibt ein großer verbindender Sport.

Keller: Wir neigen oft dazu, unsere Maßstäbe anzulegen und zu urteilen. Und die logische Konsequenz daraus ist dann: Wenn in diesem oder jenem Land nicht alles so ist wie bei uns, dürfen wir dort nicht spielen. Diese Haltung mag in Einzelfällen richtig sein. Aber genauso wichtig ist es, die Hand auszustrecken und zu sagen: Wir kommen trotzdem zu Euch, auch wenn bei Euch nicht alles perfekt ist. Aber wir unterstützen die richtigen Kräfte in Eurem Land. Durch ein Fußballspiel oder ein Turnier können Missstände in das öffentliche Blickfeld rücken, die ansonsten verborgen geblieben wären.

DFB.de: Was wünschen Sie sich für das Spiel am Dienstag in Köln?

Keller: Dass die Botschaft gehört wird, wie der Fußball Brücken bauen kann. Die einzigartige Kraft des Fußballs liegt darin, Menschen zusammenzuführen und vermeintliche Gegensätze aufzulösen. Der spätere Präsident des Schweizerischen Fußballverbandes (SFV) und der UEFA, Gustav Wiederkehr, 1950 Vizepräsident des SFV, sagte im Vorfeld des Länderspiels von Stuttgart: 'Nun hegen wir die Hoffnung, dass uns der Weltfriede endlich erhalten bleiben möge, damit die sportlichen Beziehungen von Land zu Land auf Jahrzehnte hinaus gefestigt werden können.' Das ist in beeindruckender Weise gelungen. Aber wir sollten es nicht als selbstverständlich hinnehmen, sondern uns jeden Tag dafür einsetzen, dass auch künftige Generationen in Frieden und Verständigung mit ihren Nachbarn leben können.

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