Kahn wird 50: "Schleif ihn zum Diamanten"

Am Anfang einer Weltkarriere steht immer ein Schlüsselmoment. Bei Oliver Kahn waren die Großeltern verantwortlich, die ihm zum 6. Geburtstag eine damals gar nicht so einfach zu bekommende Torwartausrüstung aus der Sepp-Maier-Kollektion schenkten. Vorbei war die Stürmerkarriere, die E-Jugend des Karlsruher SC musste sich einen neuen Torjäger suchen. Dafür hatte sie nun einen guten Torwart. Sehr gut war er nicht. Talent und Ehrgeiz des jungen Oliver, der heute seinen 50. Geburtstag feiert, standen in einem gewissen Gegensatz. Mit 15 sortierten sie ihn aus der Karlsruher Kreisauswahl wieder aus, mit 17 wurde ihm in der B-Jugend ein anderer Torwart vor die Nase gesetzt. In einer U-Nationalmannschaft spielte er nie. Wie konnte er trotzdem zum weltbesten Torwart, zum "Titan" werden?

Weil wirklich stimmt, was ihm immer nachgesagt wurde: Er war besessen. In einem Fragebogen des Bayern-Magazins antwortete er noch im letzten Karrierejahr 2008 unter der Rubrik Eigenschaften: "Ungeduldig, diszipliniert, ehrgeizig". In seinem an die Jugend gerichteten Motivationsbuch mit dem Titel "Du packst es! Wie du schaffst, was du willst", lässt er 2012 tief blicken in die Gefühlswelt eines vom Ehrgeiz getriebenen jungen Mannes. Da ist von Zetteln auf Badezimmerspiegeln die Rede, auf denen stand: "Du bist besser als Dein Konkurrent, du wirst ihn irgendwann überholen."

Da berichtet er von privaten Trainingseinheiten mit Papa Rolf, einem Kind der Bundesliga (KSC-Profi 1963 bis 1965) am frühen Sonntag im Wildpark, bei Wind und Wetter, und von Spaziergängern, die ihnen den Vogel zeigten. Oder davon, wie er bei Bundesligaspielen des Karlsruher SC allein mit einem Ball vor dem Stadion trainierte und sich vorstellte, der Jubel im Stadion gelte ihm. "Eines Tages, so dachte ich es mir nach solchen 'Traumspielen', wird es so weit sein. Ein Stadion voller Menschen und in einem der beiden Tore stehe ich!"

Die "Zielsetzungskette": Kahn und seine Etappenziele

Rainer Ullrich, sein Trainer in der Amateurmannschaft des KSC, erzählte: "Es gab Tage, da hat er dreimal trainiert. Zuerst mit den Profis, dann mit den Amateuren, dann im Kraftraum." Und es gibt die legendäre Anekdote von seinem Konkurrenten im Bundesligateam des KSC, Alexander Famulla, der in der Mannschaft erzählte, er wolle lieber nicht mit Kahn in einem Zimmer schlafen, weil er fürchte, der ersticke ihn sonst mit einem Kissen. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, spürte: Der will ein Großer werden. Ob er es werden würde? Da gab es lange Zweifel. Drei Jahre schmorte er hinter Famulla auf der Bank, ehe ihn Winfried Schäfer im November 1990 mitten im Spiel zur Nummer eins in Karlsruhe beförderte.

Damit hatte er die nächste Stufe seines Karriereplans, der aus sieben Etappen bestand, erreicht. Nummer eins war der Platz im Tor der Amateure, Nummer zwei ein Bundesligaeinsatz. Er nannte das seine "Zielsetzungskette" und die sah als nächsten Punkt Europapokalspiele mit dem KSC vor. Auch das kam nicht über Nacht, aber 1993/1994 berauschte der Karlsruher SC die Fußballwelt und erreichte das Halbfinale des Uefa-Pokals. Auf dem Weg dahin gab es das legendäre 7:0 gegen Valencia. Nur wenige Tage nach jenem Novemberabend 1993 näherte sich Kahn seinen nächsten Etappenzielen. Punkt 5 lautete: "Ich will zum FC Bayern München wechseln und Deutscher Meister werden." Prompt klingelte im Hause Kahn das Telefon und er erinnert sich noch genau an den Beginn des Gesprächs, das die nächste Weiche stellte:

"Hallo, hier ist Uli Hoeneß. Wir wollen Sie haben!" Das Ansinnen des Bayern-Managers harmonierte bestens mit Kahns Zielen und so wechselte er im Sommer 1994 nach München. Da durfte er schon vom nächsten Etappenziel träumen: Nationalspieler zu werden. Er war ja immerhin schon 25. Ende 1993 durfte er noch als KSC-Keeper zu einem Lehrgang und sich erstmals von Bundestorwarttrainer Sepp Maier triezen lassen. Dessen Urteil war ernüchternd: "Was ist denn das für ein steifer Hund?" Bei der WM in den USA war er als Statist trotzdem schon dabei, das erste Länderspiel von 86 machte er aber erst am 21. Juni 1995 in Zürich – gegen Italien.

Noch musste er warten, noch gab es Andreas Köpke, mit dem Deutschland 1996 Europameister wurde. Kahn saß auf der Ersatzbank, wie auch bei seinem dritten Turnier – der WM 1998 in Frankreich. Dort "will ich spielen", kündigte er schon 1996 an und durfte es doch nicht. Seiner Miene sah man seine Unzufriedenheit an, aber er ertrug sein Los und tröstete sich mit den Erfolgen im Verein. 1996 holte der FC Bayern den UEFA-Pokal, 1997 endlich die Meisterschaft, nachdem er sich schon panisch eingeredet hatte: "Mit dem Kahn werden die Bayern nie Meister!" Nun verstummten die inneren Zweifel, von denen auch einer wie er nie frei war. Dass er "eigentlich ein ängstlicher Typ" sei, gehört zu den erstaunlichsten Selbstbekenntnissen des Oliver Kahn, vor dem ab Mitte der Neunziger eigentlich alle Angst hatten – auch die Mitspieler.

Unvergessen, wie er 1996 den armen Andreas Herzog durchrüttelte und schubste. Häufiger freilich ging er Gegenspieler an. Um der eigenen Anspannung ein Ventil zu schaffen und die Kollegen aufzuwecken, würgte, bohrte und biss er um sich. Und da war der legendäre angedeutete Kung-Fu-Tritt in Richtung des Dortmunders Stephane Chapuisat, der ins Bilderbuch seiner Karriere gehört. Das war 1999, als er sich dem Gipfel seiner Karriere näherte, während es mit dem deutschen Fußball bergab ging.

Emotionen auf dem Höhepunkt: Drei nervenaufreibende Endspiele

Es war die bleierne Zeit. Die Nationalmannschaft war 1998 im WM-Viertelfinale ausgeschieden und stürzte nach dem Rücktritt von Bundestrainer Berti Vogts immer tiefer. Ihr größter Rückhalt war Oliver Kahn, von Erich Ribbeck zur neuen Nummer eins und zum Kapitän befördert, der er auch unter Rudi Völler (2000 bis 2004) blieb. 50-mal trug er in 86 Spielen die Binde, aber auch er konnte nicht verhindern, dass man bei der EM 2000 und der EM 2004 in der Vorrunde ausschied.

Dazwischen allerdings lag die merkwürdige WM 2002 in Asien, für die sich Deutschland erst durch die Hintertür qualifizierte, aber bis ins Finale kam. Auf dem Weg dahin kassierte das Team nur ein Tor und das war Kahns Werk. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", fragte der kicker gleichsam überspitzt wie treffend. Es waren die Tage, da Kahn zum "Titan" wurde. Die Wortschöpfung des Boulevard begleitete ihn für sein weiteres Leben und war nicht zu hoch gegriffen. Dann kam das Finale von Yokohama und dieser verflixte Aufsetzer von Rivaldo, den Kahn mit angebrochenem Finger nicht festhalten konnte. Ronaldo staubte ab und entschied das Spiel für Brasilien (Endstand 2:0). Alle verziehen ihm, er sich nicht. Kahn, der sich immer schwer damit tat, Fehler zu verarbeiten, lehnte, kauerte, hockte minutenlang am Torpfosten und stierte vor sich hin. Auch das ein Bild seines Lebens.

"Nach dem Schlusspfiff wünschte ich mir nichts sehnlicher als dass sich vor mir ein Loch auftäte und mich verschluckt." Es war noch schlimmer als das Finale der Champions League 1999 gegen Manchester United (1:2), das die Bayern in der Nachspielzeit verloren. Dafür entschädigten sie sich 2001, als Kahn im Mailänder Finale gegen Valencia im Elfmeterschießen drei Bälle parierte. Aber dass die Chance eines WM-Finales noch mal käme, daran glaubte er in diesem Moment nicht. "Ich hatte plötzlich kein Ziel mehr vor Augen" und das war fatal für den sein Leben lang so Zielstrebigen.

Kahn: "Möglicherweise fatal, wenn wir Weltmeister geworden wären"

Er fiel in ein Loch und genoss plötzlich das Leben, zog sich flippiger, trug eine neue Frisur, verließ seine Frau und ging feiern. Im Rückblick sagte er 2016: "Möglicherweise wäre es für mich als Mensch fatal gewesen, wenn wir 2002 Weltmeister geworden wären. Vieles, von dem ich bis dahin überzeugt war, die extreme Besessenheit, dieses Leben wie in einem Tunnel, wurde durch die Niederlage in gesündere Bahnen gelenkt."

Trotzdem wäre er 2006 bei der Heim-WM gerne Weltmeister geworden, doch der neue Bundestrainer Jürgen Klinsmann entschied sich für seinen langjährigen Rivalen Jens Lehmann als den "moderneren Torwart", sprich den besseren Fußballer. Bälle halten war nicht mehr genug, Spieleröffnung fast genauso wichtig.

Sepp Maier war nicht dieser Meinung, ein Disput in dieser Frage beendete die Karriere des Bundestorwarttrainers, der von Kahn eine derart gute Meinung hat, dass er tatsächlich behauptete: "Nicht meine 20 Jahre als Aktiver, sondern meine 14 Jahre mit ihm waren meine schönsten Jahre beim FC Bayern." Denn auch in München war er sein Torwarttrainer, der einst von Hoeneß den Auftrag erhalten hatte: "Sepp, ich habe Dir einen Edelstein gekauft. Schleif ihn zu einem Diamanten!" Auftrag erfüllt. Aber auch der Mensch Kahn entwickelte sich weiter.

Helmut Schmidt als Vorbild

Er ertrug sein Los bei der WM 2006 tapfer und als er Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien Mut zusprach, wurde das medial gehypt und als große Geste gefeiert. Für ihn war es nichts Besonderes, seine Erklärung zeugt indes von seiner Reife, die dem sich auf dem Platz oft so wild gebärdenden Mann wohl nur wenige zugetraut hätten:

"Ich hatte das Glück, als 13-Jähriger Helmut Schmidt als Vorbild zu haben. Er wurde 1982 durch ein Misstrauensvotum vom Bundestag abgewählt. Es gab einen Moment, den ich immer im Kopf trage: Als Schmidt durch die Reihen marschierte und als großer Staatsmann Helmut Kohl, seinem Nachfolger und Kontrahenten als Bundeskanzler, die Hand reicht. Das war ein Moment der Größe, der sich bei mir eingeprägt hat. Wie klein wäre es 2006 gewesen, nicht zu Jens zu gehen. Ich sagte zu ihm: 'Das ist jetzt dein Moment. Nutze ihn, bring uns weiter.'"

Und so ging Oliver Kahn erhobenen Hauptes aus dem deutschen Tor, ein letztes Mal gefeiert von seinem Publikum im Spiel um Platz 3 gegen Portugal.

Die Karriere nach der Karriere

In der Bundesliga spielte er noch zwei Jahre und verließ sie im Mai 2008 als achtmaliger Meister und – kaum verwunderlich – als derjenige Profi, der am öftesten ein Bundesligaspiel gewann (310-mal). Dann ging er seinen Weg weiter, bildete sich fort, studierte Betriebswirtschaft (in Salzburg), gründete eine Stiftung und ein Unternehmen zur Förderung von Torwarttalenten, macht sich auch in der Werbung nicht rar und als Experte des ZDF mittlerweile eine richtig gute Figur. Wie sagte er doch nach seiner Karriere, die er am 2. September 2008 mit einem Abschiedsspiel in der ausverkauften Allianz Arena standesgemäß beendete?

"Ich werde alles tun, um auf meinem zweiten Weg genauso erfolgreich zu sein wie auf meinem ersten. Einfach weil ich nicht anders kann." Der FC Bayern kann sich freuen. Dass er 2021 der neue Vorstandsvorsitzende wird, bezweifelt niemand mehr. Die Weichen sind gestellt, beide Seiten wollen es. Da gab es schon größere Hürden im Leben des Oliver Kahn.

Sein Steckbrief

Geboren am: 15. Juni 1968 in Karlsruhe

Länderspiele: 86 (1995 bis 2006)

Vereine: Karlsruher SC (1975 bis 1994), Bayern München (1994 bis 2008)

Titel: Europameister 1996 (als Reservist), Champions League-Gewinner 2001, Uefa-Pokalsieger 1996, Deutscher Meister: 1997, 1999, 2000, 2001, 2003, 2005, 2006, 2008, DFB-Pokalsieger: 1998, 2000, 2003, 2005, 2006, 2008, Weltpokal-Sieger 2001

Wichtigste persönliche Auszeichnungen: Welt-Torwart des Jahres 1999, 2001, 2002, Europas Torhüter des Jahres 1999, 2000, 2001, 2002, Deutschlands Fußballer des Jahres 2000, 2001

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Am Anfang einer Weltkarriere steht immer ein Schlüsselmoment. Bei Oliver Kahn waren die Großeltern verantwortlich, die ihm zum 6. Geburtstag eine damals gar nicht so einfach zu bekommende Torwartausrüstung aus der Sepp-Maier-Kollektion schenkten. Vorbei war die Stürmerkarriere, die E-Jugend des Karlsruher SC musste sich einen neuen Torjäger suchen. Dafür hatte sie nun einen guten Torwart. Sehr gut war er nicht. Talent und Ehrgeiz des jungen Oliver, der heute seinen 50. Geburtstag feiert, standen in einem gewissen Gegensatz. Mit 15 sortierten sie ihn aus der Karlsruher Kreisauswahl wieder aus, mit 17 wurde ihm in der B-Jugend ein anderer Torwart vor die Nase gesetzt. In einer U-Nationalmannschaft spielte er nie. Wie konnte er trotzdem zum weltbesten Torwart, zum "Titan" werden?

Weil wirklich stimmt, was ihm immer nachgesagt wurde: Er war besessen. In einem Fragebogen des Bayern-Magazins antwortete er noch im letzten Karrierejahr 2008 unter der Rubrik Eigenschaften: "Ungeduldig, diszipliniert, ehrgeizig". In seinem an die Jugend gerichteten Motivationsbuch mit dem Titel "Du packst es! Wie du schaffst, was du willst", lässt er 2012 tief blicken in die Gefühlswelt eines vom Ehrgeiz getriebenen jungen Mannes. Da ist von Zetteln auf Badezimmerspiegeln die Rede, auf denen stand: "Du bist besser als Dein Konkurrent, du wirst ihn irgendwann überholen."

Da berichtet er von privaten Trainingseinheiten mit Papa Rolf, einem Kind der Bundesliga (KSC-Profi 1963 bis 1965) am frühen Sonntag im Wildpark, bei Wind und Wetter, und von Spaziergängern, die ihnen den Vogel zeigten. Oder davon, wie er bei Bundesligaspielen des Karlsruher SC allein mit einem Ball vor dem Stadion trainierte und sich vorstellte, der Jubel im Stadion gelte ihm. "Eines Tages, so dachte ich es mir nach solchen 'Traumspielen', wird es so weit sein. Ein Stadion voller Menschen und in einem der beiden Tore stehe ich!"

Die "Zielsetzungskette": Kahn und seine Etappenziele

Rainer Ullrich, sein Trainer in der Amateurmannschaft des KSC, erzählte: "Es gab Tage, da hat er dreimal trainiert. Zuerst mit den Profis, dann mit den Amateuren, dann im Kraftraum." Und es gibt die legendäre Anekdote von seinem Konkurrenten im Bundesligateam des KSC, Alexander Famulla, der in der Mannschaft erzählte, er wolle lieber nicht mit Kahn in einem Zimmer schlafen, weil er fürchte, der ersticke ihn sonst mit einem Kissen. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, spürte: Der will ein Großer werden. Ob er es werden würde? Da gab es lange Zweifel. Drei Jahre schmorte er hinter Famulla auf der Bank, ehe ihn Winfried Schäfer im November 1990 mitten im Spiel zur Nummer eins in Karlsruhe beförderte.

Damit hatte er die nächste Stufe seines Karriereplans, der aus sieben Etappen bestand, erreicht. Nummer eins war der Platz im Tor der Amateure, Nummer zwei ein Bundesligaeinsatz. Er nannte das seine "Zielsetzungskette" und die sah als nächsten Punkt Europapokalspiele mit dem KSC vor. Auch das kam nicht über Nacht, aber 1993/1994 berauschte der Karlsruher SC die Fußballwelt und erreichte das Halbfinale des Uefa-Pokals. Auf dem Weg dahin gab es das legendäre 7:0 gegen Valencia. Nur wenige Tage nach jenem Novemberabend 1993 näherte sich Kahn seinen nächsten Etappenzielen. Punkt 5 lautete: "Ich will zum FC Bayern München wechseln und Deutscher Meister werden." Prompt klingelte im Hause Kahn das Telefon und er erinnert sich noch genau an den Beginn des Gesprächs, das die nächste Weiche stellte:

"Hallo, hier ist Uli Hoeneß. Wir wollen Sie haben!" Das Ansinnen des Bayern-Managers harmonierte bestens mit Kahns Zielen und so wechselte er im Sommer 1994 nach München. Da durfte er schon vom nächsten Etappenziel träumen: Nationalspieler zu werden. Er war ja immerhin schon 25. Ende 1993 durfte er noch als KSC-Keeper zu einem Lehrgang und sich erstmals von Bundestorwarttrainer Sepp Maier triezen lassen. Dessen Urteil war ernüchternd: "Was ist denn das für ein steifer Hund?" Bei der WM in den USA war er als Statist trotzdem schon dabei, das erste Länderspiel von 86 machte er aber erst am 21. Juni 1995 in Zürich – gegen Italien.

Noch musste er warten, noch gab es Andreas Köpke, mit dem Deutschland 1996 Europameister wurde. Kahn saß auf der Ersatzbank, wie auch bei seinem dritten Turnier – der WM 1998 in Frankreich. Dort "will ich spielen", kündigte er schon 1996 an und durfte es doch nicht. Seiner Miene sah man seine Unzufriedenheit an, aber er ertrug sein Los und tröstete sich mit den Erfolgen im Verein. 1996 holte der FC Bayern den UEFA-Pokal, 1997 endlich die Meisterschaft, nachdem er sich schon panisch eingeredet hatte: "Mit dem Kahn werden die Bayern nie Meister!" Nun verstummten die inneren Zweifel, von denen auch einer wie er nie frei war. Dass er "eigentlich ein ängstlicher Typ" sei, gehört zu den erstaunlichsten Selbstbekenntnissen des Oliver Kahn, vor dem ab Mitte der Neunziger eigentlich alle Angst hatten – auch die Mitspieler.

Unvergessen, wie er 1996 den armen Andreas Herzog durchrüttelte und schubste. Häufiger freilich ging er Gegenspieler an. Um der eigenen Anspannung ein Ventil zu schaffen und die Kollegen aufzuwecken, würgte, bohrte und biss er um sich. Und da war der legendäre angedeutete Kung-Fu-Tritt in Richtung des Dortmunders Stephane Chapuisat, der ins Bilderbuch seiner Karriere gehört. Das war 1999, als er sich dem Gipfel seiner Karriere näherte, während es mit dem deutschen Fußball bergab ging.

Emotionen auf dem Höhepunkt: Drei nervenaufreibende Endspiele

Es war die bleierne Zeit. Die Nationalmannschaft war 1998 im WM-Viertelfinale ausgeschieden und stürzte nach dem Rücktritt von Bundestrainer Berti Vogts immer tiefer. Ihr größter Rückhalt war Oliver Kahn, von Erich Ribbeck zur neuen Nummer eins und zum Kapitän befördert, der er auch unter Rudi Völler (2000 bis 2004) blieb. 50-mal trug er in 86 Spielen die Binde, aber auch er konnte nicht verhindern, dass man bei der EM 2000 und der EM 2004 in der Vorrunde ausschied.

Dazwischen allerdings lag die merkwürdige WM 2002 in Asien, für die sich Deutschland erst durch die Hintertür qualifizierte, aber bis ins Finale kam. Auf dem Weg dahin kassierte das Team nur ein Tor und das war Kahns Werk. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", fragte der kicker gleichsam überspitzt wie treffend. Es waren die Tage, da Kahn zum "Titan" wurde. Die Wortschöpfung des Boulevard begleitete ihn für sein weiteres Leben und war nicht zu hoch gegriffen. Dann kam das Finale von Yokohama und dieser verflixte Aufsetzer von Rivaldo, den Kahn mit angebrochenem Finger nicht festhalten konnte. Ronaldo staubte ab und entschied das Spiel für Brasilien (Endstand 2:0). Alle verziehen ihm, er sich nicht. Kahn, der sich immer schwer damit tat, Fehler zu verarbeiten, lehnte, kauerte, hockte minutenlang am Torpfosten und stierte vor sich hin. Auch das ein Bild seines Lebens.

"Nach dem Schlusspfiff wünschte ich mir nichts sehnlicher als dass sich vor mir ein Loch auftäte und mich verschluckt." Es war noch schlimmer als das Finale der Champions League 1999 gegen Manchester United (1:2), das die Bayern in der Nachspielzeit verloren. Dafür entschädigten sie sich 2001, als Kahn im Mailänder Finale gegen Valencia im Elfmeterschießen drei Bälle parierte. Aber dass die Chance eines WM-Finales noch mal käme, daran glaubte er in diesem Moment nicht. "Ich hatte plötzlich kein Ziel mehr vor Augen" und das war fatal für den sein Leben lang so Zielstrebigen.

Kahn: "Möglicherweise fatal, wenn wir Weltmeister geworden wären"

Er fiel in ein Loch und genoss plötzlich das Leben, zog sich flippiger, trug eine neue Frisur, verließ seine Frau und ging feiern. Im Rückblick sagte er 2016: "Möglicherweise wäre es für mich als Mensch fatal gewesen, wenn wir 2002 Weltmeister geworden wären. Vieles, von dem ich bis dahin überzeugt war, die extreme Besessenheit, dieses Leben wie in einem Tunnel, wurde durch die Niederlage in gesündere Bahnen gelenkt."

Trotzdem wäre er 2006 bei der Heim-WM gerne Weltmeister geworden, doch der neue Bundestrainer Jürgen Klinsmann entschied sich für seinen langjährigen Rivalen Jens Lehmann als den "moderneren Torwart", sprich den besseren Fußballer. Bälle halten war nicht mehr genug, Spieleröffnung fast genauso wichtig.

Sepp Maier war nicht dieser Meinung, ein Disput in dieser Frage beendete die Karriere des Bundestorwarttrainers, der von Kahn eine derart gute Meinung hat, dass er tatsächlich behauptete: "Nicht meine 20 Jahre als Aktiver, sondern meine 14 Jahre mit ihm waren meine schönsten Jahre beim FC Bayern." Denn auch in München war er sein Torwarttrainer, der einst von Hoeneß den Auftrag erhalten hatte: "Sepp, ich habe Dir einen Edelstein gekauft. Schleif ihn zu einem Diamanten!" Auftrag erfüllt. Aber auch der Mensch Kahn entwickelte sich weiter.

Helmut Schmidt als Vorbild

Er ertrug sein Los bei der WM 2006 tapfer und als er Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien Mut zusprach, wurde das medial gehypt und als große Geste gefeiert. Für ihn war es nichts Besonderes, seine Erklärung zeugt indes von seiner Reife, die dem sich auf dem Platz oft so wild gebärdenden Mann wohl nur wenige zugetraut hätten:

"Ich hatte das Glück, als 13-Jähriger Helmut Schmidt als Vorbild zu haben. Er wurde 1982 durch ein Misstrauensvotum vom Bundestag abgewählt. Es gab einen Moment, den ich immer im Kopf trage: Als Schmidt durch die Reihen marschierte und als großer Staatsmann Helmut Kohl, seinem Nachfolger und Kontrahenten als Bundeskanzler, die Hand reicht. Das war ein Moment der Größe, der sich bei mir eingeprägt hat. Wie klein wäre es 2006 gewesen, nicht zu Jens zu gehen. Ich sagte zu ihm: 'Das ist jetzt dein Moment. Nutze ihn, bring uns weiter.'"

Und so ging Oliver Kahn erhobenen Hauptes aus dem deutschen Tor, ein letztes Mal gefeiert von seinem Publikum im Spiel um Platz 3 gegen Portugal.

Die Karriere nach der Karriere

In der Bundesliga spielte er noch zwei Jahre und verließ sie im Mai 2008 als achtmaliger Meister und – kaum verwunderlich – als derjenige Profi, der am öftesten ein Bundesligaspiel gewann (310-mal). Dann ging er seinen Weg weiter, bildete sich fort, studierte Betriebswirtschaft (in Salzburg), gründete eine Stiftung und ein Unternehmen zur Förderung von Torwarttalenten, macht sich auch in der Werbung nicht rar und als Experte des ZDF mittlerweile eine richtig gute Figur. Wie sagte er doch nach seiner Karriere, die er am 2. September 2008 mit einem Abschiedsspiel in der ausverkauften Allianz Arena standesgemäß beendete?

"Ich werde alles tun, um auf meinem zweiten Weg genauso erfolgreich zu sein wie auf meinem ersten. Einfach weil ich nicht anders kann." Der FC Bayern kann sich freuen. Dass er 2021 der neue Vorstandsvorsitzende wird, bezweifelt niemand mehr. Die Weichen sind gestellt, beide Seiten wollen es. Da gab es schon größere Hürden im Leben des Oliver Kahn.

Sein Steckbrief

Geboren am: 15. Juni 1968 in Karlsruhe

Länderspiele: 86 (1995 bis 2006)

Vereine: Karlsruher SC (1975 bis 1994), Bayern München (1994 bis 2008)

Titel: Europameister 1996 (als Reservist), Champions League-Gewinner 2001, Uefa-Pokalsieger 1996, Deutscher Meister: 1997, 1999, 2000, 2001, 2003, 2005, 2006, 2008, DFB-Pokalsieger: 1998, 2000, 2003, 2005, 2006, 2008, Weltpokal-Sieger 2001

Wichtigste persönliche Auszeichnungen: Welt-Torwart des Jahres 1999, 2001, 2002, Europas Torhüter des Jahres 1999, 2000, 2001, 2002, Deutschlands Fußballer des Jahres 2000, 2001

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