Der "Bomber der Nation": Ehrlich, bescheiden, erfolgreich

Deutschland trauert um einen seiner beliebtesten Sportler. Gerd Müller, nicht nur Fußballfans ein Begriff, ist im Alter von 75 Jahren verstorben. Er war der "Bomber der Nation", Deutschlands größter Torjäger überhaupt. Er stellte Rekorde auf, die für die Ewigkeit gemacht schienen, selbst wenn der eine oder andere dann doch noch fiel. Ein Phänomen aber wird er auch in der Rückschau immer bleiben.

Sein Beiname hat ihm nie gefallen. Das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Rein fachlich nicht, denn "ich bomb ja meine Tore net, ich mach sie ja aus dem Sechzehner." Es sind schließlich selten die schönsten, aber meist die wichtigen Tore gewesen. Er war, wie sein Bundestrainer Helmut Schön sagte, "der Mann der kleinen Tore". Legendär etwa der Treffer zum 2:1 im WM-Halbfinale 1970 gegen Italien, als der Ball gerade so über die Linie kroch. "Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt", sagte Reporter Ernst Huberty damals in Mexiko, als Müller mit zehn Treffern Torschützenkönig und weltweit populär wurde.

Auch mit seinem Charakter hat der vom Boulevard erfundene Name nie korrespondiert. Denn Gerd Müller war ein friedliebender Mensch, der allen Konflikten am liebsten aus dem Weg ging und sich im Leben immer im Hintergrund hielt, auch wenn er allen Grund gehabt hätte, sich in die erste Reihe zu drängeln. Er starb, wie er gelebt hatte. Still und zurückgezogen.

Am 3. November wurde er 75, schon damals gab es Zweifel, ob er diesen Tag noch erleben würde. Von großen Feierlichkeiten wurde jedenfalls Abstand genommen. Gerd Müller lebte schon länger in einer anderen Welt. Besucher erkannte er nicht, so viel sie auch miteinander verbinden mochte, was dazu führte, dass immer weniger der Freunde und Kameraden von einst den Weg in die Demenzklinik in Wolfratshausen bei München fanden. Der Jubilar, den ein ganzes Land in seiner Karriere so oft hochleben ließ, hatte nichts zu feiern. Er wusste schon lange nicht mehr, was er einmal geleistet hat für seinen FC Bayern München, für Deutschland und den Fußball.

"Wichtigster und größter Fußballer, den Deutschland nach 1954 hatte"

Krank war er schon länger. Zunächst plagte ihn ein anderer Teufel - der Alkohol. 1991 wurde seine Abhängigkeit publik, er machte auf Drängen seiner Freunde beim FC Bayern eine erfolgreiche Entziehungskur und schien zumindest diesen Kampf gewonnen zu haben. Aber es kam noch schlimmer. Im Februar 2015 wurde er in die Demenzklinik eingeliefert. Es begann eine schwere Zeit für seine Frau Uschi, die ihn täglich besuchte, und Tochter Nicole. Sie erkannte er noch, die alten Weggefährten von einst aber waren irgendwann nur noch diffuse Schatten vor seinen Augen. Er hat sie alle vergessen, den Kaiser, den Maier Sepp, den Paule und den Uli, mit denen er den FC Bayern in den Siebzigern in den Fußballhimmel geschossen hat. Viele sagen, er war der Wichtigste von allen. Breitner etwa. "Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat." Oder Franz Beckenbauer. "Vielleicht wären wir ohne Gerd Müller und seine Tore noch immer in unserer alten Holzhütte an der Säbener Straße", sagte der Kaiser bei jeder Gelegenheit.

Denn im Fußball zählen Tore und wenn einer dafür stand, dann er. Zu seiner Zeit nannte man Toreschießen "müllern", der häufigste deutsche Nachname wurde zum Prädikat und sein prominentester Träger zur Marke. Gewiss ist: Ohne ihn hätte die Bayern-Rakete wohl nie dermaßen gezündet und auch die deutsche Nationalmannschaft wäre um manchen Erfolg ärmer gewesen. Europameister 1972 und Weltmeister 1974 ohne Müller-Tore? Unvorstellbar.

Wer war dieser Gerd Müller? Den Jüngeren muss man sie schon wieder erzählen, diese unglaubliche Geschichte. Noch immer ist er das Synonym für einen Torjäger, sind seine Werte Maßstab für jene, die ihm folgten. Keiner hat mehr Bundesliga-Tore geschossen als er (365), keiner mehr DFB-Pokaltore (78) und kein Deutscher mehr Europapokaltore (65) - alle für Bayern München. Bis 2014 war er auch Rekordtorschütze der deutschen Nationalmannschaft (68 Tore in 62 Länderspielen), ehe ihn Miroslav Klose bei der WM in Brasilien überholte. Klose rüttelte kein bisschen an Müllers Denkmal: "Ich glaube nicht, dass man mich mit ihm in einem Atemzug nennen wird. Ich habe doppelt so viele Spiele, einen Vergleich braucht man nicht zu machen."

Verteidiger verzweifeln, Rekorde am Fließband

Keiner besteht einen Vergleich mit Müller, auch nicht 37 Jahre nach seinem letzten Tor für die Smith Brouthers Lounge in Florida, wo er seine Karriere ausklingen ließ. Wie auch? Siebenmal gewann Müller von 1967 bis 1978 die Kanone für den besten Bundesligatorschützen einer Saison, seine 40 Treffer 1971/1972 wurden erst dieses Jahr von Robert Lewandowski übertroffen. Gerade so.

Zweimal bekam er den Goldenen Schuh für den besten Torjäger in Europas Ligen, 1970 wurde er in Mexiko mit zehn Treffern WM-Torschützenkönig und im selben Jahr als erster Deutscher Europas Fußballer des Jahres. Noch vor Franz Beckenbauer und Günter Netzer, das machte ihn gehörig stolz. Gegen ihn war kein Kraut gewachsen, Hunderte von Verteidiger verzweifelten an ihm. Müller war ein Phänomen, "im Mittelalter hätte man ihn der Hexerei verdächtigt", schrieb mal ein Reporter des Kicker.

Niemand hatte seinen Torinstinkt, seine Reaktionsschnelligkeit. So leicht holte ihn keiner von seinen kurzen stämmigen Beinen und gegen seine Schüsse aus der Drehung, ob mit rechts oder links, waren Legionen von Torhüter machtlos. Wie der Niederländer Jan Jongbloed, den er am 7. Juli 1974 im WM-Finale überwand. Sein flacher Drehschuss nach eigentlich misslungener Ballannahme war das Tor zum Titel und ARD-Reporter Rudi Michel sagte anerkennend: "Tore, die Müller macht - die eigentlich nur Müller macht. Weil er die kürzesten Reflexe hat." Und weil er immer auf Zack war. Oft unbeteiligt wirkend, schlug er noch im letzten Moment zu. "Außerhalb des Strafraums ist er ein Lamm, innerhalb wird er zum reißenden Wolf", seufzte der Österreicher Norbert Hof nach einem Länderspiel, das sein Gegenspieler mit einem typischen Müller-Tor entschieden hatte.

Bescheiden, ehrlich und nie berechnend

Außerhalb des Spielfelds aber war er schutzbedürftig. Kurz nach dem Krieg als Kind armer Leute im schwäbischen Nördlingen geboren, genoss er nur eine geringe Schulbildung. Mit Mühe schloss er eine Weberlehre ab. Nur auf dem Fußballplatz hatte er keine Mühe, sondern seine Gegner mit ihm.

Müller lernte das Kicken auf der Straße, so wie seine ganze Generation. "Man hörte schon am Klappern der Blechbüchsen, wenn er von der Schule heimkam", erinnerte sich einer seiner Jugendtrainer beim TSV 1861 Nördlingen. Dort sind sie sehr bemüht, Müllers Andenken zu bewahren. Im ersten Stock des Postamts am Hauptbahnhof haben sie einen Archivraum angemietet, der voller Müller-Devotionalien und Erinnerungen steckt. Dennoch kann keiner mit Bestimmtheit sagen, wann genau Müller in den Verein eingetreten ist. Es gibt keinen Spielerpass mehr und keine Spielberichte aus der Schüler-Zeit. Die 2015 erschienene Biografie "Der Bomber der Nation" widerlegt die bisherigen Versionen, die diversen, teils auch von ihm selbst, in die Welt gesetzt wurden (mit acht, neun oder elf Jahren?). Müller war in Wahrheit ein Spätstarter, der erst mit zwölf Jahren in den Verein ging.

Sein erster Trainer Kurt Tahedl kann sich noch gut an den Tag erinnern, als ein Freund den kleinen Gerd zum Training mitbrachte. Es soll im Sommer 1958 gewesen sein, vorher war Tahedl nachweislich nicht Trainer. Am 24. August 1958 soll er im benachbarten Öttingen seine ersten Tore geschossen haben, gleich drei beim Debüt. Auch das kann keiner mehr nachweisen, ebenso wenig wie die kolportierten 180 Tore zu belegen sind, die er für die Jugendmannschaft in der Saison 1962/1963 geschossen haben soll - wohl aber die 26 Tore beim 31:2 gegen den SV Holzkirchen.

Eine Sensation war er allemal, zumal er erblich nicht vorbelastet gewesen ist, die Eltern jedenfalls haben keinerlei sportliche Meriten erworben. Mit 17 debütierte Gerd in der ersten Mannschaft, die er 1964 in die vierte Liga schoss. Er selbst stieg prompt in die 2. Liga, damals die "Regionalliga Süd", auf. Denn seine Tore hatten sich herumgesprochen und ein Friseurmeister, der FC Bayern-Mitglied war, sprach ihn an Pfingsten 1964 an, ob er nicht nach München kommen wolle. "Wollen schon, aber die werden nicht grad auf mich warten", gab er zu Antwort. Typisch Müller. Bescheiden, ehrlich und nie berechnend.

Wechsel zum FC Bayern: 4400 DM Ablöse

Die Antwort konnte den Wechsel, der für den deutschen Fußball von historischer Bedeutung werden sollte, nicht verhindern. Obwohl es noch ein Problem mit einem Mitbewerber gab. Am Anfang von Müllers Karriere stand eine Posse. Statt der Bayern hatten sich die Münchner Löwen, damals Bundesligist, im Juni 1964 im Hause Müller angekündigt. Mutter und Sohn hatten also mit Besuch gerechnet, aber zuerst kamen die Bayern, die vom Löwen-Plan Wind bekommen hatten. Unangemeldet.

Erst nach einer Weile merkte Müller, wer da wirklich um ihn warb. Die Unterhändler Walter Fembeck und Peter Sorg hatten Müller schon fast weichgekocht, als plötzlich der angemeldete Löwen-Abgesandte kam. Die Bayern wurden durch die Hintertür aus dem Haus geschleust und warteten in einem Wirtshaus direkt gegenüber. Müller speiste den Löwen ab und sagte den wieder einbestellten Bayern zu, wo er größere Einsatzchancen sah.

Für 4400 DM Ablöse ließ ihn der TSV Nördlingen schweren Herzens ziehen. Auch Müller fiel der Abschied nicht leicht, weshalb er mit seinen Kumpels in den letzten Wochen laut seiner Biografie vor dem Umzug alle 54 (!) Nördlinger Gaststätten besuchte, um Adieu zu sagen. So war er.

In der Großstadt München tat er sich zunächst schwer. Er kannte ja niemanden, fuhr kein Auto und war schüchtern. Als er sich den Mitspielern mit den Worten "I bin der Torjäger aus Nördlingen" vorstellte, brüllten die vor Lachen. Wegen seines Dialekts und weil sich keiner vorstellen konnte, dass "kleines dickes Müller", wie ihn Trainer Tschik Cajkovski titulierte, überhaupt Fußball spielen könne.

Normalität als Teil der Popularität

"Hast Du Sohn mitgebracht? Ist er Ringer!", pflaumte er Vorstand Peter Sorg an. "Haben unmögliche Figur. Kann nie werden große Fußballer." Im Ranking kolossaler Fehleinschätzungen eines Fußballers nimmt Cajkovski seither auf ewig einen Spitzenplatz ein. Denn nachdem er auf die schon erpresserische Forderung seines Präsidenten Wilhelm Neudecker ("Sonst gehe ich nie mehr auf den Fußballplatz") eingegangen war und ihn im Oktober 1964 in Freiburg endlich aufstellte, nahm die gigantischste Torfabrik auf deutschem Boden ihre Arbeit auf. Mit Hochdruck!

Statistiker mühten sich jahrelang ab, alle seine Treffer zu zählen. Der wohl akribischste, Walter Grüber, hat sie in einem 56-seitigen Büchlein des Weltbild-Verlags aufgelistet und kommt allein im Seniorenbereich auf 1497 in 1222 Spielen - in allen Wettbewerben, Testspiele und Hallenturniere inklusive. Mehr Tore als Spiele, oder anders gesagt: Ein Müller-Tor war obligatorisch, wenn der Schiedsrichter anpfiff. Nur selten fiel keins, manchmal dafür fünf.

Er wurde ein Weltstar, ohne es zu wollen. Eigentlich eignete er sich nicht dafür, in der heutigen Zeit wäre er gewiss nicht auf Instagram aktiv gewesen, hätte sich die Haare nicht gefärbt und keine Tattoos stechen lassen. Seine Normalität war Teil seiner Popularität, ihn meinte man nicht, wenn von "den arroganten Bayern" die Rede war. Gerd Müller sprach keine Fremdsprachen, hatte panische Flugangst und strotzte außerhalb seines Terrains, dem Fußballplatz, nie vor Selbstvertrauen. Medientermine waren ihm ein Greul und "wenn er mal ins Sportstudio musste, haben wir immer vor dem Fernseher gesessen und gehofft, dass alles gut geht", wird Dr. Wilfried Sponsel, Stadtarchivar von Nördlingen, in der Müller-Biografie zitiert.

Als er zum Karriereende Beckenbauer als Kapitän in München ablösen musste, fühlte er sich äußerst unwohl. Mitspieler können sich an keine flammende Rede erinnern. Stolz aber hatte er. 1979 ging er im Zorn auf seine Bayern nach einer Auswechslung in Frankfurt mitten in der Saison nach Florida, schoss noch ein paar Tore auf Kunstrasen und eröffnete nebenbei ein Steakhouse.

Fotografisches Gedächtnis fällt Demenz zum Opfer

Das "Ambry" ist längst in anderen Händen, aber bis heute erinnern ein paar Bilder und ein Bayern-Wimpel an den prominenten Vorbesitzer, für den die Zeit in Amerika keine glückliche war. Nach drei Jahren kehrte er in sein geliebtes München zurück und stand vor dem Nichts. Lange schlafen, Tennis spielen, Fußball gucken, ab und an ein Prominentenspiel. Das war sein Tag. Müller hatte nicht das Zeug zum autoritären Trainer, cleveren Manager oder eloquenten TV-Experten und es hatte auch keiner auf ihn gewartet.

Immer häufiger griff er zur Flasche, Whisky-Cola schon am Nachmittag. "Du bist oben, schwebst im Himmel. Und fällst und fällst. Plötzlich bist Du in der Hölle", sagte er, "ich habe sehr gelitten und ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft." Zum Glück, es gab sie noch. Der FC Bayern reichte ihm die Hand, Uli Hoeneß versprach ihm quasi einen Vertrag auf Lebenszeit. Und so beschäftigten sie ihn als Stürmertrainer, Co-Trainer der Amateure und der Profis, Jugendtrainer oder Scout und in den VIP-Logen erzählte er den Sponsoren an Spieltagen von früher. Da war er in seinem Element, sein Gedächtnis war fotografisch, über Fußball wusste er alles und seine Tore vergaß er nie, so viele es auch waren.

Erst die schreckliche Krankheit, die den Patienten zum Vergessen verdammt, beendete dieses rührende Arrangement der Menschlichkeit. Nun muss sich auf Erden keiner mehr um ihn kümmern. Das stimmt all jene, die ihn kannten und nicht nur wegen seiner Tore liebten, unendlich traurig.

Doch so viel ist sicher: Wenn es einen Fußballgott gibt, dann hat er jetzt einen Mittelstürmer in seinem Team. Den Allerbesten!

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Deutschland trauert um einen seiner beliebtesten Sportler. Gerd Müller, nicht nur Fußballfans ein Begriff, ist im Alter von 75 Jahren verstorben. Er war der "Bomber der Nation", Deutschlands größter Torjäger überhaupt. Er stellte Rekorde auf, die für die Ewigkeit gemacht schienen, selbst wenn der eine oder andere dann doch noch fiel. Ein Phänomen aber wird er auch in der Rückschau immer bleiben.

Sein Beiname hat ihm nie gefallen. Das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Rein fachlich nicht, denn "ich bomb ja meine Tore net, ich mach sie ja aus dem Sechzehner." Es sind schließlich selten die schönsten, aber meist die wichtigen Tore gewesen. Er war, wie sein Bundestrainer Helmut Schön sagte, "der Mann der kleinen Tore". Legendär etwa der Treffer zum 2:1 im WM-Halbfinale 1970 gegen Italien, als der Ball gerade so über die Linie kroch. "Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt", sagte Reporter Ernst Huberty damals in Mexiko, als Müller mit zehn Treffern Torschützenkönig und weltweit populär wurde.

Auch mit seinem Charakter hat der vom Boulevard erfundene Name nie korrespondiert. Denn Gerd Müller war ein friedliebender Mensch, der allen Konflikten am liebsten aus dem Weg ging und sich im Leben immer im Hintergrund hielt, auch wenn er allen Grund gehabt hätte, sich in die erste Reihe zu drängeln. Er starb, wie er gelebt hatte. Still und zurückgezogen.

Am 3. November wurde er 75, schon damals gab es Zweifel, ob er diesen Tag noch erleben würde. Von großen Feierlichkeiten wurde jedenfalls Abstand genommen. Gerd Müller lebte schon länger in einer anderen Welt. Besucher erkannte er nicht, so viel sie auch miteinander verbinden mochte, was dazu führte, dass immer weniger der Freunde und Kameraden von einst den Weg in die Demenzklinik in Wolfratshausen bei München fanden. Der Jubilar, den ein ganzes Land in seiner Karriere so oft hochleben ließ, hatte nichts zu feiern. Er wusste schon lange nicht mehr, was er einmal geleistet hat für seinen FC Bayern München, für Deutschland und den Fußball.

"Wichtigster und größter Fußballer, den Deutschland nach 1954 hatte"

Krank war er schon länger. Zunächst plagte ihn ein anderer Teufel - der Alkohol. 1991 wurde seine Abhängigkeit publik, er machte auf Drängen seiner Freunde beim FC Bayern eine erfolgreiche Entziehungskur und schien zumindest diesen Kampf gewonnen zu haben. Aber es kam noch schlimmer. Im Februar 2015 wurde er in die Demenzklinik eingeliefert. Es begann eine schwere Zeit für seine Frau Uschi, die ihn täglich besuchte, und Tochter Nicole. Sie erkannte er noch, die alten Weggefährten von einst aber waren irgendwann nur noch diffuse Schatten vor seinen Augen. Er hat sie alle vergessen, den Kaiser, den Maier Sepp, den Paule und den Uli, mit denen er den FC Bayern in den Siebzigern in den Fußballhimmel geschossen hat. Viele sagen, er war der Wichtigste von allen. Breitner etwa. "Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat." Oder Franz Beckenbauer. "Vielleicht wären wir ohne Gerd Müller und seine Tore noch immer in unserer alten Holzhütte an der Säbener Straße", sagte der Kaiser bei jeder Gelegenheit.

Denn im Fußball zählen Tore und wenn einer dafür stand, dann er. Zu seiner Zeit nannte man Toreschießen "müllern", der häufigste deutsche Nachname wurde zum Prädikat und sein prominentester Träger zur Marke. Gewiss ist: Ohne ihn hätte die Bayern-Rakete wohl nie dermaßen gezündet und auch die deutsche Nationalmannschaft wäre um manchen Erfolg ärmer gewesen. Europameister 1972 und Weltmeister 1974 ohne Müller-Tore? Unvorstellbar.

Wer war dieser Gerd Müller? Den Jüngeren muss man sie schon wieder erzählen, diese unglaubliche Geschichte. Noch immer ist er das Synonym für einen Torjäger, sind seine Werte Maßstab für jene, die ihm folgten. Keiner hat mehr Bundesliga-Tore geschossen als er (365), keiner mehr DFB-Pokaltore (78) und kein Deutscher mehr Europapokaltore (65) - alle für Bayern München. Bis 2014 war er auch Rekordtorschütze der deutschen Nationalmannschaft (68 Tore in 62 Länderspielen), ehe ihn Miroslav Klose bei der WM in Brasilien überholte. Klose rüttelte kein bisschen an Müllers Denkmal: "Ich glaube nicht, dass man mich mit ihm in einem Atemzug nennen wird. Ich habe doppelt so viele Spiele, einen Vergleich braucht man nicht zu machen."

Verteidiger verzweifeln, Rekorde am Fließband

Keiner besteht einen Vergleich mit Müller, auch nicht 37 Jahre nach seinem letzten Tor für die Smith Brouthers Lounge in Florida, wo er seine Karriere ausklingen ließ. Wie auch? Siebenmal gewann Müller von 1967 bis 1978 die Kanone für den besten Bundesligatorschützen einer Saison, seine 40 Treffer 1971/1972 wurden erst dieses Jahr von Robert Lewandowski übertroffen. Gerade so.

Zweimal bekam er den Goldenen Schuh für den besten Torjäger in Europas Ligen, 1970 wurde er in Mexiko mit zehn Treffern WM-Torschützenkönig und im selben Jahr als erster Deutscher Europas Fußballer des Jahres. Noch vor Franz Beckenbauer und Günter Netzer, das machte ihn gehörig stolz. Gegen ihn war kein Kraut gewachsen, Hunderte von Verteidiger verzweifelten an ihm. Müller war ein Phänomen, "im Mittelalter hätte man ihn der Hexerei verdächtigt", schrieb mal ein Reporter des Kicker.

Niemand hatte seinen Torinstinkt, seine Reaktionsschnelligkeit. So leicht holte ihn keiner von seinen kurzen stämmigen Beinen und gegen seine Schüsse aus der Drehung, ob mit rechts oder links, waren Legionen von Torhüter machtlos. Wie der Niederländer Jan Jongbloed, den er am 7. Juli 1974 im WM-Finale überwand. Sein flacher Drehschuss nach eigentlich misslungener Ballannahme war das Tor zum Titel und ARD-Reporter Rudi Michel sagte anerkennend: "Tore, die Müller macht - die eigentlich nur Müller macht. Weil er die kürzesten Reflexe hat." Und weil er immer auf Zack war. Oft unbeteiligt wirkend, schlug er noch im letzten Moment zu. "Außerhalb des Strafraums ist er ein Lamm, innerhalb wird er zum reißenden Wolf", seufzte der Österreicher Norbert Hof nach einem Länderspiel, das sein Gegenspieler mit einem typischen Müller-Tor entschieden hatte.

Bescheiden, ehrlich und nie berechnend

Außerhalb des Spielfelds aber war er schutzbedürftig. Kurz nach dem Krieg als Kind armer Leute im schwäbischen Nördlingen geboren, genoss er nur eine geringe Schulbildung. Mit Mühe schloss er eine Weberlehre ab. Nur auf dem Fußballplatz hatte er keine Mühe, sondern seine Gegner mit ihm.

Müller lernte das Kicken auf der Straße, so wie seine ganze Generation. "Man hörte schon am Klappern der Blechbüchsen, wenn er von der Schule heimkam", erinnerte sich einer seiner Jugendtrainer beim TSV 1861 Nördlingen. Dort sind sie sehr bemüht, Müllers Andenken zu bewahren. Im ersten Stock des Postamts am Hauptbahnhof haben sie einen Archivraum angemietet, der voller Müller-Devotionalien und Erinnerungen steckt. Dennoch kann keiner mit Bestimmtheit sagen, wann genau Müller in den Verein eingetreten ist. Es gibt keinen Spielerpass mehr und keine Spielberichte aus der Schüler-Zeit. Die 2015 erschienene Biografie "Der Bomber der Nation" widerlegt die bisherigen Versionen, die diversen, teils auch von ihm selbst, in die Welt gesetzt wurden (mit acht, neun oder elf Jahren?). Müller war in Wahrheit ein Spätstarter, der erst mit zwölf Jahren in den Verein ging.

Sein erster Trainer Kurt Tahedl kann sich noch gut an den Tag erinnern, als ein Freund den kleinen Gerd zum Training mitbrachte. Es soll im Sommer 1958 gewesen sein, vorher war Tahedl nachweislich nicht Trainer. Am 24. August 1958 soll er im benachbarten Öttingen seine ersten Tore geschossen haben, gleich drei beim Debüt. Auch das kann keiner mehr nachweisen, ebenso wenig wie die kolportierten 180 Tore zu belegen sind, die er für die Jugendmannschaft in der Saison 1962/1963 geschossen haben soll - wohl aber die 26 Tore beim 31:2 gegen den SV Holzkirchen.

Eine Sensation war er allemal, zumal er erblich nicht vorbelastet gewesen ist, die Eltern jedenfalls haben keinerlei sportliche Meriten erworben. Mit 17 debütierte Gerd in der ersten Mannschaft, die er 1964 in die vierte Liga schoss. Er selbst stieg prompt in die 2. Liga, damals die "Regionalliga Süd", auf. Denn seine Tore hatten sich herumgesprochen und ein Friseurmeister, der FC Bayern-Mitglied war, sprach ihn an Pfingsten 1964 an, ob er nicht nach München kommen wolle. "Wollen schon, aber die werden nicht grad auf mich warten", gab er zu Antwort. Typisch Müller. Bescheiden, ehrlich und nie berechnend.

Wechsel zum FC Bayern: 4400 DM Ablöse

Die Antwort konnte den Wechsel, der für den deutschen Fußball von historischer Bedeutung werden sollte, nicht verhindern. Obwohl es noch ein Problem mit einem Mitbewerber gab. Am Anfang von Müllers Karriere stand eine Posse. Statt der Bayern hatten sich die Münchner Löwen, damals Bundesligist, im Juni 1964 im Hause Müller angekündigt. Mutter und Sohn hatten also mit Besuch gerechnet, aber zuerst kamen die Bayern, die vom Löwen-Plan Wind bekommen hatten. Unangemeldet.

Erst nach einer Weile merkte Müller, wer da wirklich um ihn warb. Die Unterhändler Walter Fembeck und Peter Sorg hatten Müller schon fast weichgekocht, als plötzlich der angemeldete Löwen-Abgesandte kam. Die Bayern wurden durch die Hintertür aus dem Haus geschleust und warteten in einem Wirtshaus direkt gegenüber. Müller speiste den Löwen ab und sagte den wieder einbestellten Bayern zu, wo er größere Einsatzchancen sah.

Für 4400 DM Ablöse ließ ihn der TSV Nördlingen schweren Herzens ziehen. Auch Müller fiel der Abschied nicht leicht, weshalb er mit seinen Kumpels in den letzten Wochen laut seiner Biografie vor dem Umzug alle 54 (!) Nördlinger Gaststätten besuchte, um Adieu zu sagen. So war er.

In der Großstadt München tat er sich zunächst schwer. Er kannte ja niemanden, fuhr kein Auto und war schüchtern. Als er sich den Mitspielern mit den Worten "I bin der Torjäger aus Nördlingen" vorstellte, brüllten die vor Lachen. Wegen seines Dialekts und weil sich keiner vorstellen konnte, dass "kleines dickes Müller", wie ihn Trainer Tschik Cajkovski titulierte, überhaupt Fußball spielen könne.

Normalität als Teil der Popularität

"Hast Du Sohn mitgebracht? Ist er Ringer!", pflaumte er Vorstand Peter Sorg an. "Haben unmögliche Figur. Kann nie werden große Fußballer." Im Ranking kolossaler Fehleinschätzungen eines Fußballers nimmt Cajkovski seither auf ewig einen Spitzenplatz ein. Denn nachdem er auf die schon erpresserische Forderung seines Präsidenten Wilhelm Neudecker ("Sonst gehe ich nie mehr auf den Fußballplatz") eingegangen war und ihn im Oktober 1964 in Freiburg endlich aufstellte, nahm die gigantischste Torfabrik auf deutschem Boden ihre Arbeit auf. Mit Hochdruck!

Statistiker mühten sich jahrelang ab, alle seine Treffer zu zählen. Der wohl akribischste, Walter Grüber, hat sie in einem 56-seitigen Büchlein des Weltbild-Verlags aufgelistet und kommt allein im Seniorenbereich auf 1497 in 1222 Spielen - in allen Wettbewerben, Testspiele und Hallenturniere inklusive. Mehr Tore als Spiele, oder anders gesagt: Ein Müller-Tor war obligatorisch, wenn der Schiedsrichter anpfiff. Nur selten fiel keins, manchmal dafür fünf.

Er wurde ein Weltstar, ohne es zu wollen. Eigentlich eignete er sich nicht dafür, in der heutigen Zeit wäre er gewiss nicht auf Instagram aktiv gewesen, hätte sich die Haare nicht gefärbt und keine Tattoos stechen lassen. Seine Normalität war Teil seiner Popularität, ihn meinte man nicht, wenn von "den arroganten Bayern" die Rede war. Gerd Müller sprach keine Fremdsprachen, hatte panische Flugangst und strotzte außerhalb seines Terrains, dem Fußballplatz, nie vor Selbstvertrauen. Medientermine waren ihm ein Greul und "wenn er mal ins Sportstudio musste, haben wir immer vor dem Fernseher gesessen und gehofft, dass alles gut geht", wird Dr. Wilfried Sponsel, Stadtarchivar von Nördlingen, in der Müller-Biografie zitiert.

Als er zum Karriereende Beckenbauer als Kapitän in München ablösen musste, fühlte er sich äußerst unwohl. Mitspieler können sich an keine flammende Rede erinnern. Stolz aber hatte er. 1979 ging er im Zorn auf seine Bayern nach einer Auswechslung in Frankfurt mitten in der Saison nach Florida, schoss noch ein paar Tore auf Kunstrasen und eröffnete nebenbei ein Steakhouse.

Fotografisches Gedächtnis fällt Demenz zum Opfer

Das "Ambry" ist längst in anderen Händen, aber bis heute erinnern ein paar Bilder und ein Bayern-Wimpel an den prominenten Vorbesitzer, für den die Zeit in Amerika keine glückliche war. Nach drei Jahren kehrte er in sein geliebtes München zurück und stand vor dem Nichts. Lange schlafen, Tennis spielen, Fußball gucken, ab und an ein Prominentenspiel. Das war sein Tag. Müller hatte nicht das Zeug zum autoritären Trainer, cleveren Manager oder eloquenten TV-Experten und es hatte auch keiner auf ihn gewartet.

Immer häufiger griff er zur Flasche, Whisky-Cola schon am Nachmittag. "Du bist oben, schwebst im Himmel. Und fällst und fällst. Plötzlich bist Du in der Hölle", sagte er, "ich habe sehr gelitten und ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft." Zum Glück, es gab sie noch. Der FC Bayern reichte ihm die Hand, Uli Hoeneß versprach ihm quasi einen Vertrag auf Lebenszeit. Und so beschäftigten sie ihn als Stürmertrainer, Co-Trainer der Amateure und der Profis, Jugendtrainer oder Scout und in den VIP-Logen erzählte er den Sponsoren an Spieltagen von früher. Da war er in seinem Element, sein Gedächtnis war fotografisch, über Fußball wusste er alles und seine Tore vergaß er nie, so viele es auch waren.

Erst die schreckliche Krankheit, die den Patienten zum Vergessen verdammt, beendete dieses rührende Arrangement der Menschlichkeit. Nun muss sich auf Erden keiner mehr um ihn kümmern. Das stimmt all jene, die ihn kannten und nicht nur wegen seiner Tore liebten, unendlich traurig.

Doch so viel ist sicher: Wenn es einen Fußballgott gibt, dann hat er jetzt einen Mittelstürmer in seinem Team. Den Allerbesten!

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