WM 1970: Jahrhundertspiel in der Höhe Mexikos

Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 9: Die WM 1970 in Mexiko

Obwohl sie bereits 40 Jahre zurückliegt, ist die Weltmeisterschaft 1970 nicht nur in Deutschland noch in bester Erinnerung. Mexiko sah die vielleicht besten und spannendsten Spiele der WM-Historie, von denen einige das Prädikat unvergesslich verdienen. Große Fußball-Schlachten unter sengender Sonne vor farbenprächtigen Kulissen besserten den Ruf der WM gewaltig auf. Eine WM, an der erstmals auch die ganze Welt vertreten sein durfte, jeder Kontinent hatte seinen Startplatz erhalten.

Deutschlands Halbfinale gegen Italien gilt gemeinhin als das Spiel des Jahrhunderts, was man drei Tage zuvor schon vom Viertelfinale gegen England gesagt hatte. Und das Finale zwischen Brasilien und Italien war keineswegs so einseitig, wie es das Ergebnis von 4:1 aussagt. Es gilt als eines der spielerisch besten der bisher 18 Endrunden und war ein würdiger Abschluss des Turniers, das zum letzten Mal im Zeichen des großen Pelé stand.

Um die Reise nach Mexiko bewarben sich 75 Länder, erneut eine Rekordzahl, und nicht jeder Traum platzte so schnell wie der der Kubaner, die sich nur per Telegramm statt brieflich anmeldeten und deshalb unvollständige Angaben machten. Schließlich zahlten sie auch die geforderten 1000 Schweizer Franken an Meldegebühr nicht und schieden schon vor dem ersten Anpfiff aus. Albanien verpasste die Anmeldefrist, was den Deutschen gewiss am wenigsten Leid tat. Waren sie doch auf dem Weg zur EM 1968 noch am Fußballzwerg aus dem Land der Skipetaren gescheitert. Der Zwerg, der ihnen nun den Weg nach Mexiko verstellen wollte, war von anderem Kaliber und zumindest im Rückspiel etwa auf Landesliga-Niveau: Zypern. So kam es im Mai 1969 in Essen zum bis heute höchsten deutschen WM-Qualifikationssieg von 12:0.

Weit schwerer fiel es, sich gegen die Österreicher und die Schotten zu behaupten. Im Nachbarland rettete ein typisches Gerd-Müller-Tor in letzter Sekunde den 1:0-Sieg und am 22. Oktober 1969 löste erst ein Traumtor von Stan Libuda gegen die Briten das Mexiko-Ticket (3:2).

Spannungen zwischen El Salvador und Honduras

Auf den anderen Kontinenten gab es wieder einige Turbulenzen, teils höchst unerfreulicher Natur. Allen voran der sogenannte „Fußball-Krieg“ zwischen den ohnehin verfeindeten Staaten El Salvador und Honduras. Nach dem Entscheidungsspiel (3:2 für El Salvador) auf neutralem Boden in Mexico City brach der Krieg aus, in dem es eigentlich um 300.000 Wirtschaftsflüchtlinge aus El Salvador ging, die Honduras nicht mehr im Land dulden wollte. Das Thema gärte schon länger, ein Fußballspiel sorgte schließlich für den Ausbruch der Spannungen. Der Sieger auf dem Platz marschierte schließlich mit 12.000 Mann im Nachbarland ein. Der Krieg kostete rund 2100 Menschen das Leben und wurde nach vier Wochen auf internationalen Druck hin beendet – nun gab es nur Verlierer.Und bei der WM sollte El Salvador rein sportlich zum Kanonenfutter werden.

Drei Spiele zwischen Tunesien und Marokko brachten keinen Sieger hervor, so dass ein Münzwurf nötig wurde. Er entschied pro Marokko – und so kam Deutschland überhaupt zu seinem ersten Gegner bei der Endrunde. Das wiederum entschied letztlich die zehnjährige Tochter des mexikanischen Verbandspräsidenten bei der Auslosung am 10. Januar 1970 in Mexico City. Auch Bulgarien und Peru fanden sich noch in der deutschen Gruppe und Bundestrainer Helmut Schön sagte erfreut: „Selbstverständlich beklage ich mich nicht über die Gruppeneinteilung.“

Es hätte in der Tat schlimmer kommen können. In Gruppe 3 trafen mit Titelverteidiger England und dem wieder erstarkten Brasilien, das mit 12:0 Punkten durch die Qualifikation marschiert war, die beiden Sieger der Turniere seit 1958 aufeinander.

Überhaupt war der Fußball-Hochadel nahezu komplett vertreten: Alle bisherigen Weltmeister spielten mit, so dass die Wahrscheinlichkeit vor Turnierbeginn am 31. Mai recht hoch war, dass der Sieger den Jules-Rimet-Pokal gleich für immer behalten würde. Denn Brasilien, Uruguay und Italien hatten jeweils die Chance, schon zum dritten Mal Weltmeister zu werden. Und dann, so beschloss es die Fifa, würde es einen neuen Pokal geben.

Aufgrund der endlich gelockerten Zulassungsbestimmungen reisten nach Mexiko aber auch mehr Teams denn je an, die einfach nur dabei sein wollten. El Salvador, Marokko und Israel, das diesmal Asien vertrat, nachdem es sich zuvor öfters mit Europäern hatte messen müssen, waren als WM-Neulinge krasse Außenseiter.

Höhe bereitet Kopfzerbrechen

Aber auch wer schon einen Namen hatte in der Fußball-Welt, fuhr durchaus mit flauen Gefühlen nach Mexiko. Die ungewohnte Höhenlage von teils über 2200 Metern und das drückende Klima rief Heerscharen von Bedenkenträgern auf den Plan, es schlug die Stunde der Wissenschaftler. Russen und Bulgaren fingen schon ein halbes Jahr vor Turnierbeginn mit Höhentraining an und noch bei der WM mussten die Spieler im Hotel täglich an die Sauerstoffflaschen. In Bulgarien wurde sogar die Meisterschaft für drei Monate unterbrochen, damit die Nationalspieler Ende 1969 auf Südamerikatournee gehen konnten.

Der Kicker beschwichtigte in seinem WM-Sonderheft die deutschen Schlachtenbummler: „Wenn Sie nicht gerade herz- oder lungenkrank sind, dann ist das mittelamerikanische Klima nicht schädlicher für Sie als etwa das von Spanien oder Portugal.“

Aber die Mexiko-Touristen zuverlässig ereilende Darmerkrankung „Montezumas Rache“ fürchteten dennoch alle. Hier empfahl der Kicker unter anderem: „Schenken Sie den Angestellten in Ihrem Hotel keinen Glauben, wenn man Ihnen versichert, nur destilliertes Wasser aufs Zimmer zu bringen. Es könnte Leitungswasser sein!“ Und allen, die Montezumas Rache dennoch treffen sollte, wurde geraten: „Geraten Sie nicht in Panik. Suchen Sie einen Arzt auf, der Sie in der Regel binnen kurzer Zeit wieder auf die Beine stellt.“

Helmut Schön wiederum empfahl seinen Spielern, was sonst kein Trainer empfiehlt: Alkohol. Zum Frühstück und zum Abendessen ein Glas Whiskey! Da die Deutschen alle gesund blieben, hat das Rezept wohl etwas für sich. Auch die DFB-Delegation traf aufgrund der klimatischen Verhältnisse besondere Vorsorge, Kiloweise waren Salz- und Vitamintabletten an Bord. Nur das 10.000 D-Mark teure Gefrierfleisch, dass Mannschaftskoch Hans Damker importieren wollte, passierte den Flughafen-Zoll nicht.

Einer der wenigen Misstöne bei der besonders akribischen Planung. Die Bundesliga-Saison wurde am 3. Mai so früh wie nie beendet und schon vierzehn Tage vor dem Auftaktspiel wurde Quartier in Balneario de Comanjilla bezogen, einer herrlichen Villenanlage in 30 Kilometer Nähe zum Spielort León. Der Besitzer war ein Deutscher, den Tipp gab Schön ein ausgewanderter Ex-Profi des 1. FC Saarbrücken. Man war Herrn Foitzik zu Dank verpflichtet.

Gerd Müller jedenfalls bewertete den Aufenthalt später so: „Es war ein Paradies. Wir hatten allen nur erdenklichen Komfort. Ich muss dem DFB ein dickes Lob aussprechen. Dieses Quartier war optimal. Wir hatten einen Fußballplatz in der Nähe und ein Schwimmbassin, was bei der Hitze besonders wichtig war. Zu Beginn haben wir ja gedacht, dass wir keine Luft bekämen. Solche Schwierigkeiten haben einige gehabt. Aber dann haben wir uns glänzend eingelebt und zum Schluss waren wir halbe Mexikaner.“

Dabei hatte der DFB-Tross mit gemischten Gefühlen, nach dem üblichen Malente-Aufenthalt, am 19. Mai in Frankfurt die Lufthansa-Maschine gen Mexiko-City bestiegen. In Hochform befand sich der Vize-Weltmeister nicht gerade an Pfingsten 1970, das bewiesen die beiden letzten Testspiele gegen Irland (2:1) und Jugoslawien (1:0). „Die Weltmeisterschaft rückt näher, die Sorgen wachsen!“, eröffnete der Kicker seine kritische Analyse nach dem Irland-Spiel. Eine Sorge galt dem Sturm, wo sich mit Uwe Seeler und Gerd Müller zwei quasi baugleiche Typen gegenseitig auf die Füße traten. Keiner eignete sich als Flügelspieler, doch für beide war der Strafraum zu klein. Schön aber wollte es so und hatte den längst zurückgetretenen Hamburger Seeler im Herbst 1969 reaktiviert, einen „Generationenkonflikt“ mit dem Münchner Himmelsstürmer in Kauf nehmend. Nach der Testpleite in Spanien (0:2) hatte Müller zwar im Februar ultimativ gefordert „Uwe oder ich!“, sich dafür aber nur einen Rüffel eingehandelt.

Netzer als Kolumnist nach Mexiko

Fakt aber war: rein sportlich harmonierten sie bis dato nicht. Eine andere Sorge galt Gladbachs Spielmacher Günter Netzer, der sich mit einer Verletzung plagte und schließlich nur als Bild-Zeitungs-Kolumnist nach Mexiko reiste, wenngleich in DFB-Montur. Zur Ausstattung der 22 Spieler gehörten unter anderem ein Fotoapparat, ein „Saba-Kassettenrecorder“, ein Elektrorasierer und zwei „Fritz-Walter-Freizeithemden“. Die Ankleidung dauerte drei Stunden, ehe der Tross reisefertig war. Im Kader standen mit Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger zwei Italien-Legionäre, um deren termingerechte Abstellung es noch einige Scharmützel gab. Eine Stammformation war aus all diesen Gründen noch nicht gefunden.

„Vor dem Turnier 66 wusste man, welchem Team der Bundestrainer vertraute und welche nur als eiserne Reserve mit auf die Insel fahren würden. Diesmal ist es nach dem letzten Test anders“, stellte der Kicker am Tag des Abflugs fest. Das Blatt machte auch eine Umfrage bei den 18 Bundesliga-Trainern und immerhin acht trauten Schöns Auswahl das Finale zu. Sie sollten irren. Als wahre Experten sollten sich übrigens Gladbachs Meister-Trainer Hennes Weisweiler und Bremens Hans Tilkowski erweisen, die sogar die Paarung richtig voraussagten.

In Comanjilla genossen die Spieler zunächst die exotische Atmosphäre, auch Training im Schatten von Kakteen kannten sie nicht. Co-Trainer Jupp Derwall war der Erste, den sie in den Pool warfen, Reservist Max Lorenz der Zweite. Die Hoffnungsträger der Nation, die erstmals theoretisch alle Spiele vor dem Bildschirm in Farbe mitverfolgen konnte, spielten in der reichlich bemessenen Freizeit Tischtennis und Billard, abends schrieben sie Hunderte Autogrammkarten und sahen Heimatfilme im Freilichtkino auf dem Gelände. Aber die Zeit bis zum Anpfiff wurde ihnen allmählich zu lang. ARD-Reporter Ernst Huberty schildert in seinem WM-Buch die Stimmung recht poetisch: „So könnte man meinen, unsere Spieler hätten tatsächlich eine Zeit in einem makellosen Paradies verlebt. Aber keine Rose ist ohne Dornen, und auch Paradiese haben es so an sich, nicht ohne Makel zu sein. So war es auch in Balneario. So wurden selbst die Busfahrten zum kurzen Training in León und zur Besichtigung des Stadions zur Erholung vom Einerlei. Immer wieder war man sich darüber einig, dass es höchste Zeit sei, dass die Weltmeisterschaft ihren Anfang nähme.“ Huberty kommt zu dem Fazit: „Bedenkt man all das, dann hat die deutsche Mannschaft nicht nur in Mexiko großartig gespielt, sondern auch den Kampf gegen die Langeweile erfolgreich bestanden.“

Was den mitgereisten Reportern noch schwerer fiel. Schön hielt sie bei den Interviews hinter einer „gedachten Linie“, die sie nicht überschreiten durften, auf Distanz. Viel erfuhren sie nicht – und alles, was sie aufschnappten an vermeintlichen Misstönen gerade unter Ersatzspielern wurde als Lagerkoller deklariert und in die Heimat gemeldet. Schließlich hieß es sogar, ein „Schuhkrieg“ sei ausgebrochen, weil immerhin 16 Spieler im Verein mit Puma-Tretern aufliefen und nun entschädigt werden wollten für den gar nicht mehr so selbstverständlichen Marken-Wechsel, da Deutschland seit 1954 in Adidas-Schuhen auflief. Fritz Walters Zeiten waren vorbei, das Profitum regierte längst. Als nun ein Puma-Vertreter im DFB-Quartier auftauchte und Schuhe seines Fabrikats dabei hatte, drohte ein Eklat.

Bis zum 3. Juni mussten sie warten, ehe sie in einem Spiel auflaufen durften. Da lief die WM schon drei Tage. Zur Eröffnung hatte es ein traditionell tristes 0:0 zwischen Gastgeber Mexiko und den Russen gegeben. In Erinnerung blieben den TV-Zuschauern nur die unfreundlichen Pfiffe für die Einlauf-Kinder, die England vertraten, und die vielen bunten Luftballons, die gen Himmel stiegen. 112.000 Mexikaner feierten dennoch eine Fiesta und gaben der WM von Beginn an ein fröhliches, heiteres Gesicht.

Da gönnte man es den Mexikanern auch umso lieber, dass ihre Mannschaft gemeinsam mit den Russen die Vorrunde überstand. Belgien und El Salvador, das torlos abreiste, schieden aus. Um den Gruppensieger zu ermitteln, musste übrigens gelost werden und die Russen gewannen – auch das Recht, im riesigen Aztekenstadion zu spielen, während die Gastgeber zum Viertelfinale gegen Italien nach Toluca reisen mussten.

Italiener als Minimalisten ins Viertelfinale

Die Italiener waren eine besondere „Attraktion“ dieser Vorrunde, brachten sie es doch fertig, mit einem Torverhältnis von 1:0 Gruppensieger zu werden. Nur gegen Schweden gewann der Europameister, Uruguay und im letzten Spiel sogar Israel ertrotzten einen Punkt. Uruguay verhalf er ins Viertelfinale, Israel nur zu einem weiteren Achtungserfolg nach dem 1:1 gegen die Schweden. In dieser Gruppe fielen nur sechs Tore und damit weniger, als Gerd Müller allein in der Vorrunde erzielte.

In der Todesgruppe 3 setzte sich Brasilien wie erwartet durch, auch das Spitzenspiel gegen England gewannen die Südamerikaner (1:0). Nur weil sie sich danach gegen Rumänien (3:2) nicht hängen ließen, was bei qualifizierten Teams schon mal passieren kann, rutschte England (1:0 gegen die punktlosen Tschechen) ins Viertelfinale. Hier kam es in León zur Revanche von Wembley, denn Deutschland hatte alle Spiele gewonnen und somit den Gruppensieg geschafft. Wer das Auftaktspiel gegen die Marokkaner sah, träumte zunächst nicht mehr vom Viertelfinale. „Mit dem 2:1 gegen den krassen Außenseiter Marokko kam man gerade noch an einer Blamage vorbei“, atmete nicht nur die Süddeutsche Zeitung auf. Nach dem Pausen-Rückstand drehten ausgerechnet die Männer, die in Comanjilla ein Zimmer belegten und angeblich nicht harmonierten, die Partie. Uwe Seeler und Gerd Müller schossen die Tore zum Sieg, der sich wie eine Niederlage anfühlte und tatsächlich einen Verlierer hatte.

Für Helmut Haller, von Teilen der Presse vehement gefordert, war die WM nach 45 Minuten beendet. Schön wechselte ihn aus und brachte ihn fortan nicht mehr. Dass dieses „Trauerspiel“ (Kicker) nur 8000 Zuschauer gesehen hatten, war kein echter Trost. Gegen Bulgarien, weit stärker eingeschätzt als Marokko, musste eine Steigerung her. Wieder geriet man in Rückstand, aber dann kam der große Auftritt des Haller-Vertreters Reinhard „Stan“ Libuda. Der Schalker glich nicht nur nach 19 Minuten aus, er bereitete in der Folge drei weitere Tore vor. Gerd Müller (3 Tore) und Uwe Seeler dankten es ihm. Am Ende hieß es 5:2 und nun war auch der Kicker beruhigt: „So haben wir vor keinem Angst!“. Auch nicht im Spiel um den Gruppensieg vor den punktgleichen Peruanern.

Gerd Müller markierte an diesem 10. Juni als zweiter DFB-Spieler überhaupt nach Edmund Conen 1934 einen Hattrick bei einer WM. Das Pausen- war auch das Endergebnis (3:1) und Perus brasilianischer Trainer Didi tröstete sich: „Wir wurden von einer großen Mannschaft besiegt, einer Mannschaft, die in dieser Meisterschaft sehr weit kommen wird.“ Das galt es schon am 14. Juni zu beweisen. Wieder war der Spielort León. Nun aber ging es nicht mehr nur um Punkte, sondern ums Weiterkommen.

Der alte Rivale England, erstmals überhaupt 1968 in Hannover (1:0) bezwungen, hatte etwas von seinem Schrecken verloren und steckte in nicht alltäglichen Schwierigkeiten. Die Briten mussten sich einer ständigen Antipathie erwehren in Mexiko. Schadenfreude und Häme begleitete sie bei allen Spielen. Hinzu kam die belastende Affäre um Bobby Moore, der bei der Anreise in Bogota/Kolumbien von der Polizei als vermeintlicher Juwelen-Dieb festgenommen worden war. Ein Juwelier im Team-Hotel vermisste ein 600 Pfund teures Armband. Erst nach vier Tagen wurde er freigelassen, er war das Opfer von Betrügern geworden, die ihr Geld damit verdienten, Prominente in Fallen zu locken, um sie zu erpressen. Da war der Umstand, dass Weltmeister-Torwart Gordon Banks just vor der Revanche Montezumas Rache ereilt hatte, fast schon eine Lappalie. Ihn vertrat Peter Bonetti.

„No chance, today is our Wembley“

Vor dem Spiel gab es die üblichen Wortgeplänkel. „Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter“, lästerte der Kölner Wolfgang Overath. Noch im Kabinengang flachste Uwe Seeler mit Bobby Charlton. „No chance, today is our Wembley“, gab sich der deutsche Kapitän revanchistisch, doch Charlton, der an diesem Tag Englands Rekord-Nationalspieler wurde, blockte lachend ab: „No, no, Uwe.“

Und doch sollten am Ende eines unvergesslichen Spiels die Deutschen lachen. Wieder sah es nicht danach aus, zum dritten Mal bei dieser WM gerieten sie in Rückstand – durch Mullery. Einem Rückstand nachzulaufen gegen den Weltmeister ist schlimm genug, bei 55 Grad in der Sonne ist es eine Tortur. Als Peters nach 50 Minuten das 2:0 gelang, wobei Sepp Maier keine gute Figur machte, sah es nach einer Niederlage aus.

Gerd Müller und Mittelfeldstratege Franz Beckenbauer unterhielten sich schon über den Rückflug, während die englischen Schlachtenbummler ihr „You’ll never walk alone“ anstimmten. Helmut Schön traf in dieser Phase einer der besten Entscheidungen seiner Amtszeit und schickte den Frankfurter Jürgen Grabowski für den enttäuschenden Stan Libuda aufs Feld. Sekunden später zwang der Bonetti zu einer Glanzparade, und plötzlich war Schwung im deutschen Spiel.

In der 68. Minute, zog Beckenbauer zu einem kurzen Spurt an und überwand Bonetti mit einem haltbaren Aufsetzer. Trainer Alf Ramsey hielt das nicht davon ab, Bobby Charlton auszuwechseln, um seinen Regisseur fürs Halbfinale zu schonen. Ein sinnloser Schachzug, wie sich zeigen sollte. Dann kam die Szene, die Uwe Seeler unsterblich macht. Nach einem zu kurzen Befreiungsschlag hob Schnellinger den Ball wieder vor das Tor, nicht gerade präzise. Der Hamburger, schon 33 Jahre alt an diesem Tag, musste sich drehen, um den Ball noch zu erreichen. Mit dem Hinterkopf erwischte er ihn und köpft ihn über den perplexen Bonetti hinweg im hohen Bogen ins Tor. Das Publikum raste und die Heimat jubelte mit an diesem Sonntagabend, der länger wurde als gedacht: Verlängerung!

„Ich kann kaum noch etwas sehen, denn die Zuschauer sind aufgesprungen vor Erregung “, klagt ZDF-Reporter Werner Schneider. In der Verlängerung rafften sich die Engländer wieder auf und mit Reporter Schneider zitterten auch die deutschen Fernsehzuschauer „immer wenn Hurst hochsteigt - mir liegen noch die drei Tore von Wembley in den Knochen, meine Damen und Herren“.

Doch dann entschied ein anderer großer Torjäger das Spiel. Gerd Müller, der in dieser Partie viereinhalb Kilo abnahm. Der unermüdliche Grabowski hatte vor das Tor geflankt, wo Linksaußen Löhr den Ball erreichte und in die Mitte köpfte. Zu Müller, der unbewacht aus einem Meter volley mit rechts traf. Das reichte fürs Halbfinale gegen nun konsternierte Engländer. „Ein Sieg wie nie! Haben wir gezittert“, titelte der Kicker. Die WM hatte ihr bestes Spiel gesehen, eine Steigerung erschien kaum möglich. Nicht bei dieser Hitze! Man zählte 12:7 Ecken und 45:29 Torschüsse – für Deutschland.

„Es war eines der größten Spiele unserer Mannschaft überhaupt“, lobte Bundestrainer Schön, der berichtete, es habe schon in der Halbzeit „keinerlei Anzeichen von Defätismus gegeben“. Berti Vogts sprach vom „schönsten Tag meiner Laufbahn. In den Straßen Leons brachen spontane Freudenfeste aus, Mexikanerinnen sah man in nichts anders als in eine Deutschland-Flagge gehüllt und sogar deutsche Fans mussten Autogramme geben. Bis in die Morgenstunden dröhnte der Schlachtruf „Alemana, bum bum bum.“ Die Engländer verkrafteten das WM-Aus erstaunlich gut, schon am Abend sah man sie lachend und trinkend am Swimming Pool. Bobby Charlton erkannte die deutsche Leistung respektvoll an: „Wer uns geschlagen hat, kann alle schlagen.“

Wer aber war noch in diesem Turnier, das in der Vorrunde keinen Favoritensturz gesehen hatte? Mexiko musste sich am Tag des deutschen Triumphes von seiner Elf verabschieden. In Toluca schrien 32.000 ihre Idole vergeblich voran, eine 1:0-Führung reichte nicht. Die dem Catenaccio verfallenen Italiener konnten nämlich auch anders, wenn man sie reizte. Und nach dem ersten Gegentor bei diesem Turnier schlugen sie brutal zurück und siegten noch mit 4:1. Riva und Rivera waren nicht zu halten und erzielten nach der Pause drei Tore. Für Weltmeister Brasilien dagegen ging die Partie weiter: Peru wurde mit 4:2 geschlagen und es verwunderte nur, dass Pelé leer ausgegangen war.

Das vermeintlich unattraktivste Viertelfinale hatte die meisten Zuschauer, denn es fand im Azteken-Stadion statt, das einem Privatmann gehörte. Uruguay mogelte sich gegen die Sowjetunion vor 70.000 Zuschauern durch ein Tor in der 118. Minute ins Halbfinale. Es war dem eingewechselten Esparraga mit seinem ersten Ballkontakt geglückt und ersparte der WM die Peinlichkeit, einen Halbfinalisten per Los zu bestimmen. Diese Regel aus der Antike des Fußballs nämlich hatte noch bestand, während ansonsten die Spiele von Mexiko die ersten der Moderne waren: es durfte endlich ausgewechselt werden und für Sünder gab es Gelbe und Rote Karten. Doch wozu eigentlich? Es waren faire Spiele mit im Schnitt einer Verwarnung pro Spiel (32 total) – und die einzige Rote Karte erhielt DFB-Masseur Erich Deuser, weil er gegen Peru unerlaubt aufs Feld geeilt war. Eine Sperre erhielt er nicht…

Am Tag der Deutschen Einheit waren die Halbfinalspiele angesetzt. Kurzfristig wechselte die FIFA die Spielorte, aus logistischen Gründen fand Deutschland – Italien in Mexiko City statt.

Ernst Huberty kommentiert das Jahrhundertspiel

Sonst würde die Ehrentafel, die man wegen dieses Spiels anbrachte, jetzt wohl in Guadalajara hängen. Es ist viel geschrieben worden über das „Jahrhundert-Spiel“, das niemand je vergessen wird, der es gesehen hat. Ernst Huberty hat es gesehen.

Lauschen wir der Schilderung des ARD-Reporters ab der 65. Minute, als sich die Dramatik allmählich zuspitzt. Italien führt seit der neunten Minute durch Boninsegna mit 1:0, es ist kein gutes Spiel. Aber es wird immer spannender. Da wird Siggi Held gefoult, doch Schiedsrichter Yamasaki gibt keinen Elfmeter:

„Der Schiedsrichter ist immer dann energisch, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums begangen wurde. Innerhalb des Strafraums, da scheint ihn panische Angst zu überkommen. Inkonsequent. Wiedergutmachung, einen Fehler mit dem anderen gutmachen, das ist nicht die richtige Art.“

Deutschland drängt mit Mann und Maus. „Vogts – er läßt Riva Riva sein und stürmt. Schüsse, sie streichen vorbei, als seien an beiden Seiten des Tores Magneten eingebaut. Sie spielen mit einer unglaublichen Leidenschaft, unsere Spieler, unglaublich und leidenschaftlich, was sie tun.“

Alemania-Sprechchöre kommen auf: „Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück. Beckenbauer muss arge Schmerzen im Arm haben, er hält ihn ständig fest. Sie zerreißen sich alle.

Als ein Ball auf der Linie tanzt und doch nicht rein will, stöhnt er: „Na gut, es soll nicht sein.“ „Grabowski versucht es. Wird festgehalten. Catchergriff von De Sisti. Catchergriff. Es ist alles erlaubt in diesen letzten Minuten.“

Dann läuft die 91. Minute, Schön gibt dem SID bereits an der Bank ein Interview. Da flankt Jürgen Grabowski noch mal von links. Der Ball kommt zu…

„Schnellinger. Nein, nein, nein, nein. Schnellinger. 1:1 Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben.“

Es geht tatsächlich in die Verlängerung, nachdem der Mailand-Legionär sein erstes und einziges Länderspiel-Tor überhaupt erzielt hat. In der Heimat ist es 0.45 Uhr.

„Meine Damen und Herren, ich glaube hierzu braucht man nicht mehr viel zu sagen, es ist eine unglaubliche Leistungssteigerung, die die deutsche Mannschaft wieder ein mal vollbracht hat. – Natürlich auch ein schwerer, schwerer Schock für die Italiener. Das Spielfeld da unten gleicht einem kleinen Lazarett. Und dann wird der Ball wieder frei gegeben zu einem Spiel, das an Dramatik ja wohl kaum zu überbieten ist.“

Wenn er wüsste. Das 2:1 fällt durch einen kuriosen Abstauber.

„Müller, Müller, Müller, Tor. Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt. Da ist er, hat aufgepasst. Der Ball rollt kaum über die Linie. Albertosi greift nach. Er ist im Tor.“ „Gibt es eine Steigerung? Es kann keine mehr geben. Es ist einfach unglaublich.“

Wenn er wüsste…

Nun hat Huberty Nachsicht mit Grabowski, der so viel Kraft verbraucht hat, „dass man schon vom eigenen Schuss zu Boden fällt“. Das 2:2 fällt nach einem schweren Fehler von Held, den Huberty vornehm verschweigt. „Und jetzt die Möglichkeit für Italien. Burgnich 2:2. Burgnich 2:2. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kann man sagen.“ „Die italienischen Spieler winken ihren Kollegen, doch schnell zurückzukommen und eine Mauer zu bilden, doch so schnell geht das nicht mehr. Ganz langsam kommen sie zurück, Schritt für Schritt.“

Aber sie können doch noch:

Das 2:3 „Kein Foulspiel, weiter. Und jetzt die Möglichkeit für Riva. Tor. Riva Tor. - Die 104. Spielminute mit diesem Tor von Riva.“

„Seitenwechsel diesmal ohne Pause in einem Spiel, das alles übertrifft, was bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft gespielt wurde. Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben, die die Kraft hervorschöpfen können und immer aufs neue anrennen können, einem Torvorsprung hinterher. Albertosi, nicht mehr Herr seiner Nerven, nicht mehr Herr seiner Hände...Ist das ein Wunder?“

Nun kommt das Wunder.

„Zwei Mal Seeler, Müller, Tor, 3:3. Müller! Ich habe schon viele Spiele gesehen, aber Spiele von einer solchen Dramatik gibt es wohl im Fußballsport nur selten. Die gibt es nur selten.“

14 Sekunden nach dem Anstoß:

„Boninsegna, Boninsegna, Tor. Rivera, Rivera 4:3. Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, liebe Fußballfreunde, dass viele von Ihnen schon seit Jahrzehnten auf den Fußballplatz gehen, aber zurückerinnern an solch ein Spiel kann sich wohl kaum einer.Bertini wird sicherlich einige Zeit brauchen, um wieder aufzustehen. Aus: Da ist der Schlusspfiff...Ein Kampf, den Sie miterlebt haben, alle Höhen und Tiefen, der Freude und der Enttäuschung, die man nur durchleben kann, haben die Spieler hier auf dem Spielfeld durchlebt und auch Sie zuhause, meine Damen und Herren. Alles Gute den Italienern für das Endspiel und ich will unseren Männern sagen: ihr habt großartig gekämpft, phantastisch gespielt, herzlichen Dank dafür. Ihr seid in Mexiko ganz ganz groß gewesen.“

Uwe Seeler schreibt über die Empfindungen nach dem Abpfiff in seiner Biographie: „Mit dem erlösenden Schlusspfiff fielen wir uns um den Hals, und einige brachen vor Erschöpfung regelrecht zusammen. Plötzlich schien es keine Rolle mehr zu spielen, wer Sieger und wer Besiegter war. Die Zuschauer waren völlig überwältigt und konnten sicher sein, ein wahrhaft unvergessenes Spiel gesehen zu haben.“

Im ersten Moment war dieses Fazit kein Trost für die Deutschen, die sich betrogen fühlten und in der Kabine Tränen vergossen. Betrogen vom Mexikaner Yamasaki, der gleich zwei klare Elfmeter übersah. Wenn schon der sachliche Kicker am 18. Juni empört titelte: „Schiedsrichter verschaukelte unser Team!“, muss wohl etwas dran gewesen sein. Anhänger ertränkten vor Ort ihren Kummer mit Tequila und stellten allerlei Unfug an in ihrem Frust, so dass die Deutsche Botschaft gleich 400 Landsleute aus Arrestzellen befreien musste, rund 100 wurden zur Ausnüchterung in Hospitäler eingeliefert. Der Traum vom zweiten WM-Gewinn war wieder geplatzt und wie in Wembley fühlte es sich nach Betrug an.

Erst als alle wieder nüchtern waren, setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass der deutsche Fußball doch gewonnen hatte. Dass er an einer Sternstunde mitgewirkt hatte und dass man auch auf Verlierer mächtig stolz sein kann.

Weltpresse überschlägt sich

Das Echo der Weltpresse war gewaltig: „Der Fußball kann wieder erhobenen Hauptes gehen. Das Spiel kann vom Finale nicht übertroffen werden.“, lobte die englische Evening News. „Keine Unterhaltung kann so viel bieten. Kein Thriller kann stärkere Effekte haben, keine Tapferkeit kann besser geschildert werden“, schrieb der schwedische Expressen. Neben dem gefühlten Superlativ wurde auch ein objektiv messbarer aufgestellt an diesem 17. Juni 1970: nie wieder fielen in einer Verlängerung so viele Tore bei einer WM. Und so viele Worte des Lobes wohl auch nicht.

Schriftsteller nahmen sich des Dramas in Versform an, das sie mit einem „Kampf wie aus den Heldensagen“ gleichsetzten. Der mexikanische Verband überreichte den eingesetzten Spielern eine Plakette mit der Aufschrift „In ewiger Ehre dem Besiegten und den Siegern.“ Im Azteken-Stadion wurde wenig später sogar eine Gedenktafel angebracht, die bis heute an den gigantischen Kampf erinnert. Noch 30 Jahre später wählten 50 weltbekannte Fußballer diese 120 Minuten im Azteken-Stadion zum Spiel des Jahrhunderts.

Allein diese Vorkommnisse bezeugen, dass Mexiko 1970 eine außergewöhnliche WM war. Das sah auch die FIFA so. Sie schrieb in ihrem Abschlussbericht: „Aus finanzieller Sicht wie auch in manch anderer Hinsicht war die neunte Weltmeisterschaft ein Erfolg.“ Die Stadionauslastung betrug 81,8, in England waren es 78,7. Der Ticketverkauf erbrachte einen Reingewinn von 6, 454 Millionen US-Dollar (England: 4,344) und Tore fielen auch mehr (2,97 gegenüber 2,78), die meisten erzielte Gerd Müller (10.) bei dieser WM. Sie fand am 21. Juni in Brasilien einen würdigen und gleichsam außergewöhnlichen Weltmeister. Brasilien, das in dem zwangsläufig unspektakuläreren zweiten Halbfinale Uruguay nach Rückstand mit 3:1 schlug, wartete in Mexiko City auf ausgelaugte Italiener. Während die Deutschen am Vortag Uruguay im Spiel um Platz drei 1:0 (Tor: Overath) besiegten und mit einer Ehrenrunde Abschied nahmen, zollte die Squadra Azzurra dem ungeheuren Kraftakt Tribut.

Zwar konnte sie das 1:0 durch Pelés Kopfball dank Boninsegna ausgleichen und ein 1:1 in die Kabinen retten, aber nach Gersons 2:1 brachen sie ein. Jairzinho und Abwehrchef Carlos Alberto sorgten für den Endstand und den nächsten Ausnahmezustand in Rio. Als die Mannschaft nach Mexiko abgereist war, hatte eine Zeitung höhnisch gefragt: „Was fehlt der Selecao? Alles!“. Skepsis umgab den Favoriten der Welt in der Heimat, der nach einem Trainerwechsel trotz geglückter Qualifikation ein diffuses Bild abgab. Nun kehrte das Team von Mario Zagalo zum dritten Mal mit dem Jules Rimet-Pokal zurück – als Rekord-Weltmeister.

Den Deutschen wurde ein Empfang bereitet, als hätten sie gewonnen. 60.000 am Frankfurter Römer feierten die verhinderten Weltmeister und insgeheim schwang bei vielen die Hoffnung mit, dass es vier Jahre später klappen werde. Qualifiziert waren sie ja schon, als Gastgeber der WM 1974 in Deutschland.

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Das Jahr der WM in Südafrika läuft: Zum 19. Mal spielen im Sommer die besten Mannschaften der Welt um die begehrteste Trophäe, zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent. DFB.de-Autor Udo Muras erinnert in einer WM-Serie an kuriose Geschichten der Turnierhistorie.

Teil 9: Die WM 1970 in Mexiko

Obwohl sie bereits 40 Jahre zurückliegt, ist die Weltmeisterschaft 1970 nicht nur in Deutschland noch in bester Erinnerung. Mexiko sah die vielleicht besten und spannendsten Spiele der WM-Historie, von denen einige das Prädikat unvergesslich verdienen. Große Fußball-Schlachten unter sengender Sonne vor farbenprächtigen Kulissen besserten den Ruf der WM gewaltig auf. Eine WM, an der erstmals auch die ganze Welt vertreten sein durfte, jeder Kontinent hatte seinen Startplatz erhalten.

Deutschlands Halbfinale gegen Italien gilt gemeinhin als das Spiel des Jahrhunderts, was man drei Tage zuvor schon vom Viertelfinale gegen England gesagt hatte. Und das Finale zwischen Brasilien und Italien war keineswegs so einseitig, wie es das Ergebnis von 4:1 aussagt. Es gilt als eines der spielerisch besten der bisher 18 Endrunden und war ein würdiger Abschluss des Turniers, das zum letzten Mal im Zeichen des großen Pelé stand.

Um die Reise nach Mexiko bewarben sich 75 Länder, erneut eine Rekordzahl, und nicht jeder Traum platzte so schnell wie der der Kubaner, die sich nur per Telegramm statt brieflich anmeldeten und deshalb unvollständige Angaben machten. Schließlich zahlten sie auch die geforderten 1000 Schweizer Franken an Meldegebühr nicht und schieden schon vor dem ersten Anpfiff aus. Albanien verpasste die Anmeldefrist, was den Deutschen gewiss am wenigsten Leid tat. Waren sie doch auf dem Weg zur EM 1968 noch am Fußballzwerg aus dem Land der Skipetaren gescheitert. Der Zwerg, der ihnen nun den Weg nach Mexiko verstellen wollte, war von anderem Kaliber und zumindest im Rückspiel etwa auf Landesliga-Niveau: Zypern. So kam es im Mai 1969 in Essen zum bis heute höchsten deutschen WM-Qualifikationssieg von 12:0.

Weit schwerer fiel es, sich gegen die Österreicher und die Schotten zu behaupten. Im Nachbarland rettete ein typisches Gerd-Müller-Tor in letzter Sekunde den 1:0-Sieg und am 22. Oktober 1969 löste erst ein Traumtor von Stan Libuda gegen die Briten das Mexiko-Ticket (3:2).

Spannungen zwischen El Salvador und Honduras

Auf den anderen Kontinenten gab es wieder einige Turbulenzen, teils höchst unerfreulicher Natur. Allen voran der sogenannte „Fußball-Krieg“ zwischen den ohnehin verfeindeten Staaten El Salvador und Honduras. Nach dem Entscheidungsspiel (3:2 für El Salvador) auf neutralem Boden in Mexico City brach der Krieg aus, in dem es eigentlich um 300.000 Wirtschaftsflüchtlinge aus El Salvador ging, die Honduras nicht mehr im Land dulden wollte. Das Thema gärte schon länger, ein Fußballspiel sorgte schließlich für den Ausbruch der Spannungen. Der Sieger auf dem Platz marschierte schließlich mit 12.000 Mann im Nachbarland ein. Der Krieg kostete rund 2100 Menschen das Leben und wurde nach vier Wochen auf internationalen Druck hin beendet – nun gab es nur Verlierer.Und bei der WM sollte El Salvador rein sportlich zum Kanonenfutter werden.

Drei Spiele zwischen Tunesien und Marokko brachten keinen Sieger hervor, so dass ein Münzwurf nötig wurde. Er entschied pro Marokko – und so kam Deutschland überhaupt zu seinem ersten Gegner bei der Endrunde. Das wiederum entschied letztlich die zehnjährige Tochter des mexikanischen Verbandspräsidenten bei der Auslosung am 10. Januar 1970 in Mexico City. Auch Bulgarien und Peru fanden sich noch in der deutschen Gruppe und Bundestrainer Helmut Schön sagte erfreut: „Selbstverständlich beklage ich mich nicht über die Gruppeneinteilung.“

Es hätte in der Tat schlimmer kommen können. In Gruppe 3 trafen mit Titelverteidiger England und dem wieder erstarkten Brasilien, das mit 12:0 Punkten durch die Qualifikation marschiert war, die beiden Sieger der Turniere seit 1958 aufeinander.

Überhaupt war der Fußball-Hochadel nahezu komplett vertreten: Alle bisherigen Weltmeister spielten mit, so dass die Wahrscheinlichkeit vor Turnierbeginn am 31. Mai recht hoch war, dass der Sieger den Jules-Rimet-Pokal gleich für immer behalten würde. Denn Brasilien, Uruguay und Italien hatten jeweils die Chance, schon zum dritten Mal Weltmeister zu werden. Und dann, so beschloss es die Fifa, würde es einen neuen Pokal geben.

Aufgrund der endlich gelockerten Zulassungsbestimmungen reisten nach Mexiko aber auch mehr Teams denn je an, die einfach nur dabei sein wollten. El Salvador, Marokko und Israel, das diesmal Asien vertrat, nachdem es sich zuvor öfters mit Europäern hatte messen müssen, waren als WM-Neulinge krasse Außenseiter.

Höhe bereitet Kopfzerbrechen

Aber auch wer schon einen Namen hatte in der Fußball-Welt, fuhr durchaus mit flauen Gefühlen nach Mexiko. Die ungewohnte Höhenlage von teils über 2200 Metern und das drückende Klima rief Heerscharen von Bedenkenträgern auf den Plan, es schlug die Stunde der Wissenschaftler. Russen und Bulgaren fingen schon ein halbes Jahr vor Turnierbeginn mit Höhentraining an und noch bei der WM mussten die Spieler im Hotel täglich an die Sauerstoffflaschen. In Bulgarien wurde sogar die Meisterschaft für drei Monate unterbrochen, damit die Nationalspieler Ende 1969 auf Südamerikatournee gehen konnten.

Der Kicker beschwichtigte in seinem WM-Sonderheft die deutschen Schlachtenbummler: „Wenn Sie nicht gerade herz- oder lungenkrank sind, dann ist das mittelamerikanische Klima nicht schädlicher für Sie als etwa das von Spanien oder Portugal.“

Aber die Mexiko-Touristen zuverlässig ereilende Darmerkrankung „Montezumas Rache“ fürchteten dennoch alle. Hier empfahl der Kicker unter anderem: „Schenken Sie den Angestellten in Ihrem Hotel keinen Glauben, wenn man Ihnen versichert, nur destilliertes Wasser aufs Zimmer zu bringen. Es könnte Leitungswasser sein!“ Und allen, die Montezumas Rache dennoch treffen sollte, wurde geraten: „Geraten Sie nicht in Panik. Suchen Sie einen Arzt auf, der Sie in der Regel binnen kurzer Zeit wieder auf die Beine stellt.“

Helmut Schön wiederum empfahl seinen Spielern, was sonst kein Trainer empfiehlt: Alkohol. Zum Frühstück und zum Abendessen ein Glas Whiskey! Da die Deutschen alle gesund blieben, hat das Rezept wohl etwas für sich. Auch die DFB-Delegation traf aufgrund der klimatischen Verhältnisse besondere Vorsorge, Kiloweise waren Salz- und Vitamintabletten an Bord. Nur das 10.000 D-Mark teure Gefrierfleisch, dass Mannschaftskoch Hans Damker importieren wollte, passierte den Flughafen-Zoll nicht.

Einer der wenigen Misstöne bei der besonders akribischen Planung. Die Bundesliga-Saison wurde am 3. Mai so früh wie nie beendet und schon vierzehn Tage vor dem Auftaktspiel wurde Quartier in Balneario de Comanjilla bezogen, einer herrlichen Villenanlage in 30 Kilometer Nähe zum Spielort León. Der Besitzer war ein Deutscher, den Tipp gab Schön ein ausgewanderter Ex-Profi des 1. FC Saarbrücken. Man war Herrn Foitzik zu Dank verpflichtet.

Gerd Müller jedenfalls bewertete den Aufenthalt später so: „Es war ein Paradies. Wir hatten allen nur erdenklichen Komfort. Ich muss dem DFB ein dickes Lob aussprechen. Dieses Quartier war optimal. Wir hatten einen Fußballplatz in der Nähe und ein Schwimmbassin, was bei der Hitze besonders wichtig war. Zu Beginn haben wir ja gedacht, dass wir keine Luft bekämen. Solche Schwierigkeiten haben einige gehabt. Aber dann haben wir uns glänzend eingelebt und zum Schluss waren wir halbe Mexikaner.“

Dabei hatte der DFB-Tross mit gemischten Gefühlen, nach dem üblichen Malente-Aufenthalt, am 19. Mai in Frankfurt die Lufthansa-Maschine gen Mexiko-City bestiegen. In Hochform befand sich der Vize-Weltmeister nicht gerade an Pfingsten 1970, das bewiesen die beiden letzten Testspiele gegen Irland (2:1) und Jugoslawien (1:0). „Die Weltmeisterschaft rückt näher, die Sorgen wachsen!“, eröffnete der Kicker seine kritische Analyse nach dem Irland-Spiel. Eine Sorge galt dem Sturm, wo sich mit Uwe Seeler und Gerd Müller zwei quasi baugleiche Typen gegenseitig auf die Füße traten. Keiner eignete sich als Flügelspieler, doch für beide war der Strafraum zu klein. Schön aber wollte es so und hatte den längst zurückgetretenen Hamburger Seeler im Herbst 1969 reaktiviert, einen „Generationenkonflikt“ mit dem Münchner Himmelsstürmer in Kauf nehmend. Nach der Testpleite in Spanien (0:2) hatte Müller zwar im Februar ultimativ gefordert „Uwe oder ich!“, sich dafür aber nur einen Rüffel eingehandelt.

Netzer als Kolumnist nach Mexiko

Fakt aber war: rein sportlich harmonierten sie bis dato nicht. Eine andere Sorge galt Gladbachs Spielmacher Günter Netzer, der sich mit einer Verletzung plagte und schließlich nur als Bild-Zeitungs-Kolumnist nach Mexiko reiste, wenngleich in DFB-Montur. Zur Ausstattung der 22 Spieler gehörten unter anderem ein Fotoapparat, ein „Saba-Kassettenrecorder“, ein Elektrorasierer und zwei „Fritz-Walter-Freizeithemden“. Die Ankleidung dauerte drei Stunden, ehe der Tross reisefertig war. Im Kader standen mit Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger zwei Italien-Legionäre, um deren termingerechte Abstellung es noch einige Scharmützel gab. Eine Stammformation war aus all diesen Gründen noch nicht gefunden.

„Vor dem Turnier 66 wusste man, welchem Team der Bundestrainer vertraute und welche nur als eiserne Reserve mit auf die Insel fahren würden. Diesmal ist es nach dem letzten Test anders“, stellte der Kicker am Tag des Abflugs fest. Das Blatt machte auch eine Umfrage bei den 18 Bundesliga-Trainern und immerhin acht trauten Schöns Auswahl das Finale zu. Sie sollten irren. Als wahre Experten sollten sich übrigens Gladbachs Meister-Trainer Hennes Weisweiler und Bremens Hans Tilkowski erweisen, die sogar die Paarung richtig voraussagten.

In Comanjilla genossen die Spieler zunächst die exotische Atmosphäre, auch Training im Schatten von Kakteen kannten sie nicht. Co-Trainer Jupp Derwall war der Erste, den sie in den Pool warfen, Reservist Max Lorenz der Zweite. Die Hoffnungsträger der Nation, die erstmals theoretisch alle Spiele vor dem Bildschirm in Farbe mitverfolgen konnte, spielten in der reichlich bemessenen Freizeit Tischtennis und Billard, abends schrieben sie Hunderte Autogrammkarten und sahen Heimatfilme im Freilichtkino auf dem Gelände. Aber die Zeit bis zum Anpfiff wurde ihnen allmählich zu lang. ARD-Reporter Ernst Huberty schildert in seinem WM-Buch die Stimmung recht poetisch: „So könnte man meinen, unsere Spieler hätten tatsächlich eine Zeit in einem makellosen Paradies verlebt. Aber keine Rose ist ohne Dornen, und auch Paradiese haben es so an sich, nicht ohne Makel zu sein. So war es auch in Balneario. So wurden selbst die Busfahrten zum kurzen Training in León und zur Besichtigung des Stadions zur Erholung vom Einerlei. Immer wieder war man sich darüber einig, dass es höchste Zeit sei, dass die Weltmeisterschaft ihren Anfang nähme.“ Huberty kommt zu dem Fazit: „Bedenkt man all das, dann hat die deutsche Mannschaft nicht nur in Mexiko großartig gespielt, sondern auch den Kampf gegen die Langeweile erfolgreich bestanden.“

Was den mitgereisten Reportern noch schwerer fiel. Schön hielt sie bei den Interviews hinter einer „gedachten Linie“, die sie nicht überschreiten durften, auf Distanz. Viel erfuhren sie nicht – und alles, was sie aufschnappten an vermeintlichen Misstönen gerade unter Ersatzspielern wurde als Lagerkoller deklariert und in die Heimat gemeldet. Schließlich hieß es sogar, ein „Schuhkrieg“ sei ausgebrochen, weil immerhin 16 Spieler im Verein mit Puma-Tretern aufliefen und nun entschädigt werden wollten für den gar nicht mehr so selbstverständlichen Marken-Wechsel, da Deutschland seit 1954 in Adidas-Schuhen auflief. Fritz Walters Zeiten waren vorbei, das Profitum regierte längst. Als nun ein Puma-Vertreter im DFB-Quartier auftauchte und Schuhe seines Fabrikats dabei hatte, drohte ein Eklat.

Bis zum 3. Juni mussten sie warten, ehe sie in einem Spiel auflaufen durften. Da lief die WM schon drei Tage. Zur Eröffnung hatte es ein traditionell tristes 0:0 zwischen Gastgeber Mexiko und den Russen gegeben. In Erinnerung blieben den TV-Zuschauern nur die unfreundlichen Pfiffe für die Einlauf-Kinder, die England vertraten, und die vielen bunten Luftballons, die gen Himmel stiegen. 112.000 Mexikaner feierten dennoch eine Fiesta und gaben der WM von Beginn an ein fröhliches, heiteres Gesicht.

Da gönnte man es den Mexikanern auch umso lieber, dass ihre Mannschaft gemeinsam mit den Russen die Vorrunde überstand. Belgien und El Salvador, das torlos abreiste, schieden aus. Um den Gruppensieger zu ermitteln, musste übrigens gelost werden und die Russen gewannen – auch das Recht, im riesigen Aztekenstadion zu spielen, während die Gastgeber zum Viertelfinale gegen Italien nach Toluca reisen mussten.

Italiener als Minimalisten ins Viertelfinale

Die Italiener waren eine besondere „Attraktion“ dieser Vorrunde, brachten sie es doch fertig, mit einem Torverhältnis von 1:0 Gruppensieger zu werden. Nur gegen Schweden gewann der Europameister, Uruguay und im letzten Spiel sogar Israel ertrotzten einen Punkt. Uruguay verhalf er ins Viertelfinale, Israel nur zu einem weiteren Achtungserfolg nach dem 1:1 gegen die Schweden. In dieser Gruppe fielen nur sechs Tore und damit weniger, als Gerd Müller allein in der Vorrunde erzielte.

In der Todesgruppe 3 setzte sich Brasilien wie erwartet durch, auch das Spitzenspiel gegen England gewannen die Südamerikaner (1:0). Nur weil sie sich danach gegen Rumänien (3:2) nicht hängen ließen, was bei qualifizierten Teams schon mal passieren kann, rutschte England (1:0 gegen die punktlosen Tschechen) ins Viertelfinale. Hier kam es in León zur Revanche von Wembley, denn Deutschland hatte alle Spiele gewonnen und somit den Gruppensieg geschafft. Wer das Auftaktspiel gegen die Marokkaner sah, träumte zunächst nicht mehr vom Viertelfinale. „Mit dem 2:1 gegen den krassen Außenseiter Marokko kam man gerade noch an einer Blamage vorbei“, atmete nicht nur die Süddeutsche Zeitung auf. Nach dem Pausen-Rückstand drehten ausgerechnet die Männer, die in Comanjilla ein Zimmer belegten und angeblich nicht harmonierten, die Partie. Uwe Seeler und Gerd Müller schossen die Tore zum Sieg, der sich wie eine Niederlage anfühlte und tatsächlich einen Verlierer hatte.

Für Helmut Haller, von Teilen der Presse vehement gefordert, war die WM nach 45 Minuten beendet. Schön wechselte ihn aus und brachte ihn fortan nicht mehr. Dass dieses „Trauerspiel“ (Kicker) nur 8000 Zuschauer gesehen hatten, war kein echter Trost. Gegen Bulgarien, weit stärker eingeschätzt als Marokko, musste eine Steigerung her. Wieder geriet man in Rückstand, aber dann kam der große Auftritt des Haller-Vertreters Reinhard „Stan“ Libuda. Der Schalker glich nicht nur nach 19 Minuten aus, er bereitete in der Folge drei weitere Tore vor. Gerd Müller (3 Tore) und Uwe Seeler dankten es ihm. Am Ende hieß es 5:2 und nun war auch der Kicker beruhigt: „So haben wir vor keinem Angst!“. Auch nicht im Spiel um den Gruppensieg vor den punktgleichen Peruanern.

Gerd Müller markierte an diesem 10. Juni als zweiter DFB-Spieler überhaupt nach Edmund Conen 1934 einen Hattrick bei einer WM. Das Pausen- war auch das Endergebnis (3:1) und Perus brasilianischer Trainer Didi tröstete sich: „Wir wurden von einer großen Mannschaft besiegt, einer Mannschaft, die in dieser Meisterschaft sehr weit kommen wird.“ Das galt es schon am 14. Juni zu beweisen. Wieder war der Spielort León. Nun aber ging es nicht mehr nur um Punkte, sondern ums Weiterkommen.

Der alte Rivale England, erstmals überhaupt 1968 in Hannover (1:0) bezwungen, hatte etwas von seinem Schrecken verloren und steckte in nicht alltäglichen Schwierigkeiten. Die Briten mussten sich einer ständigen Antipathie erwehren in Mexiko. Schadenfreude und Häme begleitete sie bei allen Spielen. Hinzu kam die belastende Affäre um Bobby Moore, der bei der Anreise in Bogota/Kolumbien von der Polizei als vermeintlicher Juwelen-Dieb festgenommen worden war. Ein Juwelier im Team-Hotel vermisste ein 600 Pfund teures Armband. Erst nach vier Tagen wurde er freigelassen, er war das Opfer von Betrügern geworden, die ihr Geld damit verdienten, Prominente in Fallen zu locken, um sie zu erpressen. Da war der Umstand, dass Weltmeister-Torwart Gordon Banks just vor der Revanche Montezumas Rache ereilt hatte, fast schon eine Lappalie. Ihn vertrat Peter Bonetti.

„No chance, today is our Wembley“

Vor dem Spiel gab es die üblichen Wortgeplänkel. „Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter“, lästerte der Kölner Wolfgang Overath. Noch im Kabinengang flachste Uwe Seeler mit Bobby Charlton. „No chance, today is our Wembley“, gab sich der deutsche Kapitän revanchistisch, doch Charlton, der an diesem Tag Englands Rekord-Nationalspieler wurde, blockte lachend ab: „No, no, Uwe.“

Und doch sollten am Ende eines unvergesslichen Spiels die Deutschen lachen. Wieder sah es nicht danach aus, zum dritten Mal bei dieser WM gerieten sie in Rückstand – durch Mullery. Einem Rückstand nachzulaufen gegen den Weltmeister ist schlimm genug, bei 55 Grad in der Sonne ist es eine Tortur. Als Peters nach 50 Minuten das 2:0 gelang, wobei Sepp Maier keine gute Figur machte, sah es nach einer Niederlage aus.

Gerd Müller und Mittelfeldstratege Franz Beckenbauer unterhielten sich schon über den Rückflug, während die englischen Schlachtenbummler ihr „You’ll never walk alone“ anstimmten. Helmut Schön traf in dieser Phase einer der besten Entscheidungen seiner Amtszeit und schickte den Frankfurter Jürgen Grabowski für den enttäuschenden Stan Libuda aufs Feld. Sekunden später zwang der Bonetti zu einer Glanzparade, und plötzlich war Schwung im deutschen Spiel.

In der 68. Minute, zog Beckenbauer zu einem kurzen Spurt an und überwand Bonetti mit einem haltbaren Aufsetzer. Trainer Alf Ramsey hielt das nicht davon ab, Bobby Charlton auszuwechseln, um seinen Regisseur fürs Halbfinale zu schonen. Ein sinnloser Schachzug, wie sich zeigen sollte. Dann kam die Szene, die Uwe Seeler unsterblich macht. Nach einem zu kurzen Befreiungsschlag hob Schnellinger den Ball wieder vor das Tor, nicht gerade präzise. Der Hamburger, schon 33 Jahre alt an diesem Tag, musste sich drehen, um den Ball noch zu erreichen. Mit dem Hinterkopf erwischte er ihn und köpft ihn über den perplexen Bonetti hinweg im hohen Bogen ins Tor. Das Publikum raste und die Heimat jubelte mit an diesem Sonntagabend, der länger wurde als gedacht: Verlängerung!

„Ich kann kaum noch etwas sehen, denn die Zuschauer sind aufgesprungen vor Erregung “, klagt ZDF-Reporter Werner Schneider. In der Verlängerung rafften sich die Engländer wieder auf und mit Reporter Schneider zitterten auch die deutschen Fernsehzuschauer „immer wenn Hurst hochsteigt - mir liegen noch die drei Tore von Wembley in den Knochen, meine Damen und Herren“.

Doch dann entschied ein anderer großer Torjäger das Spiel. Gerd Müller, der in dieser Partie viereinhalb Kilo abnahm. Der unermüdliche Grabowski hatte vor das Tor geflankt, wo Linksaußen Löhr den Ball erreichte und in die Mitte köpfte. Zu Müller, der unbewacht aus einem Meter volley mit rechts traf. Das reichte fürs Halbfinale gegen nun konsternierte Engländer. „Ein Sieg wie nie! Haben wir gezittert“, titelte der Kicker. Die WM hatte ihr bestes Spiel gesehen, eine Steigerung erschien kaum möglich. Nicht bei dieser Hitze! Man zählte 12:7 Ecken und 45:29 Torschüsse – für Deutschland.

„Es war eines der größten Spiele unserer Mannschaft überhaupt“, lobte Bundestrainer Schön, der berichtete, es habe schon in der Halbzeit „keinerlei Anzeichen von Defätismus gegeben“. Berti Vogts sprach vom „schönsten Tag meiner Laufbahn. In den Straßen Leons brachen spontane Freudenfeste aus, Mexikanerinnen sah man in nichts anders als in eine Deutschland-Flagge gehüllt und sogar deutsche Fans mussten Autogramme geben. Bis in die Morgenstunden dröhnte der Schlachtruf „Alemana, bum bum bum.“ Die Engländer verkrafteten das WM-Aus erstaunlich gut, schon am Abend sah man sie lachend und trinkend am Swimming Pool. Bobby Charlton erkannte die deutsche Leistung respektvoll an: „Wer uns geschlagen hat, kann alle schlagen.“

Wer aber war noch in diesem Turnier, das in der Vorrunde keinen Favoritensturz gesehen hatte? Mexiko musste sich am Tag des deutschen Triumphes von seiner Elf verabschieden. In Toluca schrien 32.000 ihre Idole vergeblich voran, eine 1:0-Führung reichte nicht. Die dem Catenaccio verfallenen Italiener konnten nämlich auch anders, wenn man sie reizte. Und nach dem ersten Gegentor bei diesem Turnier schlugen sie brutal zurück und siegten noch mit 4:1. Riva und Rivera waren nicht zu halten und erzielten nach der Pause drei Tore. Für Weltmeister Brasilien dagegen ging die Partie weiter: Peru wurde mit 4:2 geschlagen und es verwunderte nur, dass Pelé leer ausgegangen war.

Das vermeintlich unattraktivste Viertelfinale hatte die meisten Zuschauer, denn es fand im Azteken-Stadion statt, das einem Privatmann gehörte. Uruguay mogelte sich gegen die Sowjetunion vor 70.000 Zuschauern durch ein Tor in der 118. Minute ins Halbfinale. Es war dem eingewechselten Esparraga mit seinem ersten Ballkontakt geglückt und ersparte der WM die Peinlichkeit, einen Halbfinalisten per Los zu bestimmen. Diese Regel aus der Antike des Fußballs nämlich hatte noch bestand, während ansonsten die Spiele von Mexiko die ersten der Moderne waren: es durfte endlich ausgewechselt werden und für Sünder gab es Gelbe und Rote Karten. Doch wozu eigentlich? Es waren faire Spiele mit im Schnitt einer Verwarnung pro Spiel (32 total) – und die einzige Rote Karte erhielt DFB-Masseur Erich Deuser, weil er gegen Peru unerlaubt aufs Feld geeilt war. Eine Sperre erhielt er nicht…

Am Tag der Deutschen Einheit waren die Halbfinalspiele angesetzt. Kurzfristig wechselte die FIFA die Spielorte, aus logistischen Gründen fand Deutschland – Italien in Mexiko City statt.

Ernst Huberty kommentiert das Jahrhundertspiel

Sonst würde die Ehrentafel, die man wegen dieses Spiels anbrachte, jetzt wohl in Guadalajara hängen. Es ist viel geschrieben worden über das „Jahrhundert-Spiel“, das niemand je vergessen wird, der es gesehen hat. Ernst Huberty hat es gesehen.

Lauschen wir der Schilderung des ARD-Reporters ab der 65. Minute, als sich die Dramatik allmählich zuspitzt. Italien führt seit der neunten Minute durch Boninsegna mit 1:0, es ist kein gutes Spiel. Aber es wird immer spannender. Da wird Siggi Held gefoult, doch Schiedsrichter Yamasaki gibt keinen Elfmeter:

„Der Schiedsrichter ist immer dann energisch, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums begangen wurde. Innerhalb des Strafraums, da scheint ihn panische Angst zu überkommen. Inkonsequent. Wiedergutmachung, einen Fehler mit dem anderen gutmachen, das ist nicht die richtige Art.“

Deutschland drängt mit Mann und Maus. „Vogts – er läßt Riva Riva sein und stürmt. Schüsse, sie streichen vorbei, als seien an beiden Seiten des Tores Magneten eingebaut. Sie spielen mit einer unglaublichen Leidenschaft, unsere Spieler, unglaublich und leidenschaftlich, was sie tun.“

Alemania-Sprechchöre kommen auf: „Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück. Beckenbauer muss arge Schmerzen im Arm haben, er hält ihn ständig fest. Sie zerreißen sich alle.

Als ein Ball auf der Linie tanzt und doch nicht rein will, stöhnt er: „Na gut, es soll nicht sein.“ „Grabowski versucht es. Wird festgehalten. Catchergriff von De Sisti. Catchergriff. Es ist alles erlaubt in diesen letzten Minuten.“

Dann läuft die 91. Minute, Schön gibt dem SID bereits an der Bank ein Interview. Da flankt Jürgen Grabowski noch mal von links. Der Ball kommt zu…

„Schnellinger. Nein, nein, nein, nein. Schnellinger. 1:1 Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben.“

Es geht tatsächlich in die Verlängerung, nachdem der Mailand-Legionär sein erstes und einziges Länderspiel-Tor überhaupt erzielt hat. In der Heimat ist es 0.45 Uhr.

„Meine Damen und Herren, ich glaube hierzu braucht man nicht mehr viel zu sagen, es ist eine unglaubliche Leistungssteigerung, die die deutsche Mannschaft wieder ein mal vollbracht hat. – Natürlich auch ein schwerer, schwerer Schock für die Italiener. Das Spielfeld da unten gleicht einem kleinen Lazarett. Und dann wird der Ball wieder frei gegeben zu einem Spiel, das an Dramatik ja wohl kaum zu überbieten ist.“

Wenn er wüsste. Das 2:1 fällt durch einen kuriosen Abstauber.

„Müller, Müller, Müller, Tor. Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt. Da ist er, hat aufgepasst. Der Ball rollt kaum über die Linie. Albertosi greift nach. Er ist im Tor.“ „Gibt es eine Steigerung? Es kann keine mehr geben. Es ist einfach unglaublich.“

Wenn er wüsste…

Nun hat Huberty Nachsicht mit Grabowski, der so viel Kraft verbraucht hat, „dass man schon vom eigenen Schuss zu Boden fällt“. Das 2:2 fällt nach einem schweren Fehler von Held, den Huberty vornehm verschweigt. „Und jetzt die Möglichkeit für Italien. Burgnich 2:2. Burgnich 2:2. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kann man sagen.“ „Die italienischen Spieler winken ihren Kollegen, doch schnell zurückzukommen und eine Mauer zu bilden, doch so schnell geht das nicht mehr. Ganz langsam kommen sie zurück, Schritt für Schritt.“

Aber sie können doch noch:

Das 2:3 „Kein Foulspiel, weiter. Und jetzt die Möglichkeit für Riva. Tor. Riva Tor. - Die 104. Spielminute mit diesem Tor von Riva.“

„Seitenwechsel diesmal ohne Pause in einem Spiel, das alles übertrifft, was bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft gespielt wurde. Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben, die die Kraft hervorschöpfen können und immer aufs neue anrennen können, einem Torvorsprung hinterher. Albertosi, nicht mehr Herr seiner Nerven, nicht mehr Herr seiner Hände...Ist das ein Wunder?“

Nun kommt das Wunder.

„Zwei Mal Seeler, Müller, Tor, 3:3. Müller! Ich habe schon viele Spiele gesehen, aber Spiele von einer solchen Dramatik gibt es wohl im Fußballsport nur selten. Die gibt es nur selten.“

14 Sekunden nach dem Anstoß:

„Boninsegna, Boninsegna, Tor. Rivera, Rivera 4:3. Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herren, liebe Fußballfreunde, dass viele von Ihnen schon seit Jahrzehnten auf den Fußballplatz gehen, aber zurückerinnern an solch ein Spiel kann sich wohl kaum einer.Bertini wird sicherlich einige Zeit brauchen, um wieder aufzustehen. Aus: Da ist der Schlusspfiff...Ein Kampf, den Sie miterlebt haben, alle Höhen und Tiefen, der Freude und der Enttäuschung, die man nur durchleben kann, haben die Spieler hier auf dem Spielfeld durchlebt und auch Sie zuhause, meine Damen und Herren. Alles Gute den Italienern für das Endspiel und ich will unseren Männern sagen: ihr habt großartig gekämpft, phantastisch gespielt, herzlichen Dank dafür. Ihr seid in Mexiko ganz ganz groß gewesen.“

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Uwe Seeler schreibt über die Empfindungen nach dem Abpfiff in seiner Biographie: „Mit dem erlösenden Schlusspfiff fielen wir uns um den Hals, und einige brachen vor Erschöpfung regelrecht zusammen. Plötzlich schien es keine Rolle mehr zu spielen, wer Sieger und wer Besiegter war. Die Zuschauer waren völlig überwältigt und konnten sicher sein, ein wahrhaft unvergessenes Spiel gesehen zu haben.“

Im ersten Moment war dieses Fazit kein Trost für die Deutschen, die sich betrogen fühlten und in der Kabine Tränen vergossen. Betrogen vom Mexikaner Yamasaki, der gleich zwei klare Elfmeter übersah. Wenn schon der sachliche Kicker am 18. Juni empört titelte: „Schiedsrichter verschaukelte unser Team!“, muss wohl etwas dran gewesen sein. Anhänger ertränkten vor Ort ihren Kummer mit Tequila und stellten allerlei Unfug an in ihrem Frust, so dass die Deutsche Botschaft gleich 400 Landsleute aus Arrestzellen befreien musste, rund 100 wurden zur Ausnüchterung in Hospitäler eingeliefert. Der Traum vom zweiten WM-Gewinn war wieder geplatzt und wie in Wembley fühlte es sich nach Betrug an.

Erst als alle wieder nüchtern waren, setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass der deutsche Fußball doch gewonnen hatte. Dass er an einer Sternstunde mitgewirkt hatte und dass man auch auf Verlierer mächtig stolz sein kann.

Weltpresse überschlägt sich

Das Echo der Weltpresse war gewaltig: „Der Fußball kann wieder erhobenen Hauptes gehen. Das Spiel kann vom Finale nicht übertroffen werden.“, lobte die englische Evening News. „Keine Unterhaltung kann so viel bieten. Kein Thriller kann stärkere Effekte haben, keine Tapferkeit kann besser geschildert werden“, schrieb der schwedische Expressen. Neben dem gefühlten Superlativ wurde auch ein objektiv messbarer aufgestellt an diesem 17. Juni 1970: nie wieder fielen in einer Verlängerung so viele Tore bei einer WM. Und so viele Worte des Lobes wohl auch nicht.

Schriftsteller nahmen sich des Dramas in Versform an, das sie mit einem „Kampf wie aus den Heldensagen“ gleichsetzten. Der mexikanische Verband überreichte den eingesetzten Spielern eine Plakette mit der Aufschrift „In ewiger Ehre dem Besiegten und den Siegern.“ Im Azteken-Stadion wurde wenig später sogar eine Gedenktafel angebracht, die bis heute an den gigantischen Kampf erinnert. Noch 30 Jahre später wählten 50 weltbekannte Fußballer diese 120 Minuten im Azteken-Stadion zum Spiel des Jahrhunderts.

Allein diese Vorkommnisse bezeugen, dass Mexiko 1970 eine außergewöhnliche WM war. Das sah auch die FIFA so. Sie schrieb in ihrem Abschlussbericht: „Aus finanzieller Sicht wie auch in manch anderer Hinsicht war die neunte Weltmeisterschaft ein Erfolg.“ Die Stadionauslastung betrug 81,8, in England waren es 78,7. Der Ticketverkauf erbrachte einen Reingewinn von 6, 454 Millionen US-Dollar (England: 4,344) und Tore fielen auch mehr (2,97 gegenüber 2,78), die meisten erzielte Gerd Müller (10.) bei dieser WM. Sie fand am 21. Juni in Brasilien einen würdigen und gleichsam außergewöhnlichen Weltmeister. Brasilien, das in dem zwangsläufig unspektakuläreren zweiten Halbfinale Uruguay nach Rückstand mit 3:1 schlug, wartete in Mexiko City auf ausgelaugte Italiener. Während die Deutschen am Vortag Uruguay im Spiel um Platz drei 1:0 (Tor: Overath) besiegten und mit einer Ehrenrunde Abschied nahmen, zollte die Squadra Azzurra dem ungeheuren Kraftakt Tribut.

Zwar konnte sie das 1:0 durch Pelés Kopfball dank Boninsegna ausgleichen und ein 1:1 in die Kabinen retten, aber nach Gersons 2:1 brachen sie ein. Jairzinho und Abwehrchef Carlos Alberto sorgten für den Endstand und den nächsten Ausnahmezustand in Rio. Als die Mannschaft nach Mexiko abgereist war, hatte eine Zeitung höhnisch gefragt: „Was fehlt der Selecao? Alles!“. Skepsis umgab den Favoriten der Welt in der Heimat, der nach einem Trainerwechsel trotz geglückter Qualifikation ein diffuses Bild abgab. Nun kehrte das Team von Mario Zagalo zum dritten Mal mit dem Jules Rimet-Pokal zurück – als Rekord-Weltmeister.

Den Deutschen wurde ein Empfang bereitet, als hätten sie gewonnen. 60.000 am Frankfurter Römer feierten die verhinderten Weltmeister und insgeheim schwang bei vielen die Hoffnung mit, dass es vier Jahre später klappen werde. Qualifiziert waren sie ja schon, als Gastgeber der WM 1974 in Deutschland.